
Ernest Shackletons Endurance-Expedition (1914-1916) und die göttliche Verheißung
Ein Leserbrief vom 29. Dezember 1913 in der Londoner „Times“ elektrisierte England: Sir Ernest Henry Shackleton, neben dem 1912 verstorbenen Robert Falcon Scott Britanniens berühmtester Polarforscher, kündigte für 1914 eine neue, sensationelle Antarktisexpedition an: Die Durchquerung des gesamten Kontinents über den Südpol von Meer zu Meer.
„Ich habe mir die Freiheit genommen, die Expedition ‚kaiserliche Transantarktis-Expedition‘ zu nennen, da ich fühle, dass nicht nur die Bevölkerung Großbritanniens, sondern auch in allen Ländern unter dem Union Jack gewillt ist, die Expedition vollumfänglich zu unterstützen, zu der meine Kameraden und ich uns verpflichtet haben.“
Zwei Schiffe machten sich nach Ausbruch des 1. Weltkriegs im Spätsommer 1914 auf den Weg in die Antarktis. Unter der Führung Shackletons sollte das Expeditionsschiff „Endurance“ durch das Weddell-Meer bis zur Vahsel-Bucht vordringen, von wo aus ein sechsköpfiges Team mit Hundeschlitten zur Durchquerung der Antarktis aufbrechen sollte. Die zweite Mannschaft auf dem Schiff „Aurora“ sollte von Australien aus zum McMurdo Sound auf der gegenüberliegenden Seite der Antarktis fahren. Von dort her sollten sie im Landesinneren Depots mit Nahrungsmitteln und Brennstoff anlegen, so dass das Expeditionsteam nach Erreichen des Südpols für den weiteren Weg auf diese zurückgreifen konnte.
Am 5. Dezember 1914 fuhr die Endurance mit 28 Mann von der südatlantischen Walfanginsel Südgeorgien in das der Antarktis vorgelagerte Weddell-Meer. Früher als erwartet stieß man auf Treibeis, welches das weitere Vorwärtskommen behinderte. Am 19. Januar 1915 war die Endurance schließlich komplett von Packeis umschlossen. Nach vergeblichen Versuchen, das Schiff freizubekommen, entschied Shackleton am 24. Februar, das Schiff für eine Überwinterung im Eis vorzubereiten.
Während der folgenden Monate driftete die Endurance im Packeis gefangen langsam in nordwestliche Richtung. Als im September das Eis aufzubrechen begann, war der Schiffsrumpf den sich durch die Drift auftürmenden Eismassen ausgesetzt. Am 27. Oktober 1915 musste Shackleton das leckgeschlagene Schiff aufgeben. Die Expeditionsteilnehmer bargen Proviant und Ausrüstung und errichteten auf dem Eis ein Zeltquartier (das sogenannte Camp Ocean). Am 21. November sank schließlich das vom Eis zerdrückte Schiff.

Etwa zwei Monate lang kampierte die Mannschaft auf einer großen Eisscholle in der Hoffnung, durch die Eisdrift zur rund 400 km entfernten Paulet-Insel zu gelangen. Nachdem mehrere Versuche, die Insel zu Fuß zu erreichen, gescheitert waren, ließ Shackleton auf einer anderen Eisscholle ein weiteres Quartier (das sogenannte Camp Patience) errichten. Als am 9. April die Eisscholle auseinanderbrach, entschied Shackleton daraufhin, in den drei mitgeführten Beibooten das nächstgelegene Land anzusteuern. Nach fünf qualvollen Tagen erreichten die 28 völlig erschöpften und durchnässten Männer schließlich Elephant Island. Dies war das erste Mal nach 497 Tagen auf See und Packeis, dass sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten.
Elephant Island war von Gletschern eingenommen und lag abseits aller Schiffsrouten. So entschloss sich Shackleton, eine Seereise über 800 Seemeilen (etwa 1500 km) im Boot zu den Walfangstationen in Südgeorgien zu wagen, um von dort Hilfe zu holen. Zusammen mit Kapitän Frank Worsley und vier weiteren Männern stach er mit dem Beiboot „James Caird“ am Ostermontag, dem 24. April 1916, in See. In den folgenden 15 Tagen segelten sie in ihrem kleinen Boot ostwärts durch den aufgepeitschten Südatlantik, ständig in Gefahr zu kentern. Dank Worsleys Navigationskünsten kam am 8. Mai tatsächlich die Küste Südgeorgiens in Sicht, doch eine Anlandung wurde durch Sturm und starken Seegang zunächst verhindert. Schließlich erreichten sie die King Haakon Bay auf der menschenleeren Südseite der Insel. Da eine Umsegelung der Insel nicht möglich war, entschied Shackleton, zu dritt die vergletscherte alpine Gebirgslandschaft zu Fuß zu überqueren, was noch kein Mensch zuvor unternommen hatte. Nach 36 Stunden Marsch – dem Kälte- bzw. Erschöpfungstod nahe – erreichten sie die Walfangstation Stromness.

Während ein Schiff die zurückgebliebenen drei Bootsgefährten auf der Südseite der Insel aufnahm, bemühte sich Shackleton um die Rettung der auf Elephant Island gestrandeten Männer. Die ersten drei entsandten Schiffe konnten wegen schwieriger Eisverhältnisse nicht zur Insel gelangen. Schließlich erreichte das chilenische Dampfschiff Yelcho am 30. August 1916 Elephant Island und konnte alle 22 verbliebenen Expeditionsteilnehmer, die dort 143 Tage ausgeharrt hatten, an Bord nehmen. So wurden schlussendlich alle 28 Mitglieder lebend gerettet.
Man kann sich keinen zureichenden Begriff über die seelischen und körperlichen Strapazen machen, die die 28 Expeditionsteilnehmer über mehr als 600 Tage in der antarktischen Eiswüste durchlitten haben. Nachtdunkler Polarwinter, Temperaturen unter Minus 30 Grad, eisige Stürme, durchnässter Zeltschlaf, Erfrierungen an Händen und Füßen, todesnaher Hunger, immer wieder am Verdursten, in einem schmalen Boot bis zu 30 Meter hohen Wellen ausgesetzt. Und das alles ohne realistische Aussichten auf Rettung. Die Endurance-Expedition war im Eismeer vor der Antarktis verschollen, so dass die Außenwelt kein einziges Überlebenszeichen empfangen konnte.
In hoffnungslosen Situationen hat Ernest H. Shackleton als Expeditionsleiter in besonderer Weise Führungsqualitäten gezeigt. Und doch schien auch die Grenze seiner eigenen Leistungsfähigkeit überschritten zu haben. Im Rückblick auf die lebensentscheidende Gebirgsüberquerung in Südgeorgien schrieb er in seinem Buch „South!“ (Mit der Endurance ins ewige Eis: Meine Antarktisexpedition 1914-1917):

„Wenn ich auf diese Tage zurückschaue, habe ich keinen Zweifel daran, dass die Vorsehung uns führte, nicht nur über die Schneefelder, sondern auch über die sturmweiße See, die Elephant Island von unserem Landungsplatz auf Südgeorgien trennte. Ich weiß, dass es mir während des langen und aufreibenden Marschs von 36 Stunden über die namenlosen Berge und Gletscher oft so vorkam, als wären wir zu viert und nicht zu dritt.“
Ein unsichtbarer Vierter im Bunde – da spricht Shackleton von einer göttlichen Begleitung. Die unglaubliche Rettung der gesamten Mannschaft lag nicht in eigener Kraft und eigenem Durchhaltevermögen (endurance), sondern in göttlicher Vorsehung. Im eigenen Scheitern göttlich bewahrt – wohl kaum eine andere Expeditionsgeschichte scheint dieses Urteil nahezulegen. Da scheinen die Worte aus Psalm 66 zu passen:
„Preist unseren Gott, ihr Völker,
lasst laut sein Lob erschallen!
Er erhielt uns am Leben
und ließ unseren Fuß nicht wanken.
Ja, du hast, Gott, uns geprüft
und uns geläutert, wie man Silber läutert.
Du brachtest uns in schwere Bedrängnis
und legtest uns eine drückende Last auf die Schulter.
Du ließest Menschen über unsere Köpfe schreiten.
Wir gingen durch Feuer und Wasser,
doch du hast uns herausgeführt, hin zur Fülle.“
(VV 8-12 Eü)
Wir sehnen uns nach solchen Rettungsgeschichten, saugen sie mit offenem Mund in uns auf. Ermutigung wollen sie uns sein, tragen sie doch die Botschaft: „Never give up – gib niemals auf, in aller Aussichtslosigkeit zeigt sich schlussendlich göttliche Rettung.“
Und doch ist diese Botschaft nicht die ganze Wahrheit. Dazu heißt es noch einmal Kurs auf die südatlantische Insel Südgeorgien zu nehmen. Dort auf dem Friedhof der verlassenen Walfangstation Grytviken findet sich ein Grabstein mit folgender Inschrift:
„To the dearest Memory of Ernest Henry Shackleton, Explorer, Born 15th February 1874, Entered Life Eternal 5th January 1922“

Als Ernest Shackleton für das Jahr 1922 eine dritte antarktische Expeditionsreise – diesmal ohne klar definierte Zielsetzung – plante, steuerte das Schiff „Quest“ zum Jahreswechsel 1921/22 erneut die südatlantische Insel Südgeorgien an. Shackletons Gesundheitszustand war bereits schwer angegriffen, als sie am 4. Januar im Hafen von Grytviken vor Anker gingen und die örtliche Walfangstation besuchten. Abends zurück an Bord schrieb er in sein Tagebuch:
4. Januar 1922
Zuletzt nach 16 Tagen Turbulenzen und Bedrängnisse konnten wir schließlich an einem friedlichen Sonnentag vor Grytviken ankern. Wie vertraut erschien uns doch die Küste, als wir ankamen. Wir sahen mit besonderer Aufmerksamkeit die Orte, wo wir nach der Bootsreise [im Mai 1916] zu kämpfen hatte. Nun müssen wir uns wirklich beeilen. Allerdings sind die Aussichten nicht rosig, da die anstehende Arbeit beschwerlich sein wird. Der ranzige Geruch nach totem Wal durchdringt einfach alles.
Es ist schon ein fremder und seltsamer Ort. Ein wundervoller Abend. In der zunehmenden Dämmerung sah ich einen einsamen Stern, wie ein Juwel über der Bucht schwebend.
In dieser Nacht erlag Shackleton in den frühen Morgenstunden einem Herzinfarkt. Auf Wunsch seiner Witwe Emily (1868-1936) wurde Shackleton am 5. März 1922 in Grytviken nach einer kurzen Andacht in der örtlichen lutherischen Kirche auf dem benachbarten Friedhof beigesetzt wurde. Da das Expeditionsschiff „Quest“ bereits weitergereist war, stand an seinem Grab neben einigen norwegischen Walfängern nur der Meteorologe Leonard Hussey (1891-1964), der bereits auf der Endurance-Expedition (1914-1916) dabei gewesen war und der mit seinem Banjospiel die Moral der Mannschaft auf Elephant Island zu heben wusste.
Aufschlussreich ist der Schriftzug, der auf der Rückseite von Shackletons Granitgrabstein – sechs Jahre nach seiner Bestattung errichtet – aufgebracht ist. Es ist ein Zitat des englischen Dichters Robert Browning (1812-1889) aus dessen Gedicht „The Statue and the Bust“:
„I hold … that a man should strive to the uttermost for his life’s set prize (Ich meine … ein Mann sollte bis aufs Äußerste nach dem rechten Preis seines Lebens streben)“
Das klingt nach einem abenteuerlichen Lebensmotto „bis aufs Äußerste nach dem rechten Preis seines Lebens streben“. Aber kann ein Grab an einem „fremden und seltsamen Ort“ (Shackleton) am Ende der Welt als rechter Preis eines Lebens gelten? Da mögen Nachgeborene ein Heldentum bewundern, aber ein Leichnam in den subpolaren Erdboden eingelassen lässt an verlorengegangenes Lebens denken.

Ein einsamer Stern, der in der Dämmerung wie ein Juwel über der King Edward Cove (Bucht) bei Grytviken schwebt, birgt für Menschen kein ewiges Leben, lässt allenfalls Sehnsucht nach Heimat verspüren. Passend dazu heißt es im 11. Kapitel des Briefs an die Hebräer über die Erzväter und Israels Glaubensweg im Alten Bund:
„Im Glauben sind diese alle gestorben und haben die Verheißungen nicht erlangt, sondern sie nur von fern geschaut und gegrüßt und sie haben bekannt, dass sie Fremde und Gäste auf Erden sind. Und die, die solches sagen, geben zu erkennen, dass sie eine Heimat suchen. Hätten sie dabei an die Heimat gedacht, aus der sie weggezogen waren, so wäre ihnen Zeit geblieben zurückzukehren; nun aber streben sie nach einer besseren Heimat, nämlich der himmlischen. […]
Sie zogen in Schafspelzen und Ziegenfellen umher, notleidend, bedrängt, misshandelt. Sie, deren die Welt nicht wert war, irrten umher in Wüsten und Gebirgen, in den Höhlen und Schluchten des Landes. Doch sie alle, die aufgrund des Glaubens besonders anerkannt wurden, haben das Verheißene nicht erlangt, weil Gott für uns etwas Besseres vorgesehen hatte; denn sie sollten nicht ohne uns vollendet werden.“ (VV 13-16.37-40 Eü)
„Fremde und Gäste auf Erden“ sind und bleiben sie. Was Menschen für sich ersehnen, woran sie sich mit ihrem Glauben festmachen, wofür sie alles geben, das ist das, was sie nicht für sich selbst erlangen können.
Wenn die Worte Brownings „ein Mann sollte bis aufs Äußerste nach dem rechten Preis seines Lebens streben“ tatsächlich gelten, verweisen sie nicht auf Polarexpeditionen. Vielmehr finden sie zu weiteren Worten aus dem Brief an Hebräer:
„Die Leiber der Tiere, deren Blut vom Hohepriester zur Sühnung der Sünde in das Heiligtum gebracht wird, werden außerhalb des Lagers verbrannt. Deshalb hat auch Jesus, um durch sein eigenes Blut das Volk zu heiligen, außerhalb des Tores gelitten. Lasst uns also zu ihm vor das Lager hinausziehen und seine Schmach tragen! Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern wir suchen die zukünftige.“ (13,11-14 Eü)
Der rechte Preis unseres Lebens ist nicht durch eigene Grenzerfahrungen zu erbringen. Er zeigt sich vielmehr in Jesu Lebenshingabe am Kreuz von Golgota. In dieser Gottesgegenwart außerhalb des vertrauten Lebensraums tut sich die ewige Heimstatt für uns Menschen auf.