
Gerhard von Rads letzte Veröffentlichung zu Lebzeiten ist seine meisterliche Auslegung von Genesis 22,1-19, die 1971 im Christian Kaiser Verlag München (Kaiser Traktate 8) erschien. Darin resümiert er über die Erzählung von Abrahams Versuchung:
War bisher einiges von der Nacht einer Gottverlassenheit zu sagen, die Abraham umfangen haben mußte, so wäre die Erzählung doch völlig mißverstanden, wenn wir darin den Hauptgegenstand ihrer Darstellung sehen wollten. Im Gegenteil! Der Abgrund hat sich geschlossen, die Not wurde durchgestanden. Abraham hat die Bindung an Gott nicht abgeworfen, und dafür empfängt er aus dem Munde Gottes selbst das Ehrenprädikat eines Gottesfürchtigen, d. h. eines Gehorsamen. Aber noch mehr: Auf der Überwindung dieser Not liegt auch ein Segen. Das war doch das große Thema der zweiten Gottesrede. Jede durchgestandene Not hat wohl die Verheißung, zum Segen zu werden. Aber hier ist das doch anders gemeint: Der Vorhang hebt sich, und die Perspektive in eine unabsehbare Zukunft tut sich auf, denn der Segen dieses Gehorsams wird noch die fernsten Nachkommen erreichen. Hier ist Abraham nicht nur als Vorfahr gesehen. In der Rückschau der Späteren gewinnt er geradezu Heilsbedeutung für seinen »Samen«. Von jetzt ab kann sich jeder Nachkomme Abrahams sagen: Er hat’s durchgestanden, und du stehst im Genuß des Segens, der über ihm ausgerufen wurde. Gerade dieser letzte Aspekt wird den Christen bewegen. Er wird daran denken, daß das Neue Testament einer ganz anderen Gestalt eine Heilsbedeutung zuerkennt, die den abrahamitischen Segen weit überbieten wird.
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