
Abrahams Opferung Isaaks als Exerzitium des Glaubens im Angesicht des Sterbenstodes
Einer der schwierigsten biblischen Texte ist ohne Zweifel die Vater-Sohn-Geschichte von Abraham und Isaak in Genesis 22,1-19. Allein schon eine passende Überschrift zu finden stellt eine Herausforderung dar. Soll es nun wie in der Neuausgabe der Einheitsübersetzung heißen „Die Erprobung Abrahams“ oder gemäß der jüdischen Tradition „Die Bindung Isaaks (Aqedat Jitzchaq)“ oder „Isaaks Opferung“ oder aber doch „Das Opfer Abrahams“?
Gleich der einleitende Satz in der Luther-Bibel muss auf Widerspruch treffen: „Nach diesen Geschichten versuchte Gott Abraham …“. Schon im Brief des Jakobus findet sich dazu die Gegenrede: „Keiner, der in Versuchung gerät, soll sagen: Ich werde von Gott in Versuchung geführt.“ (Jakobus 1,13 Eü) Man kann Versuchung zwar als Prüfung oder Erprobung verstehen, aber der göttliche Auftrag an Abraham lässt an Böswilliges denken: „Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du lieb hast, und geh hin in das Land Morija und opfere ihn dort zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir sagen werde“ (Genesis 22,2 Lu). Wenn der Gott Abraham versucht, will er ihn scheinbar zu einer moralisch verwerflichen Tat verleiten, nämlich den eigenen Sohn zu töten. Die göttliche Anweisung zeigt sich dem menschlichen Gewissen in diabolischer Weise. An die Stelle des fünften Gebot, also des biblischen Tötungsverbot, hört man ein göttliches Tötungsgebot heraus. Um Himmels willen kann und darf diese Stimme nicht gelten, die Abraham selbst zu hören bekommen hat.
Und doch zeigt sich in dieser Geschichte die ganze biblische, ja christliche Ethik in nuce. Wer sie nicht gelten lassen will, tut sich schwer, sich auf das Evangelium Jesu Christi mit Leib und Seele einzulassen. Es gilt sich der göttlichen Opferanweisung tatsächlich zu stellen. In der Geschichte geht es nicht um einen „gottwohlgefälligen“ Auftragsmord, der dem Mörder eine himmlische Belohnung verspricht, sondern um eine Anweisung zu einem Brandopfer als Ganzopfer (holokaútōma). Dass uns – als heutige Leser – primär der Akt der Tötung vor Augen geführt wird, hängt damit zusammen, dass wir im spätmodernen Europa keiner Opferpraxis mehr gewahr sind. Die Wirklichkeit des Opfers erschreckt unser gutbürgerliches Gewissen – nicht aber indigene Christinnen und Christen in den Bergregionen Nordostindiens mit deren vorchristlichen Vergangenheit als Kopfjäger. In unseren Blick treten Tötung als Lebensvernichtung bzw. der Tod als unwiderruflicher Lebensverlust. Höchstes Gut ist das menschliche Leben, das unter allen Umständen im zwischenmenschlichen Verkehr geschützt und bewahrt werden muss. Dabei folgt man – wohl unbewusst – einem naturalistischen Lebensverständnis: Leben entsteht aus sich selbst und wird durch sich selbst weitergegeben. Lebensdefizitäre Krankheiten sind durch medizinische Kunst auf naturkonforme Weise zu kurieren. Was darüber hinaus diesem Leben menschenmöglich einander angetan oder vorenthalten werden kann, bedarf einer humanistischen „Lebensethik“. Ethische Weisungen und Urteile stehen im Dienst einer menschlichen Lebensbewahrung.
Wird autogenes, selbstbezügliches Leben als höchstes Gut beschworen (im Widerspruch zu Luthers Auslegung des ersten Gebots aus dem Großen Katechismus „woran du dein Herz hängst und worauf du dich verlässt, das ist eigentlich den Gott“), entfällt der Blick auf dessen Endlichkeit. Eine humanistische Lebensethik kann trotz aller Präventionen das Leben nicht vor dem Tod schützen und damit Leben als Leben bewahren. Schlussendlich erweist sie sich als Ethik der Todesverzögerung. Wenn alle letztgültig sterben müssen, kann es keine bleibende Lebenssolidarität unter uns Menschen geben. Da mag dann sogar eine „übermenschliche“ Antimoral in Konkurrenz zur Lebensmoral treten: Warum sollte nicht der Stärkere in seinem Lebensrecht die eigenen Lebensgüter sich sichern bzw. Lebensgüter anderen entreißen, um das eigene Lebensvermögen zu steigern und damit für sich einen zeitlichen Gewinn hinsichtlich der eigenen Todesverzögerung zu erzielen?
Das Opfer, das von dem Gott, der „sieht“ (Genesis 22,14), eingefordert ist, entzieht sich einer naturalistischen Lebenslogik, ist es doch auf den Schöpfer des menschlichen Lebens ausgerichtet. Im göttlich angewiesenen Opfer vollzieht sich zwischen Schöpfer und Geschöpf eine Lebenskommunikation, die die tödliche Autogenität bzw. Selbstbezüglichkeit des Lebens in der Gottesgemeinschaft aufhebt. Das Brandopfer als Ganzopfer ist ein vorbehaltloses Beziehungsgeschehen, das über eine Weihehandlung eines Nasiräats (vgl. Simson in Richter 13,5) hinausgeht. In ihm geht es nicht um Lebensvernichtung, sondern um eine vertrauensvolle Gottesdarbringung, die nichts zurückbehält und auch nicht zurückgefordert werden kann.
Etymologisch betrachtet ist im deutschen Wort „Opfer“ das lateinische „offere“ als „darbringen“ (oder alternativ operari – „bewirken“) enthalten. In der Buber-Rosenzweig-Übersetzung heißt es mit Bezug auf den hebräischen Opferterminus ‘ôlāh: „Er aber sprach: Nimm doch deinen Sohn, deinen Einzigen, den du liebst, Jizchak, und geh du in das Land von Morija, und höhe ihn dort zur Darhöhung auf einem Berge, den ich dir zusprechen werde.“ (Genesis 22,2)
Abraham wird angewiesen, dem Gott seinen Sohn Isaak „darzuhöhen“, den er und seine Frau Sara in ihrer zeugungs- bzw. empfängnisunfähigen Betagtheit ja allein aus göttlicher Schöpfergnade heraus erhalten haben (vgl. Genesis 18,14). Im Aufstieg auf den Berg zeigt sich Abraham als ein Vater, der im Sinne einer humanistischen Lebensethik durchaus auf das Leben seines Sohnes zu achten weiß. Er selbst trägt die Gefahrengüter Feuer und Messer („Messer, Schere, Feuer, Licht …“), während dem unbedarften Sohn das Brennholz aufgebürdet wird. Als Isaak die Frage nach dem fehlenden Opferschaf stellt, antwortet ihm der Vater: „Mein Sohn, Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer.“ (Genesis 22,8 Lu)
In der Geschichte vom Opfer Abrahams bzw. der Opferung Isaaks geht es nicht um einen gehorsamsblinden Vertrauenstest, auch nicht um einen Glaubensheroismus, sondern um das gottgewisse Handeln des Menschen. Christliche Ethik ist nicht auf ein selbstbezügliches Leben aus, sondern weiß sich im Äußersten von göttlichem Handeln umschlossen und getragen. Was ich im Glauben dem lebendigen Gott zurückzugeben weiß, wird mir im Tod nicht genommen (vgl. Matthäus 10,39). So wird Isaaks Leben im Land Morija („HERR sieht“) an den äußersten, kratergleichen Todesrand geführt, wo weder ihm – gebunden –, noch seinem Vater – gehorchend – eine eigene Lebensmacht verbleiben. Im erhobenem Dolcharm Abrahams kann es für beide kein Halten mehr geben.
Doch gerade da, wo Menschen im Tod Leben preiszugeben haben, reißt der Gott das Leben an sich. Aus dem Mund des Engels des HERRN kommt die zweite Schlüsselaussage zu Wort: „Strecke deine Hand nicht aus gegen den Knaben und tu ihm nichts, denn nun weiß ich, dass du gottesfürchtig bist, da du mir deinen Sohn, deinen Einzigen, nicht vorenthalten hast.“ (Genesis 22,12 Zürcher) Wo die Luther-Bibel in missverständlicher Weise die Verschonung ins Spiel bringt – „hast deines einzigen Sohnes nicht verschont um meinetwillen“ –, geht es tatsächlich um die Überwindung des selbstbezüglichen bzw. familienbezüglichen Lebens. Abraham vertraut das Leben seines Sohnes dem Gott vollumfänglich an. So wird er zum Vater des Glaubens „vor Gott, dem er geglaubt hat, der die Toten lebendig macht und ruft das, was nicht ist, dass es sei. Wo keine Hoffnung war, hat er auf Hoffnung hin geglaubt, auf dass er der Vater vieler Völker werde“ (Römer 4,17f Lu).
Es sind die Worte aus dem Brief an die Hebräer, die die Versuchung und den Glauben Abrahams ins rechte Gotteslicht rücken:
„Durch Glauben hat Abraham den Isaak dargebracht, als er in Versuchung geführt wurde; den einzigen Sohn wollte er darbringen, er, der doch die Verheißungen empfangen hatte und zu dem doch gesagt worden war: Nach Isaak soll deine Nachkommenschaft genannt werden. Er rechnete damit, dass Gott auch die Macht habe, von den Toten zu erwecken. Darum hat er ihn – als ein Gleichnis – auch zurückerhalten.“ (Hebräer 11,17-19 Zürcher)
Was im Glauben des Abrahams an den Gott typologisch zu Geltung kommt (vgl. Römer 4,17), ist das Pascha-Mysterium Christi. Die göttliche Gerechtigkeit bzw. Gemeinschaftstreue, die sich im stellvertretenden Sühnetod Jesu am Kreuz den Menschen sünderumfänglich erwiesen hat, nimmt unseren Sterbenstod in die Auferstehung des Gottessohnes hinein. Wer im Glauben seinen eigenen Sündentod der stellvertretenden Lebenshingabe Christi anvertraut, für den heißt es mit Paulus: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.“ (2Korinther 5,17 Lu)
Christliche Ethik folgt keiner selbstbezüglichen Lebensidee, sondern ist von der gottbestimmten, uranfänglichen Schöpfung allen Lebens sowie der göttlichen Gemeinschaftstreue im Pascha-Mysterium Jesu Christi eingenommen. Außerhalb der Lebensgemeinschaft mit dem dreieinigen Gott kann es keine Lebensanweisungen geben. „Bei dir ist die Quelle des Lebens, in deinem Lichte sehen wir das Licht.“ (Psalm 36,10 Lu) Wenn für Christen ein Tötungsverbot gilt, ist dies nicht in der autogenen Güte menschlichen Lebens begründet, sondern in dessen Geschöpflichkeit. Wer einen anderen Menschen tötet, vergreift sich an seinem Schöpfer und dessen Gemeinschaftstreue, wie dies ja schon Kain erfahren musste: „Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde.“ (Genesis 4,10 Lu)
Das Opfer Abrahams ist Exerzitium des Glaubens im Angesicht des Sterbenstodes. Die sprichwörtliche Gottergebenheit Hiobs „Der HERR hat’s gegeben, der HERR hat’s genommen; der Name des HERRN sei gelobt!“ (Hiob 1,21 Lu) wird uns nicht abgefordert. Aber wenn der vermeintliche Rechtsanspruch auf das unversehrte Leben des eigenen Kindes dazu führt, dass Eltern in jahrelanger Trauer nicht über dessen plötzlichen Herztod hinwegkommen können, sondern in der eigenen Verbitterung seelisch vereisen und auch das Leben um sie herum einzufrieren suchen, sind dafür weder Lebensschicksal noch Gott verantwortlich zu machen, sondern der hoffnungslose Irrglaube an das autogene Leben, das eben nicht im Sterben dem dreieinigen Gott anvertraut sein will.
Passend dazu die einleitenden Worte eines Gebets von Karl Barth am Grab:
Herr, unser Gott!
Du gibst uns Menschen das Leben
und dann nimmst du es wieder,
verbirgst es für eine Weile
im Geheimnis des Todes,
um es einst erneut und gereinigt
ans Licht zu bringen als unser ewiges Leben.“[1]
[1] Karl Barth, Fünfzig Gebete, Zürich: TVZ, 7. Auflage, 2005, S. 57.
Was ist furchtbarer, der Text oder die verschwiemelte Auslegung?
Der Text bleibt furchtbar, auch wenn man seine Aussage reduziert auf die Ablösung des Menschen- durch ein Tieropfer. Er lässt sich darüberhinaus relativieren durch das Zugeständnis, dass Texten dieser Erzähltradition psychische Befindlichkeiten fremd waren. Dennoch bleibt 1. ein Vater, der im Begriff war, sein Kind im Gehorsam gegen seinen Gott und dennoch im Vertrauen auf seine dynastische Zusage zu töten. (Rein theoretisch hätte Gott ja das Wunder der Spätgebärenden wiederholen können, um im Wort zu bleiben.) 2. ein Kind, das einen Vater erlebt, der im Begriff war, es zu opfern.
Schwer vorstellbar, dass der Sohn auf dem Rückweg zur Mutter in Begleitung seines unheimlichen, furchtbaren Vaters das Erlebnis verdrängt haben könnte zugunsten des rettenden Übervaters, der sich nur einen Spaß erlaubt hat.
Solche Geschichten wollen nicht ausgetappt werden. Wenn man sie jedoch erzählt, darf man solche Gedanken nicht verdrängen zugunsten des Übervaters, der hier typologisch eine furchtbare Geschichte inszeniert hat, um auf seine Größe vorauszuweisen, auf das Opfer seines eigenen Sohnes.
Auch diese Geschichte ist furchtbar, trotz ihrer theologischen Überhöhung – oder gerade deswegen? Mir fällt der Spruch von Elias Canetti ein: Der Machthaber lässt andere für sich sterben, um selber zu leben. Ist Religion ein so diesseitsferner Raum, dass die irdischen Parallelen nicht ins Bewusstsein drängen? Die für Volk und Vaterland aufs Schlachtfeld geworfene Jugend, um nur die schlimmste Variante zu nennen.