Das Prinzip Verantwortung, das 1979 erschienen ist, gilt als das ethische Hauptwerk Hans Jonas’. Darin hat Jonas eine „Ethik für die technologische Zivilisation“ entwickelt, die unter dem „ökologischer Imperativ“ steht: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ (S. 36). Eine Zusammenfassung findet sich in seinem Vortrag „Prinzip Verantwortung. Zur Grundlegung einer Zukunftsethik“ von 1986:
Prinzip Verantwortung. Zur Grundlegung einer Zukunftsethik
Von Hans Jonas
Erlauben Sie mir zu Beginn meiner Ausführungen einige abstrakt-philosophische Vorbemerkungen zur Theorie der Verantwortung überhaupt, und verzeihen Sie, bitte, eine gewisse, in dieser Gedrängtheit unvermeidliche Härte des Begrifflichen dabei. Wir betreten konkreteres und gastlicheres Gelände danach.
Der Mensch ist das einzige uns bekannte Wesen, das Verantwortung haben kann. Indem er sie haben kann, hat er sie. Die Fähigkeit zur Verantwortung bedeutet schon das Unterstelltsein unter ihr Gebot: das Können selbst führt mit sich das Sollen. Die Fähigkeit aber zur Verantwortung – eine ethische Fähigkeit – beruht in der ontologischen Befähigung des Menschen, zwischen Alternativen des Handelns mit Wissen und Wollen zu wählen. Verantwortung ist also komplementär zur Freiheit. Sie ist die Bürde der Freiheit eines Tatsubjekts: ich bin verantwortlich mit meiner Tat als solcher (ebenso wie mit ihrer Unterlassung), und das gleichviel, ob jemand da ist, der mich – jetzt oder später – zur Verantwortung zieht. Verantwortung besteht also mit oder ohne Gott, und natürlich erst recht mit oder ohne einen irdischen Gerichtshof. Dennoch ist sie, außer für etwas, die Verantwortung vor etwas – einer verpflichtenden Instanz, der Rechenschaft zu geben ist. Diese Instanz, so sagt man wohl, wenn man an keine göttliche mehr glaubt, ist das Gewissen. Aber damit verschiebt man nur die Frage auf die nächste, woher denn das Gewissen seine Kriterien hat, durch welche Quelle seine Entscheide autorisiert sind. Vor wem oder was sind wir dann in unserm Gewissen verantwortlich? Erkunden wir, ob sich vielleicht nicht aus eben dem „Wofür“ der Verantwortung auch ihr „Wovor“ ableiten läßt.
Wofür ich verantwortlich bin, sind natürlich die Folgen meines Tuns – in dem Maße, wie sie ein Sein affizieren. Also ist wirklicher Gegenstand meiner Verantwortung dies von mir affizierte Sein selber. Das hat aber ethischen Sinn nur, wenn dies Sein etwas wert ist: einem wert-indifferenten Sein gegenüber kann ich alles verantworten, und das ist dasselbe wie daß ich nichts zu verantworten brauche. Wenn nun (und wann immer) die Voraussetzung – wiederum eine ontologische –, daß Seiendes werthaltig ist, vorliegt, dann wird dessen Sein mit einem Anspruch an mich begabt; und da durch dies Besondere die Werthaltigkeit des Seins im Ganzen mich anspricht, so erscheint letztlich dies Ganze als dasjenige nicht nur, für das ich jeweils partikular mit meinem Tun verantwortlich werde, sondern auch als das, wovor ich immer schon mit all meinem Tunkönnen verantwortlich bin – weil sein Wert ein Recht auf mich hat. Damit ist gesagt, daß vom Sein der Dinge selbst – nicht erst vom Willen eines persönlichen Schöpfergottes ihretwegen – ein Gebot ergehen und mich meinen kann.
Also nicht nur passiv, als wechselndes Objekt meines Handelns, auch aktiv, als [4] permanentes Subjekt eines Anrufs, der mich in seine Pflicht nimmt, ist es das Sein, womit Verantwortung es jeweils und immer zu tun hat. Das Sein von dem oder jenem ist es, wofür die einzelne Tat eine Verantwortung eingeht; das Sein des Ganzen in seiner Integrität ist die Instanz, wovor sie diese Verantwortung trägt. Die Tat selber aber setzt Freiheit voraus. Zwischen diesen zwei ontologischen Polen also, der menschlichen Freiheit und der Werthaftigkeit des Seins, steht die Verantwortung als die ethische Vermittlung. Sie ist komplementär zur einen und zur andern und die gemeinsame Funktion beider. Dies ist grundlegend dafür, was Verantwortung, wie ich sie verstehe, ihrem Wesen nach ist.
Dem Umfange nach aber – in dem, auf was alles sie sich erstreckt – ist sie eine Funktion unserer Macht und ist dieser proportional. Denn die Größe unserer Macht bestimmt das Ausmaß, in dem wir die Realität affizieren können und es im Handeln faktisch tun. Daher wächst mit der Macht auch die Verantwortung. Ausdehnung der Macht ist aber auch Ausdehnung ihrer Wirkungen in die Zukunft. Daraus folgt, daß wir die gewachsene Verantwortung, die wir in jedem Fall haben, ob wir wollen oder nicht, nur dann auch ausüben können, wenn proportional auch unsere Voraussicht der Folgen wächst. Ideal müßte die Länge der Voraussicht der Länge der Folgenkette gleichkommen. Aber ein solches Wissen um die Zukunft ist im menschlichen und im Lebensbereich aus vielen Gründen nicht möglich. Zwar enthält in der Tat schon die vergrößerte Macht an sich auch vergrößertes Wissen, denn sie ist ja selber Frucht und Anwendung eines solchen, und so sind mit ihr auch Methoden, Schärfe und Reichweite des Vorwissens gewachsen. Aber nicht im Gleichschritt mit der Wirkungsweite der Macht selbst; und es bleibt immer, wenn es um Projektion in die Zukunft geht, und um so mehr, je weiter voraus, ein Überschuß der Folgenträchtigkeit über das Wißbare und Vorhersehbare. Das war vielleicht immer so, auch bei viel bescheidenerer Macht, und eben wegen ihrer Bescheidenheit konnte man sich das Vermuten und Erraten und aufs Unbekannte Wetten wohl auch leisten. Das ist nicht mehr der Fall. Heute haben menschliche Macht und ihr Überschuß über jedes sichere Vorauswissen der Folgen solche Dimensionen angenommen, daß schon die alltägliche Ausübung unseres Könnens, in der ja die moderne Zivilisation routinemäßig besteht und wovon wir alle leben, zum ethischen Problem wird.
Damit kommen wir zur heutigen Situation und den Pflichten einer ihr angemessenen Zukunftsethik, und von hier an wird unser Diskurs konkreter. Die gestiegene Macht, von der im Vorigen die Rede war, meinte natürlich die moderne Technik. Quantitativ und qualitativ übertrifft sie ohne Vergleich alles, was bisher der Mensch mit der Natur und sich selbst tun konnte. Hierüber brauchen wir nicht viele Worte zu machen. Auch nicht darüber, daß die Technik doppelgesichtig ist, zum Guten wie zum Bösen ausschlagen kann – ja, daß ihr Gutes selbst es an sich hat, durch schieres Wachstum ins Schlimme umzuschlagen; und daß eben durch die Größenordnung dies das ganze Menschenlos auf Erden bis weithin in die Zukunft betrifft. All dies ist, zwar noch nicht lange, doch mit steigender Deutlichkeit bewußt. Für die Grundlegung einer Zukunftsethik, wie sie hierdurch nötig geworden ist – einer Ethik, die sich für die menschliche Zukunft verantwortlich macht –, ergeben sich aus dem Vorigen zwei Ansätze oder zwei [5] vorbereitende Aufgaben: 1. das Wissen um die Folgen unseres Tuns zu maximieren im Hinblick darauf, wie sie das künftige Menschenlos bestimmen und gefährden können; und 2. im Lichte dieses Wissen, d. h. des präzedenzlos Neuen, das sein könnte, ein neues Wissen von dem zu erarbeiten, was sein darf und nicht sein darf, was zuzulassen und was zu vermeiden ist: also letztlich und positiv ein Wissen vom Guten – von dem, was der Mensch sein soll: wozu sehr wohl gerade der vorwegnehmende Anblick dessen, was nicht sein darf, aber nun erstmalig möglich erscheint, verhelfen kann. Das eine ist ein Sachwissen, das andere ein Wertwissen. Wir brauchen beides für einen Kompaß in die Zukunft.
Zuerst also etwas zum Gebot maximaler Information über späte Folgen unseres Kollektivhandelns. Der Sinn von „maximal“ enthält hier Wissenschaftlichkeit der Deduktion gepaart mit Lebhaftigkeit der Imagination, denn nur bei solcher Sättigung abstrakter Quantität mit konkreter Qualität kann das von ferne Gewußte die Kraft gewinnen, unser so mächtig von den Jetztinteressen beherrschtes Verhalten mitzubestimmen – worin eben der Wert jener Information besteht. Was ist daran neu? Neu daran ist, das Entfernte überhaupt ins Auge zu fassen und es dem so viel dringlicher uns angehenden Nahen, bald Eintreffenden entgegenzustellen. Die Folgen bedenken gehörte seit je zum planenden Handeln, das die Wahl zwischen Alternativen hat, aber die Spanne des Vorhersehens war kurz, ganz im Einklang mit der Nähe der unserer Macht zugänglichen Ziele; und es konnte sich in der Regel, d. h. in den vorherrschenden typischen Fällen, auf vergangene Erfahrung stützen, im übrigen aber mit ungefährem Erraten des Ausgangs, bester Ausführung des Vorliegenden und Hinnahme des ungewissen Glücks zufrieden sein. Das war der bescheidenen Größenordnung menschlicher Unternehmungen angemessen, die in einer gleichbleibenden Gesamtordnung der Dinge es den Künftigen überlassen konnten, in ähnlicher Weise mit den Aufgaben ihres Tages fertig zu werden.
Eben das hat sich gründlich geändert. Die kausale Größenordnung menschlicher Unternehmungen ist im Zeichen der Technik unermeßlich gewachsen; das Vorgangslose ist zur Regel und die Analogie vergangener Erfahrung unzuständig geworden; die Fernwirkungen sind berechenbarer, aber auch widerspruchsvoller; auf die regenerativen Kräfte des von unserm Tun in Mitleidenschaft gezogenen Ganzen ist nicht mehr zu bauen; die Künftigen sind nicht mehr als in ähnlicher Ausgangssituation befindlich vorzustellen. Mit der Großtechnik haben wir uns dem Spruch verschrieben, daß die Welt von morgen der von gestern nicht ähnlich sein wird. Damit die Unähnlichkeit nicht von verhängnisvoller Art werde, muß das Vorwissen der ihm enteilten Reichweite unserer Macht nachzukommen suchen und deren Nahziele der Kritik von den Fernwirkungen her unterwerfen. Also wird die neue Wissenschaft (oder Kunst) der Futurologie, die uns die Fernwirkungen sehen läßt, ein in dieser Form und Funktion neuer Wert für die Welt von morgen. Sie dient nicht, wie die Wissenschaft von der Natur, auf die sie sich stützt, unsere Macht zu mehren, sondern sie zu überwachen und vor sich selbst zu schützen – letztlich also, um Macht über jene zuvor der Naturwissenschaft entsprungene Macht zu gewinnen. Sie kann dies nur, wenn das von ihr Gewußte, d. h. als möglich oder wahrscheinlich Gezeigte, in der Anschauung erlebt wird, so daß es das ihm angemessene Gefühl in uns erzeugt, das zum [6] Handeln bewegt. Durch diese Verbindung mit dem Gefühl, das einem künftigen Menschenzustand antwortet, trägt solche Vorschau zur Vermenschlichung des naturwissenschaftlich-technischen Wissens bei, das sich Ja schon, um hier überhaupt in die Zukunft extrapolieren zu können, mit einem Wissen vom Menschen verschmelzen muß – zumindest davon, was er unterwegs aus dem Begonnenen machen mag. Doch das Urteil darüber braucht mehr.
Damit sind wir bei der anderen Vor-Aufgabe für die Grundlegung einer Zukunftsethik: einer Lehre vom Menschen, die uns sagt, was das menschlich Gute ist: was er sein soll, worum es bei ihm geht und was ihm frommt – damit aber auch, was er nicht sein darf, was ihn mindert und entstellt. Wir brauchen dies Wissen, um darüber wachen zu können, daß das menschliche Gute – immer schon gefährdet seiner Natur nach – nicht der Hochflut technologischer Entwicklung zum Opfer fällt. Die Gefahren sind neu, aber das Gute ist alt.
Ein Wissen vom menschlich Guten müssen wir dem Wesen des Menschen entnehmen. Für dieses haben wir zwei Quellen: die Geschichte und die Metaphysik. Die Geschichte lehrt uns, was der Mensch sein kann – die Spanne seiner Möglichkeiten: was alles es an ihm zu bewahren und zu verderben gibt. Denn in seiner Geschichte hat sich „der Mensch“ schon gezeigt – in seinen Höhen und seinen Tiefen, seiner Größe und seiner Erbärmlichkeit, im Erhabenen und im Lächerlichen –, und allen utopistischen Träumen von einem erst zu erwartenden oder zu schaffenden oder zu ermöglichenden oder gar zu erzwingenden „eigentlichen“ und „wahren“ Menschen – politisch-anthropologischen Endzeitträumen, die uns nur ins Unglück führen können – ist entgegenzuhalten, daß „der Mensch“ immer schon da war mit jener ganzen Skala des zu Vermeidenden und des nicht zu Übertreffenden. Hieraus lernen wir, worum es sich beim Menschen lohnt: daß es sich also um ihn lohnt und unser Wesen einer Zukunft wert ist nämlich als einer immer neuen Chance seiner Möglichkeit zum Guten (mehr als sie zu sichern können wir nicht versuchen).
Doch über den Grund des wahrhaft Humanen und des Seinsollens des Menschen belehrt uns erst die Metaphysik mit ihrem ganz anderen, nicht phänomenologischen, sondern ontologischen Wissen vom Wesen. Sie ist heute philosophisch in Verruf, aber wir können ihrer nicht entraten und müssen sie wieder wagen. Denn sie allein kann uns sagen, warum der Mensch überhaupt sein soll, also nicht sein Verschwinden aus der Welt herbeiführen oder läßlich erlauben darf; und auch, wie er sein soll, damit er den Grund, warum er sein soll, ehre und nicht hinfällig mache. Der Grund „warum“, der die Menschheit zur Existenz verpflichtet, verbietet als erstes den physischen Selbstmord der Gattung (den uns kein biologischer Imperativ verbietet); derselbe, als Grund des „wie“, der die Menschheit zu einer bestimmten Qualität des Lebens verpflichtet, also das pure Daß mit einem Was füllt, verbietet zugleich damit die seelische Verödung dieser Existenz. Mit beidem aber bedroht uns der blinde Fortschritt der Technik. Daher die neue Notwendigkeit der Metaphysik, die uns durch ihr Sehen gegen die Blindheit wappnen soll.
Doch die Metaphysik nötig haben heißt noch nicht, sie auch zu haben, und unserem positivistischen Denken liegt sie ferner als je. Unnötig zu sagen, daß auch ich sie nicht besitze. Ein bescheidener Anfang zu ihr wäre immerhin, so scheint [7] mir, dem Anfangssatz dieses Vortrags abzugewinnen. Er lautete: Der Mensch ist das einzige uns bekannte Wesen, das Verantwortung haben kann. Unmittelbar erkennen wir dies „Können“ als mehr denn einen bloß empirischen Befund. Wir erkennen es als ein unterscheidendes und entscheidendes Wesensmerkmal des Menschen in seiner Seinsausstattung. Wir haben also in dem Befund einen Satz der philosophischen Anthropologie, d. h. der Ontologie des Wesens „Mensch“, und eben damit schon einen Satz der Metaphysik – zunächst nur der Metaphysik des Menschen. Sehen wir, wie wir von da weiterkommen. Etwa so: Ebenso unmittelbar wie ihre Wesenhaftigkeit erkennen wir in dieser ontologischen Auszeichnung des Menschen, der Verantwortung fähig zu sein, intuitiv einen Wert, dessen Erscheinen in der Welt die schon vorher an Lebenswerten reiche Landschaft des Seins nicht einfach um einen weiteren Wert vermehrt, sondern alles Bisherige mit einem es generisch Transzendierenden übertrifft. Es stellt eine qualitative Steigerung der Werthaltigkeit des Seins überhaupt dar, von dem wir ja sagten, daß wir letztlich ihm mit unserer Verantwortung verpflichtet sind. Damit wird aber Verantwortungsfähigkeit als solche, außer daß ihr Besitz zu ihrer Ausübung von Fall zu Fall mit seinen wechselnden Gegenständen des Handelns verpflichtet, selber auch ihr eigener Gegenstand, indem ihr Besitz auf die Fortdauer ihrer Anwesenheit in der Welt verpflichtet. Diese Anwesenheit ist an das Dasein derart befähigter Kreaturen gebunden. Also verpflichtet Verantwortungsfähigkeit an sich ihre jeweiligen Träger, das Dasein künftiger Träger zu ermöglichen. Auf daß Verantwortung nicht aus der Welt verschwinde, so sagt ihr immanentes Gebot, sollen auch künftig Menschen sein. So hat denn Verantwortung, hinter all ihren immerfort anderen kontingenten Gegenständen, stets sich selbst zum ontologischen Gegenstand, wenn dieser auch nur im Falle ontischer Bedrohung aktuell wird. Dann muß sie um ihrer selbst und ihrer eigenen Präsenz im Sein willen die Erhaltung ihrer Repräsentanz in der Welt sich zum eminenten Anliegen machen. Erste Bedingung dieser Repräsentanz ist die physische Existenz von Menschen, d. h. einer Menschheit: woraus als erstes sich eben das Verbot eines physischen Selbstmordes der Menschheit ergibt, oder das Gebot seiner Verhinderung. Aber das ist nur das erste. Denn die Verantwortungsfähigkeit ist ein anfälliger Besitz und kann atrophieren, selbst wenn kalkulatorischer Verstand und die ihm entspringende Macht mit dem biologischen Subjekt überleben. Darum schließt die Verantwortung der Verantwortungsfähigkeit für sich selbst und ihr Überleben in der Welt außer dem Dasein auch das Sosein künftiger Menschen ein, derart daß nicht der Zustand dieses Daseins die (an die Freiheit des Subjektes gebundene) Fähigkeit zur Verantwortung ertötet. Hier träte also das vorher angerufene Prinzip in Kraft, daß das „Wie“ der Existenz nicht dem Grund der Existenz widersprechen darf. Daß dergleichen geschehen könnte, von außen und von innen, illustrieren solche Antiutopien wie A. Huxleys „Schöne neue Welt“, wo der Mensch, seines Adels entkleidet, gar nicht unkomfortabel weiterlebt. B. F. Skinner, in „Jenseits von Freiheit und Würde“, predigt gar eine solche Utopie.
Was wir im Vorigen versucht haben, war die metaphysische Deduktion einer bestimmten Verantwortungspflicht, nämlich für die Zukunft des Menschen, aus dem Phänomen der Verantwortung selbst – ein scheinbar zirkuläres „ontologi-[8]sches Argument“, die Herausziehung eines Inhalts aus dem formalen Wesen: aus Verantwortungsfähigkeit Verantwortungspflicht zur Erhaltung von Verantwortungsfähigkeit überhaupt, wobei letztere selbst das ursprüngliche Erfahrungsdatum ist.
Eben diese zugrundeliegende Erfahrungstatsache rettet unser Argument vor dem logischen Zirkeltrug des berühmten „ontologischen Beweises“ für das Dasein Gottes: daß aus dem bloßen Gottesbegriff, worin notwendige (nichtkontingente) Existenz wesentlich einbegriffen ist – aus der begrifflichen ,Essenz‘ also –, die tatsächliche Existenz sich notwendig ergibt. Im Gegensatz dazu ist die Verantwortungsfähigkeit, auf der unser Argument sich aufbaut, zuerst einmal als Tatsache in der Erfahrung gegeben; und wenn aus deren Essenz dann Weiteres abgeleitet wird, darunter auch die Pflicht zur Perpetuierung ihrer eigenen Existenz, so ist dies zwar ein Schluß von Essenz zu geforderter Existenz, doch kein Zirkelschluß von Essenz zu gegebener Existenz. Also ist unser Argument kein leeres.
Aber es ist auch kein Beweis. Denn es ist an gewisse unbewiesene, axiomatische Voraussetzungen gebunden: nämlich, daß Verantwortungsfähigkeit an sich ein Gut ist, also etwas, dessen Anwesenheit seiner Abwesenheit überlegen ist; und daß es überhaupt „Werte an sich“ gibt, die im Sein verankert sind – daß letzteres also objektiv werthaltig ist.
Besonders für das erstere Axiom beriefen wir uns auf unmittelbare Intuition. Die Gültigkeit einer solchen Intuition kann aber bestritten, ja, sie selbst von jedem Individuum für sich persönlich geleugnet werden. Und jedem steht es frei, „Werte“ überhaupt als bloß subjektive, entweder biologisch oder umstandsbedingte Präferenzen anzusehen und im besonderen das Verantwortungsgefühl als eine von der Evolution begünstigte, dem Gattungsüberleben förderliche Zweckausstattung – die als solche natürlich der Gattung selbst keinen höheren Titel auf Überleben verleiht als irgendeine sonstige Zweckausstattung irgendeiner sonstigen Tierart. Ganz gewiß ist der einzelne dem „Imperativ“ einer solchen biologischen Programmierung keinen Gehorsam schuldig – dieser so wenig wie dem Imperativ anderer evolutionärer Gaben, wie etwa dem Sexualtrieb oder dem Aggressionstrieb -, geschweige denn, daß diese Disposition, mit der so viele andere konkurrieren, ihn der Idee des immer weiteren Daseins einer Menschheit nach ihm verpflichtet. Es ist halt eine Determinante unter anderen, und die de facto Determinationen tun entweder ihr Werk oder sie tun es nicht. Ein Sollen ist ihnen nicht zu entnehmen.
Diese Kombination von Biologismus und Wertsubjektivismus (mit der sich Geschichtsrelativismus mühelos verbindet) läßt sich nicht eigentlich widerlegen. Es läßt sich ihr nur entgegenhalten, daß auch sie auf unbewiesenen, axiomatischen Prämissen beruht, die ich hier nicht aufführen kann. Die meinen sind, glaube ich, etwas besser durchdacht und werden dem vollen Phänomen „Mensch“ und dem Sein überhaupt gerechter. Doch letztlich kann mein Argument nicht mehr tun als vernünftig eine Option begründen, die es mit ihrer inneren Überredungskraft dem Nachdenklichen zur Wahl stellt. Besseres habe ich leider nicht zu bieten. Vielleicht wird eine künftige Metaphysik es können.
Doch zurück zur Sache. Beide von uns genannten Drohungen – die der physi-[9]schen Vernichtung und die der existenziellen Verkümmerung – birgt die moderne Großtechnik in ihrem Schoß: die eine durch ihr geradewegs negatives Katastrophenpotential (wie den Atomkrieg), die andere durch ihr positives Manipulationspotential, das z. B. durch Automatisierung aller Arbeit, psychologische und biologische Verhaltenskontrolle, totale Herrschaftsformen, wenn nicht gar durch genetisches Umkonditionieren unserer Natur, zur ethischen Entmündigung führen kann. Was schließlich die Umweltzerstörung durch ganz friedliche, an sich menschendienliche Technik anlangt – statt der jähen nuklearen eine schleichende Apokalypse –, so wird hier physische Bedrohung selber zur existenziellen, wenn am Ende eine globale Not steht, die nur noch den verantwortungsledigen Imperativ des nackten Überlebens bestehen läßt. Damit sind wir zurückgekehrt zum anderen Desiderat für die Grundlegung einer Zukunftsethik im Zeichen der Technik, dem bereits besprochenen sachhaltigen Wissen der „Futurologie“. Von ihm sagten wir, es müsse das rechte Gefühl in uns wachrufen, um uns zum Handeln im Sinne der Verantwortung zu bewegen.
Das rechte Gefühl nun ist in unserm Fall in großem Umfange die Furcht. Sie gewinnt für uns Heutige einen neuen moralischen Wert. Früher von geringem Ansehen unter den Emotionen, eine Schwäche der Furchtsamen, muß sie jetzt zu Ehren gebracht werden, und ihre Kultivierung wird geradezu zur ethischen Pflicht. Ja: wir Mächtigen und Machtbewußten von heute müssen uns vorsätzlich und selbsterzieherisch in die Lage dessen bringen, „der auszog, das Fürchten zu lernen“: doch ein Fürchten neuer Art. Denn abgesehen von der einen aktuellen Furcht vor der Atomkriegskatastrophe für uns selbst ist es das später einmal und für noch Ungeborene Furchtbare, das uns in jetziges Erschrecken versetzen soll. Das kann nun selbst die lebhafteste Phantasiefurcht nur, wenn wir uns mit jenen Künftigen identifizieren – und dies ist selbst nicht mehr ein Akt der Phantasie, sondern der Moral und des ihr entstammenden Gefühls eben der Verantwortung. Sie rückt im Zeichen unserer Macht an die Spitze aller Werte; ihr Gegenstand wird der größte überhaupt denkbare, ja, als praktischer Gegenstand nie zuvor gedachte, außer in religiöser Eschatologie: die Zukunft der Menschheit. Die erstmals uns treffende diesseitige Verantwortung. für sie ist es, die uns die richtige Furcht zur Pflicht macht und zur täglichen Übung. Noch manche andere Umwertung früherer Werte folgt daraus.
Früher galt wohl „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt“, und der Wagemutige wurde gepriesen, der Vorsichtige ein wenig verachtet. Für den einzelnen in seiner Sphäre mag das weiter gelten. Für die Allgemeinheit aber, die noch zu Beginn des technologischen Wagnisses ähnlich denken konnte und eine gute Zeit lang sich des Gewinnens dabei rühmen durfte, ist mit dem enormen Ausmaß dessen, was inzwischen auf dem Spiele steht und wofür unsere Nachkommen dereinst zahlen müssen, Vorsicht zur höheren Tugend geworden, wohinter der Wert des Wagens zurücktritt, ja, sich eher in den Unwert der Verantwortungslosigkeit verkehrt.
Wie betätigt sich die von der Verantwortung uns neuerdings auferlegte Vorsicht? Letztlich, jenseits aller einzelnen Risikoprüfung dieser oder jener Unternehmung, in einer neuen Bescheidenheit der Zielsetzungen, der Erwartungen [10] und der Lebensführung. Was die einzelnen Risikoprüfungen betrifft, so habe ich im Prinzip Verantwortung, beim Versuch einer „Heuristik der Furcht“, eine Faustregel für die Behandlung der Ungewißheit vorgeschlagen: in dubio pro malo – wenn im Zweifel, gib der schlimmeren Prognose vor der besseren Gehör, denn die Einsätze sind zu groß geworden für das Spiel. Mit vielem aber sind wir schon in der gar nicht mehr ungewissen Gefahrenzone mitten drin, wo die neue Bescheidenheit nicht mehr nur Sache weitausschauender Vorsicht, sondern schon naher Dringlichkeit ist. Um die in vollem Lauf begriffene Ausplünderung, Artenverarmung und Verschrnutzung des Planeten aufzuhalten, der Erschöpfung seiner Vorräte vorzubeugen, sogar einer menschverursachten, unheilvollen Veränderung des Weltklimas, ist eine neue Frugalität in unsern Konsumgewohnheiten vonnöten.
„Frugalität“: da wären wir bei einem recht alten und erst jüngst aus der Mode gekommenen Wert. Enthaltsamkeit und Mäßigkeit waren durch lange Vorzeiten des Abendlandes obligate Tugenden der Person, und die „Völlerei“ steht groß im kirchlichen Katalog der Laster. Beides waren, wohlgemerkt, sittliche Werte und Unwerte in sich selbst, d. h. zum Guten und Schlechten der Seele, die an Adel verliert, wenn sie der Begehrlichkeit und dem Leiblichen frönt. Auch wo Selbstversagung nicht geradezu als Bedingung des Seelenheils galt, war doch eine gewisse Frugalität weithin das Wahrzeichen eines höheren Daseins. Die jetzt neu geforderte Frugalität hat hiermit, und mit persönlicher Vollkommenheit überhaupt, nichts mehr zu tun. Gefordert ist sie im Weitblick auf die Erhaltung des terrestrischen Gesamthaushaltes, ist also eine Facette der Ethik der Zukunftsverantwortung. Am wenigsten hat sie mit bestehender Kargheit zu tun. Im Gegenteil, sie ist zu predigen in einer Lage, wo die „Völlerei“ im weitesten Sinne der Konsumsüchtigkeit nicht nur durch üppigsten, allzugänglichen Güterreichtum begünstigt wird, sondern auch als fleißiges omnivores Konsumieren des dazu erzeugten Sozialprodukts geradezu ein notwendiges und verdienstliches Mitwirken am Laufen der modernen Industriegesellschaft geworden ist, die ihren Mitgliedern zugleich das Einkommen dazu verschafft. Alles ist auf diesen Erzeugungs- und Verzehrkreislauf eingestellt, unaufhörlich wird in der Reklame jeder zum Verzehren ermahnt, angestachelt, verlockt. „Völlerei“ als sozialökonomische Tugend, ja Pflicht – das ist wahrlich ein geschichtlich Neues im jetzigen Augenblick der westlichen Welt. Gegen diese Zwänge und Reize, dieses Klima allgemeiner Indulgenz und ihrer materiellen Ermöglichung, ist also der noch neuere Ruf nach Frugalität, nach erneuter Frugalität zu erheben. Welche Aussicht hat der Ruf, sich durchzusetzen, bevor die schließlich über uns hereinbrechende Kargheit zu viel Schlimmerem nötigt?
Es gibt den Weg des freiwilligen Konsensus und den des gesetzlichen Zwangs. Der erste, der weit vorzuziehen ist, aber nicht mehr auf die Macht der Religion rechnen kann, ist nur gangbar, wenn das gewünschte Verzichtverhalten durch die Macht der Sitte zur gesellschaftlichen Norm erhoben wird, woran der einzelne sich auch ohne Einsicht in ihren Sinn und gewohnheitsmäßig im ganzen hält, schon weil er sich ihrer krasseren Verletzungen vor seinesgleichen schämen müßte. Da sind wir also bei der Sitte und ihrem stärksten Bollwerk, der Scham – und in der Tat hat ja der moderne Konsumtaumel etwas Schamloses an sich. Ich [11] gestehe, ich bin nicht optimistisch hinsichtlich einer solchen Reformierung der Sitte, die gewissermaßen von unten her eine würdige Frugalität zum unwillkürlich wirksamen gesellschaftlichen Wert macht, ehe es dafür zu spät ist und nur die unwürdige Alternative des verarmten Verschwenders bleibt. Der andere Weg, dem vorzubeugen, wäre die zeitige Erzwingung der Frugalität von oben her, durchs öffentliche Gesetz und seine Sanktionen. Auch dafür sind die Aussichten im demokratischen Stimmverfahren nicht gut, das ja durchweg von gegenwärtigen Interessen und Umständen beherrscht wird und sich schwerlich, solange kein Mangel da ist, vom fernhin prophezeiten Mangel bewegen läßt. Also müßte die nötige Gesetzgebung autoritär zustande kommen, als Teil einer veränderten politischen Ordnung, was im Namen der Freiheit zu beklagen wäre. Ohnehin fährt diese nicht gut dabei, wenn öffentlichen Gewalten die Vorschreibung und Beaufsichtigung privaten Verhaltens zufällt; und an das damit so leicht einhergehende Spitzel- und Angebertum, das Begünstigungs- und Umgehungswesen, die Schwarzmarktgesinnung usw. möchte man lieber nicht denken. Auf die Problematik der Freiheit für die Zukunftsethik komme ich noch zurück.
Vorher ist dem Thema der Mäßigung noch etwas hinzuzufügen. Wir haben sie bis hierher als Mäßigung im Konsum verstanden und konnten dabei an die durchaus traditionelle, vormoderne Tugend der Enthaltsamkeit anknüpfen. Aber ganz neuen Boden betreten wir, wenn wir von der Zügelung der Genußgier zur Zügelung des Könnens und Leistens, zur Bändigung des Vollbringungstriebes übergehen. Wer hätte je im Allgemeininteresse „Mäßigung“ in der Anstrebung menschlicher Höchstleistungen empfohlen? Es war Tugend, zu tun, was man kann, das Gute mit dem Bessern zu übertreffen, alles Können zu vermehren, immer mehr und Größeres zu vollbringen. Aber sollen – dürfen – wir in Zukunft überall zu weiteren Höchstleistungen fortschreiten? Zur Höchstleistung etwa in der Lebensverlängerung? in genetischer Veränderung? in psychologischer Verhaltenslenkung? in industrieller und agrarischer Produktion? in Ausnutzung der Bodenschätze? im Steigern jeder technischen Effizienz überhaupt? Ohne ins einzelne zu gehen, können wir die allgemeine Vermutung äußern, daß hier vielerorts Zurückhaltung zum Gebot werden kann und selbst Steigerung der Leistungsfähigkeit nicht durchweg ein fragloser Wert bleibt, vom Ausmaß ihrer Nutzung zu schweigen. Daß Zügelung des Verbrauchs Zügelung der Erzeugung zur Folge hat, die sich ja der Nachfrage anpaßt, versteht sich von selbst. Aber unsere Frage und Vermutung geht über solche Handgreiflichkeiten hinaus. Grenzen zu setzen und haltzumachen wissen selbst in dem, worauf wir mit Grund am stolzesten sind, kann ein ganz neuer Wert in der Welt von morgen sein. Vielleicht müssen wir vom Maßhalten im Gebrauch der Macht, das immer ratsam war, zum Maßhalten im Erwerb der Macht fortschreiten. Denn überall werden Punkte erreicht, wo der Besitz der Macht die fast unwiderstehliche Versuchung ist, sie zu gebrauchen, ihr Gebrauch aber gefährlich, verderblich, mindestens ganz unabsehbar in den Folgen sein kann. Darum wäre es besser, die betreffende Macht gar nicht erst zu besitzen. Zu sagen vermögen: Ja, hier könnten wir noch weitergehen, noch mehr erreichen, verzichten aber darauf, mag sehr wohl eine kritische Tugend im kritischen Glücksspiel der Zukunft werden. [12]
Solcher Verzicht ist schmerzlich für den schöpferischen Geist, worüber ihn das Tugendlob nicht hinwegtröstet. Eher kann er sich damit trösten, daß die Wunden, die die Technik schlägt, doch nur durch weitere, noch bessere Technik geheilt werden können, die Anstrengung also zu weiterem Übertreffen, zu immer erneuter Höchstleistung im Erwerb von Können, gerade wegen der Doppelwirkungen der Technik nie aufhören darf. Kurz: Fortschritt in der Technik ist schon zur Korrektur ihrer eigenen Wirkungen nötig. Das ist richtig, hebt aber den Rat der Bescheidung nicht auf; es differenziert ihn nur. Denn nicht alle Wunden sind heilbar, manche sind grundsätzlich unheilbar, und selbst über sie hinaus gibt es unter den drohenden Schadenswirkungen der Großtechnik solche, die aus sich selbst weiterlaufen und dann von keiner Technik mehr auch nur aufzuhalten, geschweige denn zu heilen sind. Unerlaubt ist, auf künftige Wunder der Technik zu rechnen, um sich das Gewagte zunächst einmal zu erlauben; und auch auf die Fähigkeit der Menschen, die Übung einer einmal erlernten Macht rechtzeitig zu bremsen, darf man nicht zu sehr bauen. Im übrigen versteht sich, daß die hier angesprochene etwaige Verzichtpolitik schon im Erfinden selektiv gemeint ist. Am besten beginnt sie bei Zielsetzungen, die nicht durchaus nötig sind. Der unverzichtbaren bleiben genug, um das technische Ingenium sowohl im Vervollkommnen wie im Berichtigen und Abwenden weiterhin schöpferisch zu beschäftigen.
Bis hierher hatten unsere Beispiele technischer Macht und ihrer möglichen Gefahren für das Menschenlos hauptsächlich ihre Wirkungen auf die Umwelt, auf die äußeren Bedingungen künftigen Lebens im Auge – Auswirkungen also, die den Menschen selbst nur mittelbar treffen und katastrophal werden können, wenn sie es global tun. Unmittelbar hat es diese Macht mit nichtmenschlichen Dingen zu tun (wie bisher alle Technik außer der Medizin); und in den Schätzungen, wie deren irdischer Gesamtzustand dadurch kritisch verändert werden kann – wo etwa die kritischen Schwellenwerte liegen, wie weit wir hier oder dort noch gehen dürfen –, darin spielen quantitative Erwägungen die Hauptrolle, bei denen wir meistenteils noch im Dunkeln tappen. Es gibt aber neuerdings Technologien, die auch den Menschen direkt zum Gegenstand haben und das Sein von Personen betreffen. Da erheben sich qualitative Fragen, für welche Zahlen keine Rolle spielen und deren Entscheid nicht auf so etwas wie die integrale Umweltwissenschaft warten muß, die wir nötig hätten, um die quantitativen Fragen der Ökologie wirklich kompetent beantworten zu können. Wo es sich um unser eigenes Sein handelt, da genügt das jederzeit verfügbare Wesenswissen vom Menschen, das uns sagt, was das menschlich Gute ist, gewiß, was ihm zuwiderläuft. Wir denken vornehmlich an Entwicklungen auf dem Gebiet der Humanbiologie mit ihren ganz neuen praktischen Möglichkeiten, die sie u. a. der Medizin eröffnet. Die „Machbarkeiten“, die hier schon aktuell werden oder erst winken, betreffen den Anfang und das Ende unseres Daseins, unser Geborenwerden, unsere Lebenslänge und unser Sterben, ja, unsere erbliche Konstitution. Sie rühren damit an letzte Fraugen unseres Menschseins: an den Begriff des „bonum humanum“, den Sinn von Leben und Tod, die Würde der Person, die Integrität des Menschenbildes (religiös: der imago Dei). Auf solche Fragen müssen wir im Lichte eines gültigen (nicht nur gerade geltenden) Menschenbil-[13]des antworten, und dafür brauchen wir wiederum die Metaphysik – diesmal nicht eine nur formale, wie die vorhin versuchte, die uns sagt, warum der Mensch überhaupt sein soll und wir dafür die Verantwortung tragen, sondern eine materiale, inhaltliche Metaphysik, die das so zu verantwortende Sein vor ganz konkreten Entstellungen schützt. In ihrem Licht können wir Fragen der Humantechnologie auch antizipierend angehen, und zwar kategorisch, frei vom hypothetischen Rätselspiel der Zahlen und der verschlungenen Weltkausalitäten, welche die Wirkung unseres Tuns im Großen beherrschen. Hier, wo schon das einzelne Paradigma seine ganze Wahrheit vom Wesen her zu sagen hat, kann die Begegnung der Zukunftsethik mit der Technik dem aktuellen technischen Vermögen weit voraus stattfinden und zu bindenden Urteilen führen. Die bloße Faustregel der „Heuristik der Furcht“, bei schwankenden Prognosen der warnenden Gehör zu geben, wird hier ersetzt durch das sichere, von Größenberechnung der Folgen ganz unabhängige Urteil, daß dies oder jenes – ob in großem oder kleinem Maßstab – schlechterdings nicht stattfinden darf. Wenn z. B. Spielen mit der menschlichen Erbsubstanz als solches ein Frevel ist, dann ist es dies schon beim ersten und einzigen Versuch und nicht erst bei der Massenanwendung, die sonst wohl in der Erwägung technologischer Verwüstungen und auch biologischer Wagnisse maßgebend ist. Dann aber stünde es schon der Forschung nicht frei, solche Versuche anzustellen, ja, sich das Ziel genetischer Umschaffung (d. h. schon ihrer Erkundung) beim Menschen überhaupt zu setzen – und die so hochbewertete Freiheit der Wissenschaft stieße hier, sowohl vom Ziele wie vom Wege her, auf eine Schranke.
Damit kehren wir zum Schluß noch einmal zum Problem der Freiheit in jeder von heute gesehenen Zukunftsethik zurück. Zu den Opfern, die sie uns auferlegen wird, gehören unvermeidlich auch Verzichte auf Freiheit, die nötig werden in Proportion zum Anwachsen unserer Macht und ihrer Risiken der Selbstzerstörung. Die Kontrollen, die solche Macht in so wenig verläßlichen Händen wie den unsern erfordert, können nicht umhin, der Willkür auch im Individuellen strengere Grenzen zu setzen; und zusammen mit den nicht mehr statthaften Libertinagen eines ungehemmten Kapitalismus und seiner Konsumexzesse können auch manche uns teure Freiheiten, persönliche und kommunale, der sich verschärfenden condition humaine zum Opfer fallen. Gewiß wird zur Frage, wieviel wir uns von ihrem Luxus noch leisten können, und mit steigender Krise erscheint das Gespenst der Tyrannei. Als rettende Zuflucht müßten wir selbst sie hinnehmen, denn sie ist immer noch besser als der Untergang.
Aber wie? Widersprechen wir damit nicht uns selbst? Sagten wir nicht, daß Freiheit die Bedingung der Verantwortungsfähigkeit sei – und diese ein Grund, warum die Menschheit weiterbestehen soll? Verletzen wir mit der Zulassung der Tyrannei als Alternative zur physischen Vernichtung nicht den von uns aufgestellten Grundsatz, daß das Wie der Existenz nicht ihr Warum aufheben darf? Doch wir können das schreckliche Zugeständnis an den Primat des physischen Überlebens machen in der Überzeugung, daß die ontologische Befähigung zur Freiheit, unabtrennbar wie sie ist vom Wesen des Menschen, sich nicht wirklich auslöschen, nur zeitweilig lähmen läßt. Die Überzeugung kann sich stützen auf wohlbekannte Erfahrung. Wir erleben es, daß selbst in den totalitärsten [14] Zwangssystemen das Freiheitsvermögen einzelner sich unbesiegbar regt und unsern Glauben an den Menschen neu belebt. In diesem Glauben dürfen wir mit Grund hoffen, daß – solange es Menschen sind, die überleben – mit ihnen auch das Ebenbild Gottes weiterlebt und im Verborgenen auf seine neue Stunde wartet. Mit dieser Hoffnung – die hier einmal vor der Furcht den Vorrang hat – dürfen wir um der physischen Rettung willen, wenn es denn sein muß, selbst eine Pause der Freiheit in den äußeren Affären der Menschheit hinnehmen.
Aber es braucht nicht dazu zu kommen. Denn bedenken wir, daß es zur oktroyierten Disziplin die Alternative der Selbstdisziplin gibt. Sie war seit je der Preis der Freiheit, die immer nur vor dem Hintergrund einer starken, bindenden Sitte gedeihen konnte, durch Verzicht auf Zuchtlosigkeit, durch freiwillige Selbstbeschränkung. Hören wir, was Edmund Burke im späten 18. Jahrhundert sagte: „Die Gesellschaft kann nicht bestehen, ohne daß eine kontrollierende Macht über Wollen und Begehren irgendwo errichtet ist, und je weniger davon innen ist, desto mehr muß außen sein. Es steht geschrieben in der ewigen Verfassung der Dinge, daß Menschen von zügellosem Geist nicht frei sein können. Ihre Leidenschaften schmieden ihre Fesseln.“
Es liegt an uns, die Notwendigkeit der Tyrannei zu vermeiden, indem wir uns in die Hand nehmen und wieder strenger mit uns selbst werden. Freiwillige Opfer an Freiheit jetzt können die Hauptsache davon für später retten. Es ist in der Tat eine der vornehmsten, selbstbezogenen Pflichten des Prinzips Verantwortung, durch jetziges Tun in Freiheit künftigem Zwang zur Unfreiheit vorzubeugen und so sich selbst den weitesten Spielraum auch bei den Nachkommen offen zu halten. Da wir alle Mittäter am System sind, indem wir von ihm und den Früchten seines Raubbaus zehren, können wir alle – jeder von uns – etwas zur Änderung seiner Bedrohlichkeit tun, indem wir in dem und jenem unsern Lebensstil ändern – ja, schon zum Beispiel an der Rehabilitierung von Selbstdisziplin an sich mitwirken. Es ist nicht zu früh dazu – aber, sagen wir es laut gegen allen lähmenden Fatalismus: noch nicht zu spät!
Thomas Meyer/Susanne Miller (Hrsg.), Zukunftsethik und Industriegesellschaft, München: J. Schweitzer Verlag 1986, S. 3-14. Wieder abgedruckt in: Angelika Krebs (Hrsg.): Naturethik. Grundtexte der gegenwärtigen tier- und ökoethischen Diskussion, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997, S. 165-181.