
Norbert Lüdecke über die päpstliche Primatialgewalt
Wer wissen will, was die römisch-katholische Kirche im Unterschied zu anderen Kirchen ausmacht, muss sie als Rechtsgemeinschaft unter der päpstlichen Primatialgewalt verstehen. Wie diese Rechtsgemeinschaft gefasst ist und was sie für den einzelnen Christen austrägt, ist im Codex Iuris Canonici (CIC) von 1983 definiert. Aufschlussreich ist, was Norbert Lüdecke, katholischer Professor für Kirchenrecht in Bonn, über die päpstliche Primatialgewalt in seinem Lexikonartikel „Papst“ (aus dem Evangelischen Staatslexikon) schreibt:
„Der Papst besitzt die formal so qualifizierte Gewalt in ihrer ganzen Fülle. Dem Papst kommt die gesamte Gewalt Christi für seine Kirche auf Erden ohne jede Einschränkung zu. Die Vollgewalt mit ihren Funktionen der Gesetzgebung, der Rechtsprechung und der Verwaltung erstreckt sich auf die Glaubens- und Sittenlehre wie auf die gesamte kirchliche Rechtsordnung, auf Lehre und Disziplin.
- Verkündet der Papst als oberster Hirte und Lehrer aller Gläubigen (ex cathedra) eine offenbarte oder nach seiner Bestimmung eng mit der Offenbarung zusammenhängende Glaubens- oder Sittenlehre als endgültig verpflichtend, kommt ihm Unfehlbarkeit im Lehramt zu. So vorgelegten Dogmen (KKK 88) müssen die Gläubigen unter Strafe vorbehaltlos und unwiderruflich zustimmen (cc. 750, 1364, 1371 n. 1). Seinen übrigen Lehren und moralischen Urteilen über menschliche Dinge jedweder Art bzgl. der Grundrechte der Person und des Seelenheils darf nicht öffentlich widersprochen werden (cc. 752, 1371 n. 1).
- Der Papst ist höchster Gesetzgeber. Schranken sind nur das weder änder- noch dispensierbare göttliche Recht (ius divinum) und die anderen lehramtlich festgestellten Dogmen. Im Übrigen ist er Herr der Gesetze, kann sie ändern, aufheben, von ihnen befreien (Dispens) oder durch Sonder- oder Ausnahmerechte (Privilegien) ersetzen. Er legt seine Gesetze authentisch aus und ist an sie (nur) moralisch gebunden. Er legt die kirchliche Kompetenzordnung fest. Untergeordnete Gesetzgebung gegen päpstliche Gesetze ist ungültig (c. 135 § 1).
- Der Papst ist oberster Richter (c. 1442). Sein Urteil ist inappellabel (c. 333 § 3).
- Als oberster Inhaber der vollziehenden Gewalt regiert der Papst die gesamte Kirche, fördert ihr Gemeinwohl in höchster Verantwortlichkeit, leitet und überwacht den Vollzug der bestehenden Gesetze. Dazu bedient er sich der römischen Kurie (c. 360). Das kirchliche Leben überwacht er durch Apostolische Gesandte oder andere Beauftragte sowie persönlich, wenn die Diözesanbischöfe alle fünf Jahre zur Rechenschaftslegung vor ihm erscheinen müssen (c. 400). Verwaltungshandeln des Papstes ist nicht rekursfähig (c. 333 § 3).“

Über die Eigenart des Codex Iuris Canonici (CIC) schreibt Lüdecke in seinem diesbezüglichen Lexikonartikel (ebenfalls aus dem Evangelischen Staatslexikon):
„A. Der CIC ist die wichtigste rechtliche Transformation des II. Vatikanischen Konzils. Die vom Initiator gewünschte und vom Erlasser konstatierte Übereinstimmung von Konzil und Codex ist mit der primatialen Promulgation verbindlich beurteilt. Das Konzil kann gegen den CIC nicht angerufen werden.
B. In gewollter Kontinuität zu der neuzeitlich-absolutistische Gesetzgebungstechnik nachahmenden erstmaligen Kodifikation von 1917 ist der CIC genetisch wie konzeptionell Zeuge und verfeinerter Garant der päpstlichen Zentralgewalt. In der Diktion des zweiten Vatikanums bleibt die Ekklesiologie des ersten bestimmend.
C. Der CIC ist unhintergehbarer Ausdruck des amtlichen Selbstverständnisses der römisch-kath. Kirche, als Glaubens- zugleich Rechtsgemeinschaft zu sein.
D. Aufgrund der in kath. Sicht inneren Verbundenheit von Christusbeziehung und Kirchlichkeit verwirklicht sich Heilsteilhabe durch Rechtsgefolgschaft (cc. 748, 205, 209, 1752). Unter diesem Vorbehalt und zu diesem Zweck kommen den Gläubigen an Pflichten gekoppelte Rechte zur Mitwirkung an der kirchlichen Sendung (cc. 209, 223 § 1) zu. Die Ausübung der Rechte steht unter hierarchischer Kuratel (c. 223 § 2). Sie sind weder Grund- noch Freiheitsrechte im staatlichen Sinn.
E. Die wahre Gleichheit der Gläubigen meint die gleiche Taufwürde, nicht Gleichberechtigung (c. 208).
F. Das kanonische Recht ist konstitutiv staatsanalog-vordemokratisches Recht. Weil auf die Umsetzung des lehrmäßig bestimmten Gemeinwohls, die salus animarum, zielend, ist es materiales und zugleich moralisches, im Gewissen verpflichtendes, auf die ganze Person zugreifendes Recht (cc. 210, 750, 752 f., 1249). Wegen der Letztverantwortung der Hirten für die Ermöglichung der salus animarum ist es pastorales Recht. Weil es im göttlichen Recht gründet und dessen Schutz vor Missbrauch durch den dominus canonum gläubig dem Heiligen Geist überlassen wird, ist es geistliches Recht.“
Was eine „korrekte Kanonistik“ (vgl. c. 16 § 1: „Gesetze interpretiert authentisch der Gesetzgeber und derjenige, dem von diesem die Vollmacht zur authentischen Auslegung übertragen worden ist.“) bezüglich des Codex Iuris Canonici zur Darstellung bringen muss, findet sich in Norbert Lüdecke/Georg Bier, Das römisch-katholische Kirchenrecht. Eine Einführung (Stuttgart, Kohlhammer 2012).