
Von Abraham Joshua Heschel (1907-1972), dem bekannten jüdischen Religionsphilosophen, stammt folgender
„Warum übersteigt die Bibel alles vom Menschen geschaffene? Warum hält kein Werk den Vergleich mit ihr aus? Warum gibt es kein Ersatz für die Bibel? Warum müssen sich alle, die den lebendigen Gott suchen, an sie wenden?
Man stelle die Bibel neben eines der wirklich großen Bücher die menschliches Genie geschaffen hat, und man wird beobachten, um wie viel kleiner sie waren im Vergleich mit der Bibel. Die Bibel sorgt nicht um ihre literarische Form, nicht um Schönheit der Worte, aber ihre absolute Erhabenheit tönt durch alle ihre Seiten. Ihre Verse sind so monumental, aber gleichzeitig so schlicht. […]
Die Größe der Bibel wird offenkundiger, wenn man sie im Rahmen der Universalgeschichte studiert, und ihre Hoheit wächst, je vertrauter der Leser mit ihr wird.
Unwiderlegbar, unzerstörbar, nie abgenutzt durch die Zeit wandert die Bibel durch die Zeitalter. Ohne Zögern schenkt sie sich allen Menschen, als ob sie jedermann auf Erden gehörte. Sie spricht in jeder Sprache und zu jedem Lebensalter. Sie befruchtet alle Künste, ohne mit ihnen zu konkurrieren. Wir alle leben von ihr, und sie bleibt unangetastet, unerschöpflich und ganz. In 3000 Jahren ist sie nicht um einen Tag gealtert. Sie ist ein unsterbliches Buch. Sie kann nicht der Vergessenheit anheimfallen. Ihre Kraft wird nicht geringer. Tatsächlich steht sie erst ganz am Anfang ihrer Wirksamkeit; die volle Bedeutung dessen, was sie sagt, ist kaum bis an die Schwelle unseres Bewusstseins gedrungen. Wie ein Ozean, auf dessen Grund zahllose Perlen schimmern, die darauf warten, dass man sie entdeckt, muss ihr Geist erst noch entfaltet werden. Obwohl ihre Worte einfach und ihre Sprechweise durchsichtig erscheinen, tauchen unausgesetzt neue Bedeutungen und Hinweise auf, von denen man sich nichts träumen ließ. Mehr als 2000 Jahre des Lesens und Forschens haben ihren vollen Sinn nicht entfalten können. Noch heute ist es, als sei sie nie angerührt, nie gesehen worden, als hätten wir nicht einmal damit begonnen, sie zu lesen. […]
Wahrlich, unzählige Kulte, Staaten und Reiche sind wie Gras dahingewelkt, zu Millionen sind Bücher begraben, aber: ‚das Wort unseres Gottes bleibt in Ewigkeit‘. In Zeiten großer Krisen versagen alle, allein die Bibel behauptet sich. […] Die Bibel ist nie hinter der Zeit zurück, sie ist unseren Bestrebungen um Menschenalter voraus.“
Quelle: Abraham Joshua Heschel: Gott sucht den Menschen. Eine Philosophie des Judentums (God in Search of Man. A Philosophy of Judaism, New York 1955), Neukirchen-Vluyn, 3. Auflage 1992, S. 184-187.