
Das dürfte wohl immer noch der klügste Lexikonartikel in Sachen Engel sein, den Michael Welker im Anschluss an seinen Aufsatz „Über Gottes Engel. Systematisch-theologische Überlegungen im Anschluß an C. Westermann und H. Gese“ (JBTh 2, 1987, 194-209) 1988 für das Wörterbuch des Christentums verfasst hat:
Von Michael Welker
Die Engel gelten in volkstümlich christlichen Traditionen als überirdisch geistige Wesen mit übermenschlichen Kräften. Neben den gefallenen Engeln sind es die guten und schützenden Engel, die in der Frömmigkeit aller Jahrhunderte eine große Rolle gespielt haben. Aus einer exegetisch und systematisch verantworteten Sicht ist auf vier Gesichtspunkte zu verweisen.
I. Die Engel markieren das Problem der Kontaktaufnahme Gottes mit dem Geschöpflichen (Botenangelologie). Durch den Engel Gottes tritt Gott, den die Himmel nicht fassen können, mit dem Geschöpflichen, das nicht überall zugleich sein kann, gezielt und konzentriert in Beziehung. Der Engel Gottes ist ein Bote Gottes. Im Alten Testament durchgehend, aber auch im Neuen Testament werden die Ausdrücke »Engel « und »Bote« gleichbedeutend gebraucht. In diesen Boten vergegenwärtigt sich Gott bestimmten Menschen in bestimmten Situationen. Deshalb können einige Texte des Alten Testaments Gott und den Engel Gottes auch identifizieren (Gen 16, Ri 6, Ri 13 u.ö.).
Während Menschen sich durch Boten gleichsam vervielfachen, an mehreren Orten zugleich präsent werden können, bedeutet Gottes Gegenwart in den Engeln eine Selbstzurücknahme, eine Selbstverendli-[289]chung. Der allgegenwärtige Gott zieht sich in dieser Offenbarung zusammen, konzentriert sich auf eine geschöpfliche Situation. Diese Selbstverendlichung Gottes wird nie auf Dauer gestellt und nie konkret wiederholt. Deshalb ist es den Engeln wesentlich, zu verschwinden und nicht wiederzukommen. Engel werden nicht seßhaft und sterben nicht. Sie sind nicht »natürlich« im Sinne von naturwissenschaftlich faßbaren und meßbaren Sachverhalten. Ihre Realität ist die des einmaligen Ereignisses. Mit dem Auftreten eines Engels werden die Grenzen der sogenannten natürlichen Sicht der Dinge »verschoben« oder »in Frage gestellt«. Der Engel Gottes erscheint inmitten von Schwierigkeiten, Spannungen in den natürlichen Lebensverhältnissen, inmitten von Bedrohung, Verrat, Hoffnungslosigkeit, Unterdrückung und Krieg. Er ermöglicht eine Infragestellung und Ablösung der alten Wirklichkeitswahrnehmung durch eine neue, die dann mehr oder weniger direkt zu einer Wirklichkeitsveränderung führt (z.B. Ri 6); oder er begleitet in Situationen ständiger Gefahr und unsicherer Erwartung (z.B. Ex 14,19; 23,20; 32,34). Anhaltende Bedrohung des gemeinsamen Lebens und anhaltende spannungsreiche Wirklichkeitserfahrungen sind Anlaß für den Eintritt des Engels ins menschliche, irdische Leben. Überraschende Geburtsverheißungen (besonders dort, wo die repräsentative Welt die familiäre Welt ist, z.B. Gen 16; Lk 1) oder politische Rettungsverheißungen sind charakteristisch für das Auftreten des Engels. Gegenwart und Zukunft werden nun neu sichtbar und anders gestaltbar.
II. Die Engel lassen die Fülle der himmlischen Herrlichkeit Gottes vorstellbar werden (Hofstaatangelologie). Die Macht und Herrlichkeit Gottes wird (in ihrer Unfaßbarkeit!) gespiegelt durch einen den Thron Gottes umgebenden Hofstaat. Die Engel um Gottes Thron sind unübersehbar zahlreich (z.B. Dan 7,10). Sie können ferner als Repräsentanten von Völkern, von Staaten, Epochen oder von Gemeinden gelten, die ihrerseits Zentren der Macht darstellen (z.B. Dan, Apk). Sie sind nicht nur aufmerksam auf Gott konzentriert, sondern »dienen« ihm, sind bereit, von Gott über sich verfügen zu lassen. Vor allem demonstrieren und realisieren sie die Macht und Herrlichkeit Gottes im Gotteslob, in der Verherrlichung. Diese Verherrlichung ist nicht nur als Anerkennung einer bestimmten Tat Gottes, als Zustimmung zu ihr oder als Dank dafür anzusehen. In der lobpreisenden Verherrlichung weisen himmlische (wie irdische) Wesen vielmehr über ihre eigene Wahrnehmung Gottes, über alle mit Gott gemachten Erfahrungen und damit auch über sich selbst hinaus. Das Gotteslob der Engel ist ansteckende Aufforderung zum Lob (z.B. Ps 148,2) und geht über alle dem Lobenden vertrauten Erfahrungsbereiche hinaus.
III. Die Engel drücken in der Gestalt der Sarafen und Cheruben die Unzugänglichkeit Gottes selbst, die Unheimlichkeit der direkten Annäherung an seine himmlische Präsenz für die Menschen aus. Die Sarafen (mit Löwenleibern und Flügeln) sind mehrgeschöpfliche Gestalten, sie lassen Elemente des Irdisch-Geschöpflichen erkennen, das aber in auf Erden unerlebter, ja unerlebbarer Weise zusammengefügt ist. Die Engel im Himmel stellen also eine Macht- und Wirklichkeitsverbindung und -fülle dar, der gegenüber die irdisch natürliche und kulturelle Geschöpflichkeit als arm, als Minderung, als Reduktion erscheinen muß. Nur in der Verherrlichung Gottes können die Menschen sich in die Verhältnisse des Himmels schon jetzt einbringen.
IV. Eine Verbindung der »Botenangelologie« und der »Hofstaatangelologie« findet sich Lk 2, indem die Geburt Jesu nicht nur von einem » Engel des Herrn« angekündigt wird, sondern auch mit dem Engel die »Menge der himmlischen Heerscharen« erscheint. Die Offenbarung Gottes in Jesus Christus überbietet und unterbietet die Vergegenwärtigung Gottes durch die Engel. In einer auch vom ewigen Gotteslob der himmlischen Heerscharen nicht ausgeschöpften Fülle hat Gott sich offenbart – aber doch zugleich in einem fleischlichen, vergänglichen und sterblichen Menschen. Doch auch angesichts dieser Offenbarung wird noch von der Gegenwart der Engel gesprochen. Sie sind nun begleitende Wesen, die den Übergang von der himmlischen in die irdischen, von der irdischen in die himmlischen Wirklichkeit kenntlich machen.
Lit.: K. Barth: Kirchliche Dogmatik III/3, § 51. – Thomas von Aquin: Summa Theologica I q 50-64. – M. Welker: Über Gottes Engel, Jahrbuch für Bibl. Theologie 2, 1987, 194-209. – C. Westermann: Gottes Engel brauchen keine Flügel, Stuttgart, 2. Aufl. 1980.
Drehsen/Häring/Kuschel/Siemers, Wörterbuch des Christentums, Gütersloh 1988, 288 f.