Es ist Claus Westermann (1909-2000) mit seiner Schrift Der Segen in der Bibel und im Handeln der Kirche (München 1968) zu verdanken, dass der Segen theologisch Beachtung gefunden hat, bevor dann Dorothea Greiner mit ihrem Buch Segen und Segnen: Eine systematisch-theologische Grundlegung bzw. Magdalene L. Frettlöh mit ihrer Theologie des Segens. Biblische und dogmatische Wahrnehmungen 1998 zeitgleich den Segen umfassend theologisch dargestellt haben. 1992 hat Westermann für das von Hans-Christoph Schmidt-Lauber und Manfred Seitz herausgegebene Buch Der Gottesdienst. Grundlagen und Predigthilfen zu den liturgischen Stücken seine Überlegungen zum Segen auf dreizehn Seiten noch einmal zusammengefasst:
Von Claus Westermann
1. Zur Begegnung
Es ist von dem merkwürdigen Tatbestand auszugehen, daß das Wort »Segen, segnen« sich in der profanen Alltagssprache bis in die Gegenwart durchgehalten hat und hier in seinem Sinn von jedem verstanden wird, während es im kirchlichen und theologischen Sprachgebrauch nur ganz am Rande überhaupt vorkommt und wenn, dann in einem bloß formelhaften, abgeschliffenen Gebrauch und einem verschwommenen, unsicheren Verständnis.
In der profanen Alltagssprache hören und gebrauchen wir Sätze wie »Meinen Segen hast du!«, »dazu kann ich meinen Segen geben«, »der hat es abgesegnet«, »in gesegnetem Alter« oder ähnlich. Man weiß auch, daß früher einmal die Eltern vor dem Sterben oder vor einer Reise ihre Kinder gesegnet haben, aber man weiß nicht mehr, wie das vor sich ging. Man weiß auch noch, daß es in der Zeit vor den Maschinen einen Abschiedssegen gab, und singt noch den Satz aus dem Volkslied: »… und gebet mir gleich einer Speis den Segen auf die Reis!« Segenswünsche auf Postkarten gibt es zu Millionen.
Was den kirchlich-theologischen Gebrauch betrifft, so ist festzustellen, daß der Segen in der kirchlichen Praxis sehr viel fester und tiefer verwurzelt ist als in der wissenschaftlichen Theologie. In dieser hat er niemals eine erkennbare Bedeutung gehabt, weder in der Exegese der Bibel Alten und Neuen Testaments noch in der systematischen Theologie, am Rande nur in der praktischen Theologie. In der gesamten Theologiegeschichte hat sich kaum jemals einer ernsthaft für den Segen interessiert. Die Bedeutungslosigkeit des Segens für die Theologie zeigt sich am deutlichsten daran, daß es niemals einen theologischen Streit um das Verständnis des Segens gegeben hat.
In der kirchlichen Praxis dagegen hat sich der Segen im Gottesdienst, bei den kirchlichen Handlungen und auch sonst in einem Maße durchgehalten, das umso erstaunlicher ist, als das Fragen nach dem Sinn des Segens auch in der kirchlichen Praxis ausblieb. Man muß schon sagen: der Segen lebte von selbst, aus eigener Kraft weiter, er [244] brauchte dazu keine Theologen. Vor einiger Zeit hat ein Theologe den Segen im Neuen Testament untersucht und ist dabei zu dem Schluß gekommen, man sollte den Segen im Gottesdienst abschaffen, er habe keinen Sinn. Diese kühne Forderung hat niemanden aufgeregt, sie ist nicht einmal diskutiert worden. Wenn man einfache Leute fragt, warum sie am Sonntag den Gottesdienst besuchen, werden einige immer antworten: Weil ich im Gottesdienst die Kraft erhalte für das, was ich in der Woche zu bestehen habe. Er meint damit natürlich den ganzen Gottesdienst, weist aber insbesondere auf den Segen, auch wenn er das Wort nicht gebraucht. Man könnte auch darauf verweisen, daß der Segen in der katholischen Kirche eine größere und bewußtere Bedeutung hat als in den reformatorischen Kirchen; die Forderung, den Segen in den evangelischen Gottesdiensten abzuschaffen, würde das Ende der ökumenischen Gespräche bedeuten.
Das alles aber fordert eine gründliche Besinnung auf den Segen in der Bibel und im Handeln der Kirche. (Vgl. mein gleichnamiges Buch, in dem das näher ausgeführt ist; hier auch weitere Literatur.)
2. Historische Erklärung
Der Segen und seine Geschichte im Alten und Neuen Testament
Die Frage nach dem Sinn, der Geschichte und Bedeutung des Segens kann nicht allein vom Neuen Testament, sie kann nur von der Bibel als ganzer beantwortet werden. Im Alten wie im neuen Testament gehört zum Heil, zum Heilswirken Gottes, das Retten wie das Segnen, jedes auf seine Weise.
Das Zusammengehören beider zeigt sich am Anfang der Bibel im Pentateuch, dessen Mitte, Exodus bis Numeri, die Israels Geschichte begründende Rettungstat berichtet, die gerahmt wird von dem aus der Schöpfung erwachsenden Segen Gottes über alle lebende Kreatur (Genesis) und dem Segen Gottes, mit dem er sein Volk beim Betreten des ihm verheißenen Landes beschenkt, es trägt, wachsen läßt und durch seine Geschichte begleitet (Deuteronomium). In der Vätergeschichte dazwischen verbindet die Verheißung des Segens an Abraham (l.Mose 12,1-3) den von der Schöpfung ausgehenden Segen mit der Geschichte. Denn der Segen ist eigentlich die Kraft der Fruchtbarkeit; in der zu Abraham führenden Geschlechterfolge (1.Mose 5; 10; 11) [245] kommt der den Geschöpfen erteilte Segen zur Auswirkung. So kommt schon im Aufbau der Tora (1.Mose bis 5.Mose) das Zusammengehören von Retten und Segnen Gottes zum für das Ganze gültigen Ausdruck. Der Segen hat im Alten Testament eine reiche und vielgestaltige Geschichte, die aber bisher wenig beachtet wurde. Das früheste Stadium ist das des Segens in der Familie, von dem die Vätergeschichten viel zu sagen haben. In der Familie und ihrem Geschick hatte der Segen seinen ursprünglichen Ort. Er wirkt im Geborenwerden, im Wachsen und Gedeihen, im Heilsein der Gemeinschaft, im Weiterleben von Generätion zu Generation.
In der Zeit der Seßhaftigkeit Israels wirkt der Segen Gottes in der Fruchtbarkeit des Leibes, der Tiere und des Bodens. Die beiden wichtigsten Institutionen sind vom Segen bestimmt: Vom Tempel her wird der Segen über das Volk und das Land erteilt (Ps 24), und der König ist Segensmittler für das Volk (Ps 72). Mit dem Ende des Königtums trat an die Stelle der Segensvermittlung durch den König die Verheißung eines anderen, des Friedenskönigs. Segen und Frieden gehören bei ihm zusammen. Der gottesdienstliche Segen aber behielt vom Beginn des Seßhaftwerdens bis in die Zeit, in der Jesus den Tempel betrat, eine unbestrittene Geltung. Die erste Opferdarbringung (3.Mose 9) wurde mit dem Segen beschlossen (4.Mose 6,24-26), und dieser Segen am Ende des Gottesdienstes wurde von der christlichen Kirche übernommen und ist bis zum heutigen Tage eine ökumenische Verbindung geblieben zwischen jüdischem und christlichem, katholischem und evangelischem Gottesdienst.
Der Segen im Neuen Testament
Auf den ersten Blick sagt das Neue Testament wenig vom Wirken des segnenden Gottes. Der Segen, so wie er im Alten Testament zum Gotteswirken und zum Gottesdienst gehörte, wurde von Jesus und seinen Jüngern übernommen, wie das viele Stellen im NT zeigen. Das zeigt sich z.B. darin, daß Jesus seine Jünger zum Abschied segnet, aber auch darin, daß alle Briefe des Neuen Testaments in Friedensgruß und Segen gerahmt sind. – Ein Grund für das Zurücktreten des Segens im Neuen Testament liegt auch darin, daß der wichtigste Ort für den Segen im Alten Testament die Institution des gottesdienstlichen Segens war. Zur Errichtung eines stetigen, seßhaften Gemeindegottesdienstes kam es aber erst nach der Zeit der Wanderungen Jesu und der Mission [246] der Apostel, ganz am Rande des Neuen Testaments. Die ersten christlichen Gottesdienstordnungen zeigen, daß der Segen am Ende des Gottesdienstes in ihnen übernommen wurde.
Die Bedeutung des Segens für Jesus, die Jünger und die Urgemeinde lassen besonders drei Zusammenhänge erkennen:
1. Das Segenswirken Jahwes, des Gottes Israels, wird zum Segen in Christus; Christus wird der seine Gemeinde segnende Herr; zur Segensgebärde tritt das Zeichen des Kreuzes.
2. In Jesus war das rettende wie das segnende Wirken Jahwes verkörpert. Er verkündete nicht nur das Kommen des Reiches, er heilte auch (die Heilkraft ist ein Element des Segens), half den Leidenden und gab den Hungernden Brot. Er segnete die Kinder und sprach bei den Mahlzeiten, auch beim Abendmahl, das Segenswort. In den Gleichnissen bezog er das segnende Wirken Gottes in seine Verkündigung ein.
3. Bei der Aussendungsrede Mt 10 (Lk 9) gibt Jesus seinen Jüngern einen zweiteiligen Auftrag (Mt 10,7-8a):
Verkündigt: das Reich der Himmel ist genaht!
Heilet Kranke … treibt Dämonen aus!
Sie sind nicht nur ausgesandt, das Kommende anzukündigen, sondern auch, das Bestehende zu bewahren. In ihrem Auftrag kommen das rettende und das segnende Wirken zusammen, so wie das Heilen und Helfen Jesu auf seinem Weg mit seiner Verkündigung eine Einheit bildete. Das Miteinander von Retten und Segnen im Wirken Jesu und seiner Jünger findet einen tiefsinnigen Ausdruck im Aufbau des Johannesevangeliums in der Folge der Abschiedsreden 13-17 mit dem Stichwort »bleiben« auf den Bericht vom Wirken Jesu in 1-12.
3. Theologische Erwägung
Wer eine Predigt über den Segen als Teil der Liturgie halten will, wer ihn zu erklären und seinen Hörern nahezubringen beabsichtigt, hat die schöne Möglichkeit, etwas zu klären, was den meisten seiner Hörer unklar ist (das würde eine Umfrage ergeben), ihnen einen Teil der Liturgie nahezubringen, von dessen Begründung in der Bibel einerseits, von dessen weitreichender Bedeutung andererseits sie bisher wenig gewußt haben. Denn sie sind es gewöhnt, daß alles, was die Bibel von [247] Gott und Mensch sagt, auf die eine Linie der »Soteriologie«, der Rettungstat Gottes in Christus gebracht wird, auf die alle theologischen Begriffe zu beziehen sind.
Wenn aber die Bibel eine Geschichte erzählt, von der Schöpfung an bis zur Wiederkunft Christi und zum Ende der Welt, dann kann diese nicht auf eine Linie gebracht werden; in jeder Geschichte geschieht Verschiedenes. Das Ereignis der Rettung, das Ergehen und das Annehmen der Botschaft im Glauben, das Bekenntnis, der Zuspruch der Vergebung, die Rechtfertigung, das alles hat Ereignischarakter. Die Summe der Augenblicke aber ergibt niemals eine Geschichte; damit aus ihr Geschichte werde, muß das Element des Stetigen hinzutreten: das Wachsen und das Reifen, das Gedeihen und das Gelingen ebenso wie das Mißlingen; das Zunehmen und das Abnehmen der Kräfte, das Einwurzeln und das Ausbreiten, das allmähliche Werden und das allmähliche Vergehen. Es sind nicht nur die großen Taten Gottes, die die Heilsgeschichte ausmachen, Gott wirkt auch in den Zeiten dazwischen. Eben das ist es, was die Bibel mit Segen, segnen bezeichnet; deswegen sind die Handlungen der Kirche an den Wendepunkten des Lebens vom Segen bestimmt, so die >Einsegnung<, der Segen bei der Taufe, bei der Heirat, der Sterbesegen. Es ist die segnende Kraft Gottes, die den Menschen geboren werden, die das Kind zum Mann und zur Frau wachsen und reifen läßt, die ihm Begabung, Nahrung und Bewahrung schenkt. Ohne dieses allmähliche Werden und Vergehen, das die Bibel als Segen bezeichnet, gibt es Geschichte nicht.
Die Eigenart dieses Segenswirkens Gottes ist es, daß es nicht in sich heraushebenden Ereignissen, die man datieren kann, geschieht; es ist ein stilles, stetiges Geschehen, das sich nicht greifen läßt, aber dennoch geschieht, nicht in spektakulären Ereignissen, sondern in einem stillen Strom, so wie es Jesus in den Wachstumsgleichnissen sagt.
Dieses segnende Wirken Gottes steht in einer nahen Beziehung zur Schöpfung. Es ist kaum jemals bemerkt worden, daß in der Bibel die Geschichte der Menschheit mit dem Segenswirken Gottes und aus ihm heraus beginnt. Der Schöpfer verleiht seinen Geschöpfen Leben und damit zugleich segnet er sie (1.Mose 1); aus der Kraft des Segens erwächst in der Folge der Geschlechter die Menschheitsgeschichte (1.Mose 5 und 10); die großen Ereignisse kommen erst später, sie setzen den stillen Strom der Geschlechter voraus. Ereignisse, die von Noah, von Abraham, von David, von Jesaja und von Jesus erzählt [248] werden, gäbe es nicht ohne den Strom des Segens, der die Kinder geboren werden läßt, von Geschlecht zu Geschlecht.
Das rettende Wirken Gottes ist ein Wirken am Menschen allein; das segnende Wirken erstreckt sich auf die Schöpfung, wie das besonders der dreifache Segen im Deuteronomium zeigt.
Das Wort ›Heil‹ umfaßt beides: das Retten und das Segnen. Engt man das Heil auf die Rettung ein, dann ginge es in unserem Glauben und in unseren Gottesdiensten allein um die Beziehung Gottes zum Menschen; der Segen im Gottesdienst weist auf die größere Weite des Heils: auf Gottes bleibendes Handeln an seiner Schöpfung, von dem die Schöpfungspsalmen sprechen. Gott ist es, der das Leben der Schöpfung lebendig erhält.
Wird das Heil, von dem die Bibel spricht, auf die Beziehung Gottes zum Menschen begrenzt, wird der Segen Gottes über seine Schöpfung nicht mehr beachtet, so folgt daraus notwendig, daß auch Gottes Auftrag an den Menschen, die Erde zu bewahren, nicht mehr beachtet wird. Daß die Christenheit bisher kaum darauf geachtet hat, wo das Segenswirken Gottes an unserer Erde von Menschen gestört oder zerstört wurde, ist in dieser unbiblischen Einengung des Heils, damit aber in der Verkennung der Bedeutung des Segens begründet.
Das Segenswirken Gottes bezieht sich aber auch auf das Leben der Gemeinde, die zum Gottesdienst zusammenkommt. Auch das Leben einer Gemeinde besteht ja nicht nur in Ereignissen und Fakten, die in Daten festlegbar sind und von denen man im Gemeindeblatt schreibt und liest. Zum Leben der Gemeinden gehört das stille, unmerkbare Wirken Gottes, der in ihnen etwas wachsen läßt, der Frömmigkeit bewahrt und Frömmigkeit keimen läßt, der von der älteren Generation zu den Aufwachsenden etwas hinüberleitet, was vielleicht erst viel später seine Früchte trägt. Das alles und noch viel mehr gehört zum stillen Segenswirken Gottes in den Gemeinden, wovon die Abschiedsreden Jesu (Joh 13-17) handeln.
Die Erteilung des Segens ist aber auch der Teil des Gottesdienstes, in dem es um die Arbeit, um das alltägliche Werk aller derer geht, die im Gottesdienst zusammengekommen sind: »Der Herr unser Gott sei uns freundlich, er fördere (= segne) das Werk unserer Hände… «; »segne unser täglich Brot, segne unser Tun und Lassen!«. Wenn der Segen im Gottesdienst gesprochen wird und der den Segen Empfangende an seine eigene Arbeit denkt, entsteht eine Verbindung zwischen dem gewaltigen Bereich des Wirkens Gottes und der Arbeit eines Mannes [249] und einer Frau, die den Segen Gottes für den kleinen Bereich ihrer täglichen Arbeit erbitten und empfangen. Gesegnete Arbeit – das ist mehr als erfolgreiche Arbeit.
Der Segen als Abschiedsgruß
Es hat seinen guten Sinn, daß der Segen seinen Ort am Abschluß des Gottesdienstes hat. Der Segen war einmal identisch mit dem Abschiedsgruß und ist es unter bestimmten Umständen heute noch. Der Segen wird am Schluß des Gottesdienstes erteilt, damit die Kraft des Segens mit dem Gesegneten gehe in das Leben draußen, in den Alltag und die Arbeit des Alltags.
Daß Segen und Gruß in der Situation des Abschieds identisch werden können, ist bis heute im Bewußtsein vieler geblieben. Geht es um einen Abschied von schwerem Gewicht, geschieht es auch heute noch, daß einer statt des gewöhnlichen Grußes die Worte des Segens spricht: »Gott segne dich!«, »Gott behüte dich!« Für das Verständnis des Segens ist es wesentlich, daß die Nähe des Segens zum Abschiedsgruß bedacht wird. Wer sich diese Nähe klarmacht, für den verliert der Segen im Gottesdienst alles Problematische: er weiß, was gemeint ist. Die Herkunft des Segens aus dem Gruß hat dazu noch eine sehr praktische Bedeutung. Der Segen im Gottesdienst ist dann wirklich angenommen, wenn er nachhallt in den Grüßen draußen, im Alltag nach dem Gottesdienst, mit denen man Begegnende grüßt. Der gottesdienstliche Segen endet: »… und gib uns Frieden!«; der Segensgruß ist zugleich Friedensgruß, wie es auch der Abschiedsgruß »Geh in Frieden!« zeigt. Von diesem Frieden kann etwas mitgehen in das Grüßen dessen, der den Segen im Gottesdienst empfing, draußen auf den Straßen und in den Häusern. (Es sei hier nur am Rande erwähnt: Das Grußwort »Grüß Gott!« ist natürlich nicht Aufforderung, sondern Wunsch: Es grüße [= segne] dich Gott!).
Der Gruß hat mit dem Segen noch etwas anderes gemeinsam: zu beiden gehören Wort und Handlung (bzw. Geste). Darin kommt zum Ausdruck, daß an einem Abschied wie auch an einer Begegnung immer der ganze Mensch beteiligt ist, der Mensch mit Leib und Seele. Nimmt man das ernst und denkt man weiter darüber nach, dann könnte der Segen im Gottesdienst dazu beitragen, daß das Grüßen zwischen Menschen wieder reicher, inhaltvoller wird und es nicht bei einer bloßen Formel und Formalität bleibt. [250]
4. Homiletische Besinnung
Ziel der homiletischen Besinnung ist: Den Hörern soll nicht nur der Segen als ein Teil der Liturgie in seinem Sinn und in seiner Herkunft erklärt werden; es soll erreicht werden, ihnen ein neues, persönliches Verhältnis zum Segen als dem Beschluß des Gottesdienstes zu vermitteln, das sowohl seine biblische Begründung wie auchseine Bedeutung, sofern er aus dem Gottesdienst in den Alltag und das Verhältnis zu den Mitmenschen hineinreicht, umfaßt. Es geht dann in der Predigt darum, einen Weg zu finden und zu zeigen, der von den Bibelworten, die vom Segen sprechen, über die Segenserteilung im Gottesdienst bis zum Mitgehen des Segens in den Alltag führt.
Ich schicke voraus, daß mir für dieses Ziel viele und vielerlei homiletische Gestaltungen als möglich und durch die vorangehende Erklärung begründet erscheinen und möchte jeden, der das auch so sieht, zu eigener Gestaltung ermuntern. Was ich im folgenden vorschlage, ist nur ein Beispiel, wie man es machen könnte. Bei diesem Versuch ist es nicht möglich, die ganze Fülle der Aspekte des Segens, die uns die Bibel bietet, zu Wort kommen zu lassen; ich führe einige dieser Aspekte an, die ebenso der Gestaltung der Predigt zum Ausgangspunkt dienen können.
1. Man kann von der ökumenischen Bedeutung des Segens ausgehen, die man erfährt, wenn man an Gottesdiensten anderer Kirchen oder an einem Synagogengottesdienst teilnimmt. Man erfährt dabei, daß der Segen eine verbindende Kraft hat. So wird man von selbst auf die Geschichte der Segenerteilung durch die Jahrtausende gewiesen bis hin zu der Stunde, in der Jesus seine Jünger zum Abschied segnete, und weiter in die Vorgeschichte bis zur Einsetzung des aaronitischen Segens nach der Gründung des Heiligtums bei der ersten Opferfeier dort (3.Mose 9). Von der Geschichte des Segens her stellt sich dann die Frage nach seiner Bedeutung in der Gegenwart in den Gottesdiensten in einer veränderten Welt.
2. Man kann von der Frage nach dem Segen in der Bibel in der Weise ausgehen, daß die Entsprechungen zwischen dem Segen im Alten und im Neuen Testament zum Nachdenken anregen:
- Der segnende Schöpfer: Er scheidet Feste und Meer, er läßt die Wasser der Flut sinken; Jesus stillt den Sturm [251]
- Gott erschafft und segnet die Menschen; Jesus segnet die Kinder
- Die Geschlechterfolge am Anfang des Alten und Neuen Testaments
- Der Segen der Fruchtbarkeit; die Speisung der 5000
- Ps 23 und die Frage an die Jünger: Habt ihr auch je Mangel gehabt?
- Der Segen im Wirken des Wortes: Jes 55,10-13 und Mk 4,26-29
3. Der Segen im persönlichen Leben in einer industrialisierten Welt. Es wäre auszugehen von der Bedeutung, die Wissenschaft und Technik für das Leben des einzelnen Menschen und für das Zusammenleben der Menschen gewonnen haben, der sich kein Mensch entziehen kann und deren Leistungen für die Menschheit anerkannt werden müssen. Wie fremd nehmen sich in diesen gewandelten Lebensformen das Wort und die Wirklichkeit ›Segen‹ aus! Und doch erhält er in ihnen eine so noch nie dagewesene Bedeutung, weil er die Bewahrung des Persönlichen, des eigentümlich Menschlichen, des Natürlichen und des Einfachen ermöglicht. Das Wort Segen wird zu einem Maßstab, der nicht trügen kann. Wo es auf eine der Errungenschaften unserer Zeit nicht mehr anwendbar ist, da ist diese Errungenschaft auch nicht mehr menschlich und man muß sich von ihr abwenden.
Die maßgebende Sprache des Segens finden wir vor allem in den Liedern, die den Segen entfalten. Man kann an ihnen, gegliedert nach den Bereichen des persönlichen Lebens, zeigen, wie sich am Segen als der Kraft des heilen Lebens durch die Entwicklung in Wissenschaft und Technik nichts geändert hat. Sie haben nicht nur ihre Geltung behalten, sondern die einfache Sprache dieser Lieder kann gegen viele Übertreibungen und Überhöhungen, gegen Objektivierung und Mechanisierung das Menschliche bewahren, das Menschliche wiederherstellen.
4. Eine weitere Möglichkeit ist es, von den Segenshandlungen der Kirche auszugehen, die Bedeutung jeder dieser Segenshandlungen jeweils im Blick auf die gegenwärtigen Formen der Gemeinschaft und auf die Aufgaben, die Bedrohungen und die Problematik der durch sie gekennzeichneten Erstreckung des Daseinsbogens von der Geburt zum Tod zu entfalten. Man kann dann einmal den Segen im Gottesdienst ganz anders, als Kristallisationspunkt, in dem die das Leben von der Geburt zum Tod begleitenden Segnungen zusammenkommen, sehen. Es könnte dann deutlicher werden, daß der Segen im Gottesdienst den ganzen Menschen meint, nicht nur nach Leib und Seele, sondern auch [252] den Menschen auf seinem ganzen Weg, von der Geburt bis zum Tod. Der Segen des Schöpfers also, der dem, der den Segen empfängt, sein Leben gab und es zu seinem Ziel führen wird.
5. Zur Verkündigung
Es ist unmöglich, die für die christliche Gemeinde und die christliche Kirche relevanten Aspekte der Erteilung des Segens am Ende des Gottesdienstes in nur einer Predigt zu Wort kommen zu lassen. In meinem Vorschlag geht es allein um das Fundamentale: die biblische Begründung und die gegenwärtige Bedeutung, auf eine Gliederung in wenigen, einfachen Linien gebracht: Die Einleitung geht von der Frage des normalen Gottesdienstteilnehmers nach dem Segen aus. Der erste Teil gibt in wenigen Linien die biblische Begründung aus dem Alten und Neuen Testament, der zweite führt aus, was der Segen für die Kirche im ganzen bedeutet, der dritte sagt, was der Segen für den Menschen in unserer Gegenwart bedeuten kann.
Einleitung
Wenn der Gottesdienst mit der Erteilung des Segens beschlossen wird:
Der Herr segne dich und behüte dich!
Der Herr lasse sein Angesicht über dir leuchten und sei dir gnädig!
Der Herr erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden!
Was geschieht hier und was ist damit gemeint? Was tut und was sagt der den Gottesdienst Leitende mit diesem Abschluß? Was soll sich der Gottesdienstteilnehmer dabei denken? Auf jeden Fall ist es die Verabschiedung der Gemeinde in einem Abschiedsgruß; aber was bedeutet er?
Erster Teil: Biblische Begründung
(Was hier zu den drei Teilen gesagt wird, soll nur die Gliederung entfalten und verständlich machen; die Ausführung im einzelnen wird dem Prediger nach dem zur Geschichte und Erklärung des Segens Gesagten überlassen.) [253]
Im Bericht von der Schöpfung segnet Gott die lebendigen Geschöpfe, nach der großen Flut sagt 1.Mose 8,22 die Bewahrung der Schöpfung in den Rhythmen des Segens zu, »solange die Erde steht«. Am Anfang der Vätergeschichte wird Abraham verheißen (1.Mose 12,1-3), daß in ihm alle Geschlechter der Erde gesegnet werden sollen. Auf die Geschichte der Rettung des Volkes Israel aus Ägypten folgt der seinem Volk im Land verheißene dreifache Segen der Fruchtbarkeit von Mensch, Tieren und Acker; im verheißenen Land wird der Gottesdienst eingerichtet, an dessen Ende der Segen über das Volk und über das Land erteilt wird.
Im Neuen Testament kommt das Segenswirken Gottes zu einem besonders einprägsamen und schönen Ausdruck in den Wachstumsgleichnissen, in denen die Worte Jesu die am Ende der Flut gegebene Zusage 1.Mose 8,22 aufnehmen. — Jesus selbst geht seinen Weg auf unserer Erde nicht nur als der Verkündigende, sondern auch als der Segnende: Er heilt die Kranken und gibt den Hungernden Brot. Er segnet die Kinder und er segnet das Mahl und er segnet seine Jünger beim Abschied. Die Jünger sendet er aus mit dem Auftrag zu verkündigen und zu heilen.
Zweiter Teil: Der Segen in der Kirche
In der Kirche Jesu Christi wurde dessen Erlösungswerk immer begleitet von dem Erbarmen mit den Leidenden und dem Bewahren und Fördern des Lebens. Immer haben Menschen das segnende und behütende Wirken Gottes erfahren und haben davon gesungen in den Liedern der Kirche wie in den Psalmen des Alten Bundes, in denen sich die Rhythmen des Segens spiegeln: Morgen und Abend, Sommer und Winter, Saat und Ernte ebenso wie der Lebenslauf vom Geborenwerden bis zum Sterben.
In den Bewegungen der Kirchengeschichte, den großen Umbrüchen, in Verfolgungen und Leidenszeiten ist der Segen gleich geblieben über die Gegensätze hinweg, von denen die Geschichte der Kirche bestimmt war. Weil es im Segen um das Wirken des Schöpfers geht, hat er seine Bedeutung für das Ganze bewahrt, über die Grenzen von Kirchen und Konfessionen hinweg. [254]
Dritter Teil: Der Segen in unserer Gegenwart
Die Rhythmen des Segens, in denen der Schöpfer nach der Flut die Bewahrung der Erde zugesagt hat, sind von den Ursprüngen her die gleichen geblieben, sie werden die gleichen bleiben, »solange die Erde steht«. Und die stille und verborgene Kraft, die das Saatkorn reifen und die Wunden heilen läßt, ist die gleiche heute wie am Anfang, die Segenskraft Gottes. Die naturwissenschaftliche und technische Entwicklung hat den Menschen eine Fülle neuer Möglichkeiten gegeben, aber sie hat nichts daran geändert, daß das Leben selbst dem Menschen nicht verfügbar ist. Gerade hier aber erhält der Segen, von dem die Bibel spricht und der im Gottesdienst über die in ihm Zusammenkommenden gesprochen wird, eine hohe Bedeutung. Das Wirken des Segens Gottes ist unersetzbar. Unsere Erde und unser Menschsein bedürfen des Segens Gottes, als ganze und über alle Grenzen hinweg; denn Gott läßt seine Sonne scheinen über Gute und Böse und läßt es regnen über Gerechte und Ungerechte, so hat es Jesus gesagt.
Dasselbe gilt auch für den Empfang des Segens im Gottesdienst. Keiner ist von dem hier erteilten Segen ausgenommen, der ihn dankbar annimmt; ob ihn bei der Predigt Fragen und Zweifel bewegten, im Empfang des Segens kommen sie zum Schweigen. Auch unsere eigenen Vorstellungen über den Segen spielen dabei keine Rolle. Es geht nicht darum, ob der Segen im Augenblick, in dem er über die Gemeinde gesprochen wird, irgendetwas Geheimnisvolles oder gar Magisches bewirkt, es geht vielmehr darum, daß, was in der Predigt verkündet wurde, jetzt im Segen auf das ganze Dasein ausgeweitet wird. Wer am Ende des Gottesdienstes die Worte: »Der Herr segne dich und behüte dich …« hört, der mag nun diese Worte auf sein persönliches Leben beziehen, auf seine Familie, auf seine Gesundheit, auf das Gelingen seiner Arbeit, auf den Frieden und die Bewahrung der Schöpfung. Dann geht er als ein Gesegneter aus dem Gottesdienst.
Literatur:
H. W. Beyer, Art. eulogéo, ThW II, S. 759-763. – L. Brun, Segen und Fluch im Urchristentum, Oslo 1932. – P. Brunner, Der Segen als dogmatisches und liturgisches Problem, in: ders., Pro Ecclesia II, Hamburg 1966, S. 339-351. – Ders., Zur Lehre vom Gottesdienst, in: Leiturgia 1, Kassel 1954, S. 83-361, v.a. S. 200-202. – J. Hempel, Die israelitischen Anschauungen von Segen und [255] Fluch, ZDMG NF 4, 1925, S. 20-110. – U. Link, Segen und Fluch im Neuen Testament, in: EKL1 III, S. 919f. – S. Mowinckel, Psalmenstudien V: Segen und Fluch in Israels Kult und Psalmdichtung, Oslo 1923/Amsterdam 1961. – Ders., Religion und Kultus, Göttingen 1953, S. 64-66. – J. Pedersen, The Blessing, in: ders., Israel. Its Life and Culture I-II, London/Kopenhagen 1926, 21946, S. 162-212. – W. Schenk, Der Segen im Neuen Testament. Eine begriffsanalytische Studie (ThA XXV), Berlin 1967. – C. Westermann, Der Segen in der Bibel und im Handeln der Kirche, München 1968, Gütersloh 21981, als TB München 1992.
Quelle: Hans-Christoph Schmidt-Lauber/Manfred Seitz (Hrsg.), Der Gottesdienst. Grundlagen und Predigthilfen zu den liturgischen Stücken, Stuttgart: Calwer Verlag 1992, S. 243-255.