
Und Adam erkannte seine Frau Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain und sprach: Ich habe einen Mann gewonnen mithilfe des Herrn. Danach gebar sie Abel, seinen Bruder. Und Abel wurde ein Schäfer, Kain aber wurde ein Ackermann.
Es begab sich aber nach etlicher Zeit, dass Kain dem Herrn Opfer brachte von den Früchten des Feldes. Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der Herr sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick. Da sprach der Herr zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? Ist’s nicht so: Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie. Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.
Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein? Er aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde. Und nun: Verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen. Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden.
Kain aber sprach zu dem Herrn: Meine Strafe ist zu schwer, als dass ich sie tragen könnte. Siehe, du treibst mich heute vom Acker, und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen und muss unstet und flüchtig sein auf Erden. So wird mir’s gehen, dass mich totschlägt, wer mich findet. Aber der Herr sprach zu ihm: Nein, sondern wer Kain totschlägt, das soll siebenfältig gerächt werden. Und der Herr machte ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände. So ging Kain hinweg von dem Angesicht des Herrn und wohnte im Lande Nod, jenseits von Eden, gegen Osten.
„Blut ist dicker als Wasser“ heißt das Sprichwort. Blutsverwandte halten unter allen Umständen zusammen. Wenn dieses Sprichwort doch nur wahr gewesen wäre – ganz zu Beginn der Menschheitsgeschichte.
Unterschiedlich sind die beiden Brüder, die Adam und Eva geboren wurden. Nach der Vertreibung aus dem Paradies fern des Baumes des Lebens (vgl. 1Mose 3,22) haben sie fortan als Erdlinge (1Mose 3,19) – nicht als Erdenbürger – auf die eigene Vergänglichkeit hin zu leben. Da braucht es dann Nachkommen, damit das eigene Leben und der eigene Name in den Nachgeborenen weiterleben.
„Kain“ und „Abel“ sind uns vertraute Namen. Und doch trägt kaum ein Mensch sie als Eigennamen. Ein Mördername ist niemandem zumuten, und auch nicht der Name eines Mordopfers Abel (ḥæbæl). In ihm klingt das hebräische Wort ḥæbæl mit der Bedeutung „Hauch“ bzw. „Nichtigkeit“ an. Ja, wie ein Lufthauch kann menschliches Leben ins Nichts fortgeweht werden.
So fängt die Menschheitsgeschichte außerhalb des Paradieses mit zwei Brüdern an, die sich als Ackerbauer und als Hirte nicht gegenseitig grün sind. Kain – dem Ackerboden verbunden – sucht mit Pflügen, Saat, Hege und Ernte dem Boden die Nahrung abzugewinnen. Der andere, Abel, ist auf kargen Weidegründen unterwegs und hält als Hirte Schafe und Ziegen um sich herum zusammen.
Beide wissen, dass der Ertrag zum Leben keine Selbstverständlichkeit ist, dass er nicht einfach der eigenen Mühe geschuldet ist, sondern göttlicher Zuwendung und Gunst bedarf. Ein Opfer also von dem, was man selbst in den Händen hält, ist für den HERRN vorgesehen – bei Kain sind es selbst geerntete Früchten des Feldes, bei Abel ist es das selbst geschlachtete Tier (Erstgeburt) mit einer Fettzugabe.
Da heißt es nun: „Und der Herr sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an.“ (vv 4-5) Wir stehen vor dem Rätsel, warum das Tieropfer des Abels gottwohlgefällig gewesen ist, während das Fruchtopfer des Kain offensichtlich nicht die göttliche Gunst findet. Ein unerforschlicher göttlicher Wille spricht sich aus: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.“ (2Mose 33,19). Das sind die Worte des Herrn, die uns keinen nachvollziehbaren Grund nennen. Nur die Reaktion Kains wird eindringlich beschrieben; sie ist ihm ins Gesicht geschrieben: „Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick.“ (v 5)
Im Zorn ist Kains gottgesenkter Blick dem eigenen Bruder finster zugewandt. Wer kein Ansehen bei Gott zu finden scheint, bleibt seinen eigenen Stimmungen überlassen. Die innere Anspannung wächst zum Zerreißen – gleich passiert es. Doch da fällt der göttliche Blick auf Kain. Obwohl dessen Opfer nicht gottwohlgefällig ist, behält der HERR Kain wohlwollend Auge. Nicht sein Opfer, aber der Mensch selbst findet göttliches Ansehen. So will ihn der HERR vor Schlimmeren bewahren und spricht ihn direkt an – zum ersten Mal nach der Vertreibung aus dem Paradies:
„Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? Ist’s nicht so: Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie.“ (vv 6-7)
Ein aufrechter Blick ist gefragt. Nimm dich deiner eigenen Triebe, deinem Zorn, deiner Wut an, sonst werden sie dir zur Sünde. Ja, mitunter sind wir Menschen innerlich getrieben, auch dort, wo wir uns im Nachhinein wortgewandt zu rechtfertigen suchen.
Und dann geschieht es, das Unvorstellbare: Den unbedarften Bruder Abel auf das eigene Feld gelockt – der Tatort soll keine Augenzeugen haben – und die Hacke (oder den Stein) hinterrücks erhoben, so schlägt Kain seinen Bruder zu Boden. Das Blut fließt aus dem Schädel, ergießt sich auf die Erde und der erste Mord und Totschlag ist in der Bibel geschehen.
Den Leichnam seines Bruders hat Kain hastig vergraben. Das Blut des Verstorbenen scheint in die Dunkelheit der Erde versickert zu sein. Aber Blut ist dicker als Wasser. Es verrinnt nicht in die Tiefe des Erdreiches, sondern schreit in Wahrheit zum Himmel. Empor zum göttlichen Thron erhebt das Blut des Ermordeten seinen Klageruf, ruft Zeter und Mordio, fordert die himmlische Gerechtigkeit heraus: Die Erde, gottbestimmte Lebensgrundlage des Menschen, hatte Bruderblut getrunken! Kain hat sich mit seinem heimtückischen Brudermord am göttlichen Eigentum und Ebenbild vergriffen. „Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist, der Erdkreis und die darauf wohnen.“ (Psalm 24,1) „Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll um des Menschen willen vergossen werden; denn Gott hat den Menschen zu seinem Bilde gemacht.“ (1Mose 9,6)
Wie nach dem Sündenfall Adams kommt eine göttliche Frage eindringlich zu Wort: „Wo bist du?“ (1Mose 3,9) – die durchbohrende Frage, die alles aufdeckt: „Wo ist dein Bruder Abel?“ (1Mose 4,8) Selbst dort, wo der Erde den Leichnam bedeckt, hat der Herr der Mord durchschaut.
Jetzt müsste Kain doch Farbe bekennen, sagen, was vorgefallen ist, was in ihm selbst vorgegangen ist. Stattdessen spitzen sich seine Lippen zu, beantworten die zudringliche Gottesfrage mit einen zynischen Witz: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ (v 9) Soll ich etwa den Hirten hüten? Wo kämen wir denn dahin?
Doch damit kann Kain sich nicht aus seiner Mordtat stehlen. Keine Witze mehr. Das göttliche Urteil über ihn ist gesprochen:
„Verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen. Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden.“ (vv 11-12)
Verflucht! Blutboden gewährt dir kein Leben. Mord und Totschlag unter Menschen können keine Lebensgrundlage sein. Der Erde mit Blut getränkt lässt nur die Saat weiterer Gewalt aufgehen. Gottverflucht heißt fortan lebensflüchtig. Kein Ort auf der Erde kann Kain zur Heimstatt werden. Wer sollte ihn als Mörder unter anderen Menschen leben lassen? Wer getötet hat, steht selbst zur Tötung an, muss sich vom eigenen Acker machen und fortan als Todesflüchtling unterwegs sein.
Da weiß nun Kain, dass er jetzt mit seinem eigenen Leben am Ende ist – auch ohne Todesurteil und Hinrichtung. Ein göttlicher Fluch reicht, nimmt ihm jegliche Lebensgrundlage. Und doch, Kain der Straftäter findet sich nicht mit seinem göttlich auferlegten Schicksal ab. Vor dem Herrn bringt er die sträfliche Zukunft seines eigenen Lebens zur Sprache:
„Meine Strafe ist zu schwer, als dass ich sie tragen könnte. Siehe, du treibst mich heute vom Acker, und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen und muss unstet und flüchtig sein auf Erden. So wird mir’s gehen, dass mich totschlägt, wer mich findet.“ (vv 13-14)
Göttliche Strafe ist für den Menschen unerträglich. Sie vergilt und ändert doch nichts am Unheil. Göttliche Gnade muss es sein. Für Kain wird sie unverhoffte Wirklichkeit, heißt es doch. „Und der Herr machte ein Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände.“ (v 15)
Auf der Stirn des Brudermörders zeigt sich fortan ein göttliches Schutz- und Gnadenzeichen – uns bekannt als Kainsmal. Für alle wird damit sichtbar: Was Kain seinem Bruder Abel angetan hat, darf ihm kein Mensch vergelten. Der Mörder, der im Angesicht Gottes gestellt worden ist mit seiner Untat, der sein eigenes Leben verwirkt hat, darf dennoch leben. Die anderen müssen ihn um Gottes willen leben lassen.
Göttliche Gnade ist es, die Abels Blut nicht gegen den Täter wendet, todestiefe Gnade, die den Übeltäter leben lässt. Im Evangelium bekommt die göttliche Gnade einen Namen und ein eigenes Gesicht – bleibende Geschichte für unsere Gegenwart: Jesus Christus – Gottes Sohn und Heiland. Seine freiwillige Hingabe in den Tod am Kreuz lässt die Sünde nicht länger gegen den Sünder kehren. Im Brief an die Hebräer heißt, dass Jesu Blut „besser redet als Abels Blut“ (Hebräer 12,24). Christi Blut am Kreuz von Golgatha schreit nicht zum Himmel ob menschlicher Ungerechtigkeit, sondern erweist die göttliche Gerechtigkeit und besiegelt damit das Schicksal unserer Vergebung.
Gottes Gnade in Jesus Christus ist der bleibende Lebensschutz des Sünders – und doch geschehen auch bei uns seelische Brudermorde, wenn es heißt; „Der oder die ist für mich (endgültig) gestorben. „Blut ist dicker als Wasser.“ Wo (Bluts-)Verwandte unter einem gegenseitigen Anspruch zusammenzuhalten haben, wiegen Enttäuschungen umso schwerer. Je enger Beziehungen innerhalb einer Familie sein sollen, umso unverzeihlicher werden die selbstempfundenen Verfehlungen des jeweils anderen.
So geschehen sie bei uns aufs Neue – die Vater-, Mutter-, Geschwister- und die Kindertode, wenn es unbarmherzig heißt: „Der ist für mich gestorben.“ Warum können Glieder einer Familie sich nicht gegenseitig leben lassen? Warum werden vermeintlich Schuldige dem Beziehungstod preisgegeben?
Der göttliche Anspruch trifft auch uns immer wieder neu: „Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick?“ Warum kannst du nicht deinem Bruder, deiner Schwester, deinem Vater, deiner Mutter, deinem Sohn, deiner Tochter frei in die Augen schauen. „Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie.“ (v 7)
„Der ist für mich gestorben.“ Dieser unsägliche Satz soll mir ein Glaubensbekenntnis wieder geschwisterliche Todeserklärungen sein. Der ist für mich gestorben, der Gottessohn ist für mich gestorben, lässt mich Sünder leben, vergibt mir meine Schuld im Glauben an ihn, damit auch ich meinen Geschwistern, Eltern und Kindern vergeben kann.
„Herr, wie oft muss ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben?“ fragt Petrus Jesus und fährt fort: „Ist’s genug siebenmal?“ (Matthäus 18,21) Die Antwort Jesu lautet: „Ich sage dir: nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal.“ Keinen Tag und kein Geschehen gibt es für dich, an dem du mit deiner Familie fertig sein kannst. Für Beziehungen in der eigenen Familie wie auch zu Freunden gibt es keine Endgültigkeit. „Der ist für mich gestorben.“ Christi Blut ist dicker als Wasser. Es gibt uns nicht preis, auch nicht in unserer eigenen Unbarmherzigkeit. Jesu Wort gilt heute noch: „Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“ (Lukas 19,10) Amen.