Mein theologischer Lehrer Hans G. Ulrich wird am 5. November 75 Jahre alt. Bei ihm habe ich evangelische Ethik in göttlicher Verheißung gelernt, die einem religionistischen Autismus biblisch widerspricht. Ein schöner, feinsinnig geschriebener Text ist sein Aufsatz „Gottes Reich – der widerständige Trost seiner Verheißung“ (2005 erschienen in Ernstpeter Maurer, Grundlinien der Dogmatik), in dem es unter anderem heißt:
Die Hoffnung auf das Reich Gottes ist untrennbar verbunden mit Jesus Christus, mit seiner Verkündigung, seinem Wirken, seinem Leben und seiner Passion. Die Hoffnung auf das Reich Gottes bleibt gewiesen an Jesus, der als der »König der Juden« stirbt, und an den Jesus Christus, der zur Rechten Gottes sitzt und wiederkommt, um »zu richten die Lebenden und die Toten«, wie es im Apostolischen Glaubensbekenntnis ausgesprochen ist. Die Hoffnung auf Gottes Reich ist in diese Geschichte Jesu Christi aufgehoben. Sie steht gegen die Erwartung und Verzweiflung derer, die ihre Geschichte oder die Geschichte der Menschheit mit dem Reich Gottes verbunden sehen wollen. Mit der Verheißung des Reiches Gottes wird nicht der verborgene Sinn der Geschichte oder gar deren Vollendung, sondern eine andere Geschichte präsent: die Geschichte Gottes mit den Menschen, seinen Geschöpfen, denen er die Treue hält.
In dem Aufeinandertreffen biblischer Zeugnisse ist der Zusammenhang von Gottes Verheißung und Erfüllung angelegt, in dem sich der christliche Glaube und die christliche Hoffnung bewegen: die Hoffnung auf Gottes Reich ist getragen von der Erfahrung erfüllter Verheißung in dem gekommenen Christus und von dem Glauben an den auferstandenen Herrn, dem König – und umgekehrt: die Verheißung endgültiger Erfüllung in Gottes Reich trägt den Glauben an den gegenwärtigen Christus. Hier ist der Jesus Christus im Blick, der sich den Armen und Elenden zugewandt hat, der Krankheiten geheilt und Sünden vergeben hat.
Nicht die vielleicht bange Frage möglicher Perspektiven auf ein künftiges Gottes-Reich ist hier leitend, sondern die überreiche, das gegenwärtige Leben verändernde Präsenz erfüllter Verheißungen und die ihnen folgende, darin begründete Hoffnung auf weitergehende Erfüllung, die Gott selbst herbeiführt. Es geht nicht darum, daß etwa eine Kirche, die Christen oder das Christentum Gottes Wirken weiterführen, sondern es geht darum, daß sich diese Christen und die Gemeinde Jesu Christi ihrer Berufung würdig zeigen (Eph 4,1). Die Verheißung des kommenden Gottesreiches hat ihre Pointe ja gerade darin, daß nicht irgendein Reich in Aussicht steht, sondern daß Gott selbst — in der Einheit mit Christus — regiert. Die Hoffnung richtet sich auf den Gott, der schon bekannt und präsent ist, und auf ein Gottes-Reich, das bereits begonnen hat. Sein Fundament ist gelegt.
So kann der christlichen Gemeinde gesagt werden: »Und er gebe euch erleuchtete Augen des Herzens, damit ihr erkennt, zu welcher Hoffnung ihr von ihm berufen seid, wie reich die Herrlichkeit seines Erbes für die Heiligen ist, und wie überschwenglich groß seine Kraft an uns, die wir glauben, weil die Macht seiner Stärke bei uns wirksam wurde, mit der er in Christus gewirkt hat. Durch sie hat er ihn von den Toten auferweckt und eingesetzt zu seiner Rechten im Himmel über alle Reiche, Gewalt, Macht, Herrschaft und alles, was sonst einen Namen hat, nicht allein in dieser Welt, sondern auch in der zukünftigen. Und alles hat er unter seine Füße getan und hat ihn gesetzt der Gemeinde zum Haupt über alles, welche sein Leib ist, nämlich die Fülle dessen, der alles in allem erfüllt.« (Eph 1,18-23)
Die Hoffnung auf das kommende Gottesreich hat ihre Eigenart und Kraft darin, daß sie in Gottes Verheißung begründet ist und daß Gott selbst die Hoffnung auf sein kommendes Reich herbeigeführt hat. Gott hat die menschlichen Hoffnungen auf sich gezogen und an sich gebunden. Mit der Hoffnung auf Gottes kommendes Reich bleibt der christliche Glaube daran gewiesen, daß Gott nicht nur irgendwie im Hintergrund gedacht wird, als der Gott, der schließlich alles zusammenhält oder zum guten Ende führt. Vielmehr ist Gott mit seinem Wirken und Handeln präsent und kommt uns Menschen und dieser Welt mit seiner künftigen Regentschaft entgegen. So ist es nicht möglich, die Hoffnung auf das Gottes-Reich zu bewahren ohne die ganze Geschichte der Verheißungen und ihrer Bekräftigung durch Gott, die im Kommen Jesu Christi greifbar nahegerückt ist. Mit der Hoffnung auf Gottes kommendes Reich ist gegeben, daß unser ganzes gegenwärtiges menschliches Leben, mit allem, was es trägt und ausmacht, in Gottes regierender Hand ist. So können die Christen singen: »Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren … Lobe den Herren, der alles so herrlich regieret … Lobe den Herren, der deinen Stand sichtbar gesegnet« (EG, 316). Gottes kommendes Reich wird dieses Lob in einer neuen Welt bewahrheiten. Die Hoffnung auf Gottes kommendes Reich ist an diesem Vertrauen festgemacht, es ist eine erfahrene und begründete Hoffnung (Gerhard Saurer). Mit der Verheißung des kommenden Reiches Gottes findet der Glaube den Gegenhalt, den Trost in Gottes Wirken und Regieren. Dieser Gegenhalt steht allem Vertrösten entgegen.
Hier der vollständige Text „Gottes Reich – der widerständige Trost seiner Verheißung“ als pdf.