„Die Hoffnung auf das kommende Gottesreich umgreift das, was Christen jetzt leben und glauben dürfen“ – Hans G. Ulrich über die Rede vom „Reich Gottes“

Hans G. Ulrich

Mein theologischer Lehrer Hans G. Ulrich wird am 5. November 75 Jahre alt. Bei ihm habe ich evangelische Ethik in göttlicher Verheißung gelernt, die einem religionistischen Autismus biblisch widerspricht. Ein schöner, feinsinnig geschriebener Text ist sein Aufsatz „Gottes Reich – der widerständige Trost seiner Verheißung“ (2005 erschienen in Ernstpeter Maurer, Grundlinien der Dogmatik):

Gottes Reich — der widerständige Trost seiner Verheißung

Von Hans G. Ulrich

In den christlichen Kirchen, in ihren Gottesdiensten, Schriftlesungen, Gebeten, Bekenntnissen, ihren Festen und ihrer Lehrbildung ist die Rede vom »Reich Gottes«, von Gottes Regentschaft, von Jesus Christus dem König und Herrn in vielfältiger Weise gegenwärtig. Mit dem »Vaterunser«, dem Gebet, das Jesus seine Jünger gelehrt hat und das die Christen beten, ist die Bitte an Gott »Dein Reich komme …« präsent. Das Gebet spricht den Vater-Gott als denjenigen an, der sich darum bitten läßt, daß nach seinem Willen die Welt, Himmel und Erde, regiert werden und daß seine Regentschaft seine königliche Regentschaft — in diese Welt komme. Meist schließt das Gebet mit dem Lobpreis: »Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.« So blickt das Vater-Unser auf den gegenwärtig und künftig regierenden Gott.

Die Verkündigung des «Reiches Gottes« und der Königsherrschaft Gottes ist tief verwurzelt in der biblischen Tradition. In den Psalmen wird Gott in vielfältiger Weise als König angerufen und seine gegenwärtige und künftige Regentschaft über die Völker und in der Schöpfung gepriesen. Die Heilspropheten Israels sagen ein künftiges Königreich an (Jes 9), und diese Botschaft wird von den Christen im Kommen Jesu Christi erfüllt gesehen. Der Prophetie folgend wird in der neutestamentlichen Überlieferung Jesus Christus als der Messias und der neue König bezeugt. Die Hoffnung und Verheißung richtet sich nicht allein auf Regentschaft, sondern auf Rettung und Gerechtigkeit. Wer seine Hoffnung auf das Reich Gottes richtet, ist immer schon gefragt, wie ihm diese Verheißung gelten kann. In der Verkündigung Jesu geht es darum, wer des Reiches Gottes — wie — teilhaftig werden kann. [288]

So ist das Reich Gottes paradigmatisch den Armen zugesprochen. Ihnen gilt zuerst die Zuwendung Jesu. Das Reich Gottes bringt nicht nur den gerechten und sozialen Ausgleich, den menschliche Ungerechtigkeit versäumt hat, sondern mit ihm ist die Regentschaft Gottes verbunden, der in seiner Güte gegen menschliche Ökonomien der Schuld und des Ausgleichs regiert und wirkt. Das Reich Gottes wird die Wirklichkeit zurechtbringen, aber auch verändern, umkehren und neu schaffen. Die Gleichnisse Jesu vom Reich Gottes präsentieren eine solche, den menschlichen Verhältnissen entgegenlaufende Logik. Es geht um das Neuwerden menschlicher Ökonomien, die selbst beim gerechten Ausgleich noch ihren Kalkülen folgen. Im Reich Gottes wird gelten: »So werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein.« (Mt 20,16)

Die Hoffnung auf das Reich Gottes ist untrennbar verbunden mit Jesus Christus, mit seiner Verkündigung, seinem Wirken, seinem Leben und seiner Passion. Die Hoffnung auf das Reich Gottes bleibt gewiesen an Jesus, der als der »König der Juden« stirbt, und an den Jesus Christus, der zur Rechten Gottes sitzt und wiederkommt, um »zu richten die Lebenden und die Toten«, wie es im Apostolischen Glaubensbekenntnis ausgesprochen ist. Die Hoffnung auf Gottes Reich ist in diese Geschichte Jesu Christi aufgehoben. Sie steht gegen die Erwartung und Verzweiflung derer, die ihre Geschichte oder die Geschichte der Menschheit mit dem Reich Gottes verbunden sehen wollen. Mit der Verheißung des Reiches Gottes wird nicht der verborgene Sinn der Geschichte oder gar deren Vollendung, sondern eine andere Geschichte präsent: die Geschichte Gottes mit den Menschen, seinen Geschöpfen, denen er die Treue hält.

Verheißung und Erfüllung

In dem Aufeinandertreffen biblischer Zeugnisse ist der Zusammenhang von Gottes Verheißung und Erfüllung angelegt, in dem sich der christliche Glaube und die christliche Hoffnung bewegen: die Hoff-[289]nung auf Gottes Reich ist getragen von der Erfahrung erfüllter Verheißung in dem gekommenen Christus und von dem Glauben an den auferstandenen Herrn, dem König – und umgekehrt: die Verheißung endgültiger Erfüllung in Gottes Reich trägt den Glauben an den gegenwärtigen Christus. Hier ist der Jesus Christus im Blick, der sich den Armen und Elenden zugewandt hat, der Krankheiten geheilt und Sünden vergeben hat.

Nicht die vielleicht bange Frage möglicher Perspektiven auf ein künftiges Gottes-Reich ist hier leitend, sondern die überreiche, das gegenwärtige Leben verändernde Präsenz erfüllter Verheißungen und die ihnen folgende, darin begründete Hoffnung auf weitergehende Erfüllung, die Gott selbst herbeiführt. Es geht nicht darum, daß etwa eine Kirche, die Christen oder das Christentum Gottes Wirken weiterführen, sondern es geht darum, daß sich diese Christen und die Gemeinde Jesu Christi ihrer Berufung würdig zeigen (Eph 4,1). Die Verheißung des kommenden Gottesreiches hat ihre Pointe ja gerade darin, daß nicht irgendein Reich in Aussicht steht, sondern daß Gott selbst — in der Einheit mit Christus — regiert. Die Hoffnung richtet sich auf den Gott, der schon bekannt und präsent ist, und auf ein Gottes-Reich, das bereits begonnen hat. Sein Fundament ist gelegt.

So kann der christlichen Gemeinde gesagt werden: »Und er gebe euch erleuchtete Augen des Herzens, damit ihr erkennt, zu welcher Hoffnung ihr von ihm berufen seid, wie reich die Herrlichkeit seines Erbes für die Heiligen ist, und wie überschwenglich groß seine Kraft an uns, die wir glauben, weil die Macht seiner Stärke bei uns wirksam wurde, mit der er in Christus gewirkt hat. Durch sie hat er ihn von den Toten auferweckt und eingesetzt zu seiner Rechten im Himmel über alle Reiche, Gewalt, Macht, Herrschaft und alles, was sonst einen Namen hat, nicht allein in dieser Welt, sondern auch in der zukünftigen. Und alles hat er unter seine Füße getan und hat ihn gesetzt der Gemeinde zum Haupt über alles, welche sein Leib ist, nämlich die Fülle dessen, der alles in allem erfüllt.« (Eph 1,18-23) [290]

Die Hoffnung auf das kommende Gottesreich hat ihre Eigenart und Kraft darin, daß sie in Gottes Verheißung begründet ist und daß Gott selbst die Hoffnung auf sein kommendes Reich herbeigeführt hat. Gott hat die menschlichen Hoffnungen auf sich gezogen und an sich gebunden. Mit der Hoffnung auf Gottes kommendes Reich bleibt der christliche Glaube daran gewiesen, daß Gott nicht nur irgendwie im Hintergrund gedacht wird, als der Gott, der schließlich alles zusammenhält oder zum guten Ende führt. Vielmehr ist Gott mit seinem Wirken und Handeln präsent und kommt uns Menschen und dieser Welt mit seiner künftigen Regentschaft entgegen. So ist es nicht möglich, die Hoffnung auf das Gottes-Reich zu bewahren ohne die ganze Geschichte der Verheißungen und ihrer Bekräftigung durch Gott, die im Kommen Jesu Christi greifbar nahegerückt ist. Mit der Hoffnung auf Gottes kommendes Reich ist gegeben, daß unser ganzes gegenwärtiges menschliches Leben, mit allem, was es trägt und ausmacht, in Gottes regierender Hand ist. So können die Christen singen: »Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren … Lobe den Herren, der alles so herrlich regieret … Lobe den Herren, der deinen Stand sichtbar gesegnet« (EG, 316). Gottes kommendes Reich wird dieses Lob in einer neuen Welt bewahrheiten. Die Hoffnung auf Gottes kommendes Reich ist an diesem Vertrauen festgemacht, es ist eine erfahrene und begründete Hoffnung (Gerhard Saurer). Mit der Verheißung des kommenden Reiches Gottes findet der Glaube den Gegenhalt, den Trost in Gottes Wirken und Regieren. Dieser Gegenhalt steht allem Vertrösten entgegen.

Hoffnung auf Gottes Wirklichkeit

Die christliche Hoffnung, die so tief in die biblische Überlieferung eingraviert ist, hat in diesen zusammengehörigen Momenten von gegenwärtiger Erfüllung der Verheißung und entgegenkommender Regentschaft ihre Kontur. Sie hat ihren Ursprung darin, daß in Jesus Christus Gottes Regentschaft und sein kommendes Reich uns Menschen [291] nahegerückt ist. Gottes Regentschaft ist unausweichlich mit Jesu Kommen und Verkündigung verbunden. Auch wenn im Neuen Testament die Hoffnung nicht immer direkt auf Gottes Reich bezogen ist, sind die grundlegenden Glaubensinhalte dennoch in ihrem theologischen Zusammenhang ohne den Bezug auf Jesus Christus, den gekommenen König und seine Verkündigung vom Reich Gottes nicht zu verstehen. Die Hoffnung auf das kommende Gottesreich und was damit verbunden ist, trägt und umgreift das, was Christen jetzt leben, glauben und hoffen dürfen. Der Glaube und die Hoffnung wären ohne Widerhalt an der Wirklichkeit Gottes und der Welt, die Gott trägt und herbeiführt, sie liefen ins Leere. Der christliche Glaube wäre auf geistige Inhalte bezogen, die ohne Ort sind. Diese Inhalte würden sich Menschen aneignen, sie würden zu dem, was Menschen als Überzeugung mit sich tragen oder was sie als ihre Lebensform leben. Der Glaube an den auferstandenen Herrn, den König und die in Gottes Wirken begründete Hoffnung auf das kommende Gottes-Reich aber gehören zu der Wirklichkeit, die in Gottes Regentschaft steht. Dieser Glaube und diese Hoffnung gehen über den Umkreis und die Realität menschlicher Überzeugungen, Hoffnungen, Gewißheiten und Lebensformen hinaus. Andernfalls bleiben der Glaube und die Hoffnung in unserem menschlichen Horizont verschlossen oder in dem, was wir die menschlichen Subjekte und ihre Lebenspraxis nennen. Das Reich Gottes begegnet in der Externität der Verheißung (Gerhard Saurer). Das Reich Gottes ist deshalb auch nicht das Andere unserer menschlichen Wirklichkeit, ihr Gegenbild, sondern die andere, uns entgegenkommende, adventliche Wirklichkeit Gottes, die diese menschliche Wirklichkeit kreuzt. Hier hat die Theologie des Kreuzes ihren Ort, die im bestimmten Widerspruch steht zu der von Menschen errichteten Welt. Deshalb ist die Hoffnung auf das Reich Gottes nicht Bestandteil einer Metaphysik, die eben das je Andere der Wirklichkeit, diese Wirklichkeit bestätigend, behauptet. Das Reich Gottes ist verheißen gegen solche Vergewisserungen und ihre — metaphysikkritischen — Dementis. [292]

Gottes geistliches Regiment — Kirche Ort der Hoffnung

Mit der Hoffnung auf Gottes kommendes Reich, die in der Erfüllung der Verheißung durch das Kommen Jesu Christi begründet ist, ist alles verbunden, was Menschen glauben und hoffen dürfen. Andernfalls würde dies zum Überzeugungsbestand, der nicht von Gottes Wirken getragen ist. Das gilt beispielsweise für den Glauben an die Rechtfertigung des Sünders durch Gottes Gerechtigkeit. Die Zusage der Gerechtigkeit Gottes und seines rechtfertigenden Urteils löst nicht etwa die Verkündigung vom kommenden Reich Gottes ab oder hebt diese in einen Glauben auf, sondern die Verkündigung vom kommenden Reich ist das Korrelat zur Zusage der Gerechtigkeit. In der Lehre von Gottes gegenwärtigem zweifachen Regiment, wie sie in der reformatorischen Theologie ausgearbeitet worden ist (Zwei-Reiche-Lehre), gehören die Rechtfertigung des Sünders, die Sündenvergebung und der Zuspruch der Gerechtigkeit zu Gottes geistlichem Regiment über die Herzen, das Gott durch sein Wort vollzieht. Dieses Wort, durch das Gott die Herzen regiert, kann nicht internalisiert, in unseren Glauben oder in unser menschliches Bewußtsein aufhoben werden. Es bleibt das äußere, uns entgegenkommende Wort. Deshalb ist hier von Gottes Geist zu reden, der dem Menschengeist begegnet und Menschen leitet und regiert: »Denn welche der Geist Gottes treibt (regiert), die sind Gottes Kinder« (Röm 8,14). Die »an Geist Armen«, denen das Himmelreich verheißen wird (Mt 5,3), das sind diejenigen, die sich Gottes Regierung im Geist gefallen lassen. Die Gemeinde oder die Kirche erscheint hier als die Gemeinschaft derer, die sich regieren lassen. In diesem Sinne ist es die Gemeinschaft der Heiligen. Dies kann keine triumphierende Kirche sein, sondern nur die Gemeinschaft derer, die mit jedem Wort sich Gottes Wirken und Willen gefallen lassen.

Die Christengemeinde ist darin eine politische Realität. Sie ist diejenige, die Christus als ihren gegenwärtigen königlichen Herrn bekennt. So hat die Christengemeinde eine politische Gestalt. Das Gebet, das Anrufen Gottes, der Lobpreis des Königs, das Regiert-Werden durch [293] Gottes Wort machen die politische Gestalt der Gemeinde aus. Sie ist durch nichts anderes als durch diese Praxis eine politische Größe, sie ist keine politische Formation, die in sich selbst gründet. Gerade darin ist sie paradigmatisch für die Polis, die sich nicht selbst begründen kann, sondern immer schon revolutionärer Herkunft ist. Die Christengemeinde ist keine herrenlose Gemeinschaft. Dies würde sie aufgehen lassen in dieser oder jener politischen Geschichte. Sie bleibt ihr gegenüber widerständig. Die Gemeinde hat ihre politische Bedeutung darin, daß sie von sich sagen kann: »Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.« (Hebr 13,14)

Das Regiment Gottes über die Herzen, sein Regiment im Wirken des Heiligen Geistes ist nicht davon zu trennen, daß Gott die ganze Welt, Gottes Schöpfung und alles, was in diese Welt eingestiftet ist, regiert. Von Gottes geistlichem Regiment in seinem Wort ist nur zu reden im Blick darauf, daß Gott die Welt, seine Schöpfung nicht aus der Hand gegeben hat, so daß wir Menschen anderen Mächten und Gewalten unterworfen wären. Daß es keine »Obrigkeiten« geben kann außer solche, die Gott als Regierenden anerkennen (Röm 13), enthält die Verheißung, daß Gott die Welt als ganze regiert. So ist auch in dieser Hinsicht von Gottes Regierung zu reden, nicht nur irgendwie von Gottes Wirken und Walten. Es geht um Gottes allseitig regierende Präsenz. Die, die ihre Herzen durch Gottes Wort regieren lassen, bezeugen, wie sich Gott in seiner Regentschaft exponiert. In ihrem Zeugnis tritt Gottes Regentschaft sichtbar hervor. Wenn Christen sich versammeln, um Christus, ihren Herrn, anzurufen und wenn sie sich versammeln, um Gottes Wort zu hören, wird Gottes Regentschaft präsent. Es ist immer schon eine politische Regentschaft, weil sie auf das Zusammenleben der Menschen mit Gott zielt.

Gottes Regentschaft — und der Umriß menschlicher Politik

Gottes Wirken insgesamt erscheint als Regierung, und alles dreht sich für den Christenmenschen darum, niemandem anderem zu dienen [294] oder untertan zu sein als dem einzigen Gott allein. Damit dreht sich die Theologie um das erste Gebot in seiner durchaus eschatologischen und hoffnungsvollen Bedeutung: »Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein« (Offb 21,3). Hier ist nicht aus wissender beobachtender Distanz von einem »Monotheismus« zu reden, sondern von dem einzigen Herrn und König, vom dem Menschen sich regieren lassen können — von diesem einzigen und keinen anderen. Sie können keinen anderen oder zwei Herren dienen. Für das menschliche Regieren gilt dieser Verheißung entsprechend, daß es keinen Bereich geben kann, in dem Menschen anderen Menschen oder Regenten unterworfen wären: »Durch Gott seid ihr in Christus Jesus, der uns von Gott gemacht ist zur Weisheit und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und zur Erlösung. (1 Kor 1,30) Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden ist, so und mit gleichem Ernst ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben; durch ihn widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen. Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären, Bereiche, in denen wir nicht der Rechtfertigung und Heiligung durch ihn bedürften.« (Barmer Theologische Erklärung 1934, These II).

Der Glaube an Gottes Regentschaft befindet sich damit auch in Auseinandersetzung mit den menschlichen Gestalten des Regierens und der Regentschaft, mit ihren Aufgaben und Grenzen. Es geht darum, wie Menschen in der Hoffnung auf Gottes regierendes Wirken bleiben können — so daß sie sagen können: »Bist du (sc. Mensch) doch nicht Regente, der alles führen soll; Gott sitzt im Regimente und führet alles wohl« (Paul Gerhard in dem Lied: »Befiehl Du Deine Wege«, EG 294). Damit wird der Blick nicht etwa abgelenkt vom menschlichen Regieren, sondern umgekehrt auf das konzentriert, was dem mensch-[295]lichen Regieren anvertraut ist: nicht ein universelles Regime, sondern die gezielte Aufgabe menschlichen Regierens und politischen Handelns unter Gottes lenkender und schützender Regentschaft. Was gegenwärtig als Biopolitik, als Gesundheitspolitik, als Bevölkerungspolitik, als Bildungspolitik, als Umweltpolitik in Gang gesetzt wird, ist daraufhin zu befragen, was seine Konturen sind hinsichtlich der notwendigen Unterscheidung zwischen politisch vermittelter Regentschaft, die Menschen auszuüben haben, und allseitigem Walten einer unabsehbaren Verantwortlichkeit. Es ist damit die Frage nach den Konturen des Politischen gestellt gegenüber einem umgreifenden Besorgen der menschlichen Angelegenheiten.

Wo die Auseinandersetzung um Grenzen und Perspektiven menschlichen Wirkens und Regierens in Trost und Widerspruch stattfindet, ist auch der Ort für die Erprobung der Hoffnung auf Gottes kommendes Reich. Dieser Ort ist — mit Christoph Blumhardt zu sprechen — der Ort eines eschatologischen Kampfes (Gerhard Sauter) und damit nicht einzufügen in den Gang der Dinge, sondern entgegenlaufend und zugleich greifbar, widerständig und widersprechend. Es geht um den Widerspruch gegen jede Art von eigenmächtiger oder religiös legitimierter Regentschaft, die Menschen über Menschen und über die menschlichen Lebensbedingungen aufrichten. Es geht damit um die Unterscheidung zwischen der politischen Aufgabe, im gemeinsamen Handeln Macht und Regentschaft auszuüben (Hannah Arendt), und der Zerstörung der politischen Aufgabe und politischer Macht durch eine unbegrenzte Herrschaft und Regentschaft, die sich selbst in einem fragwürdigen Ausnahmezustand (Walter Benjamin) glaubt. Mit der Unterscheidung von Gottes Regiment und menschlicher Politik ist damit zugleich die Umgrenzung dessen, was Politik und politische Macht in ihrem spezifischen Sinn sein kann, bestimmt.

Ohne die Hoffnung auf das kommende Gottes-Reich und ihr gegenwärtiges Zeugnis fehlte der begründete Widerspruch dagegen, alle und alles regieren zu wollen, es fehlte der Widerspruch dagegen, in al-[296]lem Regie über alle dadurch definierten menschlichen Angelegenheiten zu führen. Das Problem ist dabei nicht die Unabsehbarkeit menschlichen Vermögens oder das Maß des Menschlichen, das einzuhalten wäre, sondern die Ziellosigkeit von Prozessen und Entwicklungen, in denen menschliches Leben verfehlt werden kann. Die Verheißung des kommenden Reiches bewahrt davor, daß wir Menschen unsere Existenz und ihre Gestalt selbst zum Gegenstand unserer Regentschaft machen. Dies kann nicht die Aufgabe irgendeiner Politik sein, wie sich dies freilich — fragwürdig — in solchen Vorgängen wie »Biopolitik« oder einer anderen Humanpolitik abzeichnet. Demgegenüber gilt es, immer neu darauf zu achten, was Gott mit uns Menschen vorhat (Martin Luther). Dies lenkt den Blick auf das Wirken Gottes in seinem geistlichen und weltlichen Regiment, in dem wir die Menschen bleiben können, die auf Gottes künftiges Reich warten.

Kein Rückzug aus dem Streit um die Wirklichkeit

Mit dieser Ortsbestimmung der gelebten Hoffnung auf Gottes Reich sind zahlreiche Auseinandersetzungen auch mit den vielen höchst wirkungsvollen und zugleich fragwürdigen Gestalten des Reich-Gottes-Denkens gegeben. Das gilt sowohl für Vereinnahmungen der Reich-Gottes-Hoffnung für menschliche Strategien als auch für gängige Abgrenzungen dagegen. Die Abweisung menschlicher Vereinnahmung ist nicht durch Rückzug aus der politischen Wirklichkeit zu gewinnen, etwa durch den Rückzug auf ein »nur geglaubtes« Gottesreich oder auf eine — wie auch immer wirksame — Utopie. Mit dem Zeugnis des Glaubens und der Hoffnung wird eben das Gottesreich präsent in all dem, was in Verheißung und Hoffnung unsere Gegenwart verändert: die Verheißung der Freiheit der Kinder Gottes, der Gerechtigkeit in Gottes letztgültigem Urteil und des Friedens Gottes, der höher ist als alle Vernunft. Mit der Abgrenzung gegen menschliches Verwirklichen ist nicht die Wirklichkeit des Kommens des Reiches Gottes ausgeschlossen. Im Gegenteil: es widerspricht der politischen Pointe der [297] Verheißung von Gottes kommendem Reich, wenn seine gegenwärtige Regentschaft als etwas nicht Wirkliches erscheint und sein kommendes Reich nur als das, was »noch nicht« eingetreten ist, oder das, was nicht »Geschichte« oder vielleicht »das Andere der Geschichte« ist. Vielmehr tritt eben seine — durchaus »politisch« zu nennende — Wirklichkeit dadurch hervor, daß Gottes Regentschaft im Glauben an Jesus Christus, dem im Glauben präsenten königlichen Herrn und allem, was zur Praxis dieses Glaubens gehört, bezeugt wird. Eben daran bricht sich menschliche Verwirklichung in vielfältiger Weise, wie Wasser an einem Felsen. Dieses Zeugnis macht die politische Wirklichkeit der Hoffnung auf Gottes kommendes Reich aus.

Politische Hoffnung — Leben in der politischen Hoffnung auf Gottes Regierung

Gottes Reich oder Regentschaft kann nicht in ein Hoffnungsgut transformiert werden, das irgendwie zu gewinnen ist. Die begründete Hoffnung hat eine politische Gestalt, sie ist nicht wegzudenken. Dies ist, wenn wir der Verkündigung Jesu und ihrer Verwurzelung in den biblischen Überlieferungen folgen, nicht möglich und würde der Hoffnung ihren widerständigen Inhalt nehmen. Jesus ist selbst der Stein des politischen Anstoßes gewesen, nicht wegen irgendwelcher hoffnungsvollen Ideen oder Überzeugungen, die er in die Welt gebracht hat, sondern weil durch sein Leben, Reden und Wirken strittig geworden ist, wer wie zu regieren hat. Auch die Hoffnung auf die Auferstehung der Toten ist nicht zu verwandeln in die Hoffnung auf ein ewiges Leben, ohne zugleich das Zurechtgebracht-Werden in Gottes durch Christus gesprochenes Urteil zu erhoffen. Dies ist eine politische Hoffnung. Sie widersteht der trostlosen Aussicht, es stünde Menschen zu, über andere vielleicht gar letztgültig zu urteilen. Sie widersteht dem Versuch, Schuld und Schulden durch eine Ökonomie der Schuldenbewältigung oder Strategien der Versöhnung abzuarbeiten, und sie widersteht dem Versuch, den Frieden auf Erden zu verwirklichen, ohne Gottes Regie-[298]rung über die Herzen, ohne sein Wort und ohne sein Urteil. Es kommt alles darauf an, daß die politische Praxis hier innerhalb der Konturen der Hoffnung verbleibt, die auf Gottes Gerechtigkeit und seine Vergebung gerichtet ist.

Das Zurechtgebracht-Werden geht durch Gottes Urteil hindurch, durch dieses höchstrichterliche Urteil. Die Hoffnung richtet sich darauf, daß dieses Urteil geschieht, weil es gerecht ist. Die Zusage der Gerechtigkeit Gottes, die Rechtfertigung des Sünders, ist so von der Erwartung der Regentschaft Gottes nicht abzutrennen. Sünde heißt, daß sich Menschen Gottes Wirken und Regieren nicht gefallen lassen und sich auch der Hoffnung auf Gottes Urteil entziehen. Auf dieses Urteil hin und in der Hoffnung auf dieses Urteil gilt es, die menschliche Gerechtigkeit auszuüben. Es kommt alles darauf an, daß denen, die Ungerechtigkeit oder Unrecht erfahren, nicht die Hoffnung auf die Gerechtigkeit genommen wird, die Gott gewährt — wider alles menschliche Urteilen. Diese Hoffnung ist dort wirklich, wo niemandem verwehrt ist, gegen menschliches Urteil Widerspruch einzulegen, und wo auch dann, wenn Recht gesprochen ist, menschliches Recht sich der urteilenden Gerechtigkeit ausgesetzt weiß, die menschlichem Urteilen widerspricht.

Wie mit der Gerechtigkeit, so ist es mit dem Frieden. Die Hoffnung auf Gottes Regentschaft und sein kommendes Reich ist dort aufgegeben, wo Menschen den Frieden, »welcher höher ist als alle Vernunft«, durch die von ihnen zu geschaffenen Ordnungen glauben ersetzen zu können und darüber dann auch den Blick dafür verlieren, welche Art von Frieden tatsächlich ihre politische Aufgabe ist. Hier verläuft die Grenze zu einer Ordnung, die in unvermeidlicher Weise auf Gewalt beruht, und nicht darauf, daß Gottes Wort — im Frieden — die Herzen regiert. Hier kann es nicht um einen Kampf der Überzeugungen oder Ideologien gehen. Hier geht es um die Veränderung durch die Erneuerung des Denkens (Röm 12,2). So kann nicht eine Friedenseinstellung (vielleicht ein Pazifismus) gegen andere Einstellungen stehen, sondern [299] allein das Wort Gottes, das uns Menschen begegnet, das unsere Herzen verändert und das niemand als sein von ihm beherrschtes Instrument einsetzen kann. Ohne diese Regierung durch das Wort, ohne das Vertrauen in Gottes Regentschaft durch sein Wort, bleibt alle politische Arbeit am Frieden eine Arbeit an einem Abgrund, dem nichts entgegensteht. Wie auch immer politische Theorien diesen Abgrund abgesichert sehen mögen, es kommt darauf an, wie der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, die Herzen und Sinne bewahrt und so politisch präsent ist.

Dieser Friede tritt dort ein, wo deutlich bleibt, daß Menschen durch Gewalt nicht zu regieren sind, sondern eben nur zu beherrschen. So gilt es für die politische Aufgabe zwischen Herrschaft, die auf Gewalt beruht, und der Macht zu handeln, zu unterscheiden (Hannah Arendt). Das Politische besteht darin, durch gemeinsames Handeln die für alle nötigen Aufgaben zu bestehen. In diesem Handeln bildet sich der Frieden ab, der sich in solcher Praxis vollzieht. Dies kann nicht von der abgründigen Angst um die je eigenen Lebensgrundlagen getrieben sein, wenn sie denn in der begründeten Hoffnung geschieht, daß für alle gesorgt ist. So ist mit diesem Frieden — in der Gestalt solcher Gewaltlosigkeit — die Freiheit verbunden, die in der Verheißung von Gottes Regierung begründet ist.

Wie mit dem Frieden, so ist es auch mit der Freiheit. Die Freiheit, die mit dem Reich Gottes kommt, ist die Freiheit derer, die mit Gott leben. Es ist die Freiheit der Kinder Gottes (Röm 8), es ist die Freiheit, die nicht auf einer Selbstbehauptung beruht. Das Reich Gottes kommt mit denen, die sich von Gottes Geist regieren lassen (Röm 8,21). In dieser Freiheit können die Kinder Gott anrufen und ihn bitten: »Vater unser … Dein Reich komme«. Die Freiheit der Kinder Gottes besteht im Leben mit Gott, das Menschen davor bewahrt, Freiheit in der Selbstbehauptung zu suchen, statt in dem Gewärtigwerden und Erbitten dessen, was Gott wirkt. [300]

„Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit“

Das Reich Gottes ist nicht der Endzustand alles dessen, was im menschlichen Streben oder Begehren liegt. Es ist der Widerspruch gegen menschliches Streben und Begehren, denn eben dieses Streben und Begehren steht dem Kommen des Reiches Gottes und dem Bleiben in der Regierung durch Gottes Geist (Gal 5,18) entgegen. Das ist wiederum nicht die Aufforderung dazu, das Reich Gottes in etwas Spirituellem zu suchen, sondern bei allem Tun des Regierens Gottes gewärtig und in der Erwartung seines Kommens zu bleiben. Dies ist nicht irgendeine Fortschrittskritik oder deren Gegenteil, sondern der Verweis darauf, wie wir immer schon von Gottes fürsorgender Regentschaft leben und eben diese durch eigenes Streben und Begehren verdrängen, so daß andere Menschen in Bedrängnis kommen. »Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit — so wird euch solches alles zufallen …«: Die Umkehrungen dieser tröstenden Mahnung, daß Gottes Fürsorge weiter reicht als alle menschliche Besorgnis und ihr widerspricht — »Trachtet am ersten nach Essen und Trinken …« — ist als Warnung davor zu hören, Gottes fürsorgende Regentschaft nicht zu achten und in dem Streben nach dem Reich Gottes auf die eigene Lebenssicherung zu setzen und die Geschichte Gottes und des Kommens seines Reiches zu vergessen, wie der reiche Mann, dem Jesus sagt: »Verkaufe alles, was Du hast und gib es den Armen, und folge mir nach«. (Mt 19,21) So kommt Gottes Reich zuerst zu den Armen.

„Siehe, ich mache alles neu …“

Die den Glauben allseitig durchdringende Verheißung und Hoffnung auf Gottes Regentschaft und ihre Bezeugung macht die Wirklichkeit des Reiches Gottes aus. Es ist dieses Reich Gottes, das in Gottes Wirken liegt und in Gottes Wirken verborgen ist, nicht als das Unsichtbare oder Ungreifbare, sondern das auf diese Weise wirklich menschlicher Verwirklichung Entgegenkommende — in Differenz und Auseinandersetzung mit dem, was uns Menschen die Wirklichkeit ist. Das [301] Kommen des Reiches Gottes ist deshalb mit der Erneuerung und Neuschöpfung verbunden, die nicht die Welt läßt, wie sie ist, auch nicht in ihrer Vervollkommnung. Die Verheißung des Reiches Gottes richtet sich nicht auf einen Zustand der Welt und seiner Erneuerung, demgegenüber Menschen bleiben könnten, wie sie sind, sondern auf uns Menschen selbst — auf die Regierung von uns Menschen. Deshalb beginnt das Reich Gottes in Gottes geistlichem Regiment, es beginnt dort, wo Menschen sich verändern lassen durch die Erneuerung ihres Denkens (Röm 12,2). So hat auch Jesu Verkündigung eingesetzt. Dies ist keine Vergeistigung des Reiches Gottes, kein Versprechen des — geschichtlichen — Zusammentreffens von Gottes Geist und Menschengeist, sondern die Verheißung, daß alles darauf ankommt, daß Menschen sich von Gott in einem durchaus politischen Sinn regieren lassen. So bleibt die Hoffnung auf Gottes Reich verbunden mit der Gemeinde Jesu Christi, mit der Gemeinschaft derer, die sich Gottes Regierung durch sein Wort gefallen lassen und die Jesus Christus als ihren Herrn anrufen, ihn loben und bitten: »Dein Reich komme …«.

Lit.: Urs Eigenmann: »Das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit für die Erde«. Die andere Vision vom Leben, Luzern 1998; Jürgen Moltmann: Trinität und Reich Gottes. Zur Gotteslehre, Gütersloh 31994; Oliver O’Donovan: The desire of the nations. Rediscovering the roots of political theology, Cambridge/New York 1996; Reich Gottes und Kirche, hg. von Joachim Heubach und Luther-Akademie (Veröffentlichungen der Luther-Akademie e.V. Ratzeburg), Erlangen 1988; Gerhard Sauter: Die Theologie des Reiches Gottes beim älteren und jüngeren Blumhardt, (Studien zur Dogmengeschichte und systematischen Theologie), Zürich [u.a.] 1962; John Howard Yoder: Die Politik Jesu — der Weg des Kreuzes, Maxdorf 1981.

Quelle: Ernstpeter Maurer (Hrsg.), Grundlinien der Dogmatik. Gerhard Sauter zum 70. Geburtstag, Rheinbach: CMZ, 287-301.

Hier der vollständige Text „Gottes Reich – der widerständige Trost seiner Verheißung“ als pdf.

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