Gerhard von Rads letzte Veröffentlichung zu Lebzeiten ist seine meisterliche Auslegung von Genesis 22,1-19, die 1971 im Christian Kaiser Verlag München (Kaiser Traktate 8) erschien.
Von Gerhard von Rad
Die alte Erzählung und der heutige Leser
Die biblische Geschichte, herkömmlich überschrieben »Die Opferung Isaaks« (1. Mos. 22,1-19), gehört zu denjenigen alttestamentlichen Stoffen, deren sich auch noch viele Heutige erinnern. Hätte man die Unterweisung im Religionsunterricht vergessen, so blieben immer noch die Bilder in den Gemäldegalerien aller Kulturländer, die es uns zeigen, daß es einmal einen Mann gab, der von Gott den Befehl erhielt, seinen eigenen Sohn auf einem Altar zu opfern. Aber um wesentlich mehr als um eine vage Erinnerung handelt es sich bei den meisten Menschen wohl kaum. Sie schleppen ja eine wahre Last von unnützen Erinnerungen mit sich herum, an das, was sie von ihren Eltern gehört, oder wovon ihre Lehrer gesprochen haben. Das liegt nun bei ihnen herum ohne jeden Bezug zu ihrem eigenen Leben. Die alte Geschichte hat eben aufgehört, die Menschen anzusprechen. Heißt das, daß ihre Aussagekraft überhaupt erloschen ist? Tatsächlich glaubt man die Zeit absehen zu können, in der das, was zum Erinnerungsballast herabgesunken ist, eines Tages ganz aus dem Gedächtnis der Menschen entschwinden wird. Aber nicht überall vollzog sich das langsame Entschwinden dieser Erzählung aus der geistigen Welt der Heutigen so lautlos und unsensationell. Schon seit langem — das »Jahrhundert des Kindes« begann ja schon um 1900! — muß es sich Kirche und Schule sagen lassen, daß es eine seelische Roheit sei, eine solche Geschichte in die Vorstellungswelt eines Kindes hineinzugeben. Muß nicht von da ab das Kind in der ständigen Furcht leben, sein eigener Vater könnte eines Tages ebenso gehorsam sein, wie es Abraham war? Denen, die so polemisieren, wird man immerhin das zubilligen müssen, daß sie auf ihre Weise etwas von dem Aufregenden dieser Geschichte gesehen haben — deutlicher vielleicht als viele, die nichts gegen sie einzuwenden hatten. Nein, [8] eine Erzählung wie diese kann nicht weitergegeben werden, einfach, weil es herkömmlich ist. Man muß schon genau wissen, worum es da geht und was man da sagt. Immer aufs neue muß man sich darüber Gedanken machen, inwiefern denn auch wir Heutigen gerade dieser Geschichte bedürfen.
Nun ist es freilich eine sehr verschiedene Sache, ob ich eine Erzählung von einem zeitgenössischen Autor lese, oder ob sie aus einer so fernen Vergangenheit stammt. Im ersteren Fall wird mich der Erzähler, vorausgesetzt, er versteht sein Handwerk, so treffen, daß ich mir über die Art seiner Darstellung, je bezwingender er spricht, kaum Gedanken mache und mich ganz der beschworenen Sache hingebe. Im anderen Fall bedarf es — man mag es nennen wie man will — einer gewissen Bildung, einer gewissen Schulung, um das Alte, dem doch immer auch ein Beisatz des Fremdartigen anhaftet, zu verstehen. Sind wir durch die christliche Überlieferung mit dem Stoffe noch vertraut, so ist das zunächst natürlich ein Vorteil, weil wir dann schon diese Schulung im Verstehen mitbringen. Eine solche Vertrautheit ist aber doch nicht nur hilfreich. Sie führt den Leser zugleich auch in eine Gefahrenzone, insofern das Allzuvertraute auch zum Hindernis werden kann, das sich zwischen dem Leser und dem alten Text aufrichtet; denn wo immer man sich ein bestimmtes Verständnis zurechtlegt und wo man sich darin eingelebt hat, besteht die Gefahr, daß etwas vereinnahmt worden ist, das eigenwilliger und vielleicht auch schwieriger ist.
Die Geschichte der Auslegung unserer Erzählung ist geschrieben.[1] Sie zeigt, wie die Erzählung durch viele Zeiten und Kulturen gewandert ist und wie sie, angeleuchtet von sehr verschiedenen Fragestellungen, jeweils auch auf eine verschiedene Weise zu ihren Lesern sprach. Es ist bewegend zu sehen, wie sie sich dem Gespräch mit [9] Menschen stellte, die unter den unterschiedlichsten religiösen Horizonten lebten, und wie vielerlei Wahrheit sie für sie alle aus sich zu entlassen vermochte. Allen, die ernsthaft nach Erkenntnis fragten, stellte sie sich, und in der Sprache vieler geistiger Epochen wußte sie zu reden. Sie hat in der Zeit der alten Kirche in Alexandrien anders geredet als im Mittelalter und in der Zeit des protestantischen Liberalismus zu Beginn unseres Jahrhunderts anders als zu den Theologen der lutherischen Orthodoxie im 17. Jahrhundert. Keiner sage, daß das doch ganz einfach zu erklären sei: jede Zeit habe eben ihre Vorstellungen und Probleme in sie hineingelesen und habe so im Grunde nur ein Gespräch mit sich selbst geführt. So einfach ist die Sache doch nicht. An diesem Einwurf ist nur das richtig, daß jede Zeit aus dem Horizont ihrer bestimmten Verstehensmöglichkeiten heraus an die Erzählung herangetreten ist. Aber die Erzählung hat doch nie aufgehört, für sie ein Gegenüber, ein echter Gesprächspartner zu sein. Natürlich war die Intensität dieser Begegnungen, dieser Dialoge mit der alten Erzählung nicht zu allen Zeiten gleich stark. Zeiten eines mehr konventionell gewordenen Verständnisses werden gelegentlich unterbrochen von einer Auslegung, in der sich die in der Erzählung schlummernde Gewalt rücksichtslos und geradezu eruptiv Ausdruck verschaffte. Das sind dann Deutungen, die sich auch turmhoch über die Verstehensmöglichkeiten ihrer eigenen Zeit erheben. Luther und Kierkegaard, von deren Auslegung wir in diesem Büchlein einige Proben geben, sind aber nicht die einzigen Beispiele für die Urgewalt, mit der die Erzählung ihren Ausleger unversehens überfallen kann. Aber auch in diesen Auslegungen von größtem Format ist die Erzählung nicht in ihrer ganzen Breite zu Wort gekommen. Auch da waren es immer nur, wie sich leicht zeigen ließe, bestimmte Aspekte, in denen sie den Auslegern so groß wurde. Aber was heißt bei dieser Erzählung »ihre ganze Breite«, ihr ganzer Gehalt? [10]
Wenn wir uns nun anschicken, die Erzählung — gelinge es wie es wolle — zu uns reden zu lassen, so wäre es gewiß nicht gut, wenn wir uns nicht immer auch dessen bewußt blieben, daß sie schon vor uns den Sinn vieler Generationen, vieler geistiger Epochen beschäftigt hat. Niemand wird es in den Sinn kommen, mit jenen Großen, Einsamen in der Geschichte der Auslegung, von denen wir eben sprachen, zu konkurrieren. So auszulegen, das kann man sich nicht vornehmen. Das sind Widerfahrnisse in der Tiefe des Geistes von Auslegern, die es vermochten, auf eine einzigartige Weise der Erzählung in sich Raum zu geben, deshalb nämlich, weil sie selbst tiefer als andere an Gott gelitten haben. So sehr uns ihre Auslegungen bewegen, weil sie uns zeigen, in welche Dimensionen hinaus das Gespräch mit dieser Erzählung führen kann — im Letzten sind sie nicht wiederholbar. Zu tief wurzelt dieser Dialog in der religiösen Not und in der Hoffnung gerade dieser Menschen und ihrer Zeit. Jedenfalls können sie uns unseren eigenen Dialog mit der Erzählung, den wir aus unseren heutigen Verstehensmöglichkeiten heraus führen müssen, nicht abnehmen, auch nicht auf die Gefahr hin, daß er viel dürftiger ausfällt. Wir haben allen Grund, uns zu fragen, ob die Erzählung uns Heutige überhaupt schon richtig angeredet hat.
Eines trennt nämlich die Heutigen ziemlich grundsätzlich von denen, die sich früher mit der Erzählung beschäftigten. Ob sie sie auslegten oder als Maler bildhaft darstellten — sie war für sie eine Autorität, einfach weil sie sie für wahr hielten. Sie zweifelten nicht an der Wahrheit des Geschehens und wußten auch, daß diese Wahrheit in irgendeinem Sinne sie selber betraf. Sie glaubten an denselben Gott, von dem auch die Erzählung redete. Sie wußten sich von einer Welt umfangen, die noch im Zeichen der gleichen Verzweiflungen und der gleichen Tröstungen stand, wie die der Menschen der Bibel. Das schließt nicht aus, daß sie sich an der [11] Erzählung stießen, ja sich über sie entsetzten. Gerade deshalb entsetzten sie sich ja über sie, weil ihnen die — sei es begriffene, sei es unbegreifliche — Wahrheit des Erzählten feststand. Darum gerade ging es bei dem Erzählten auch für sie um Tod und Leben. Viele werden sich auch heute noch im Geist in die Einstellung dieser Ausleger hineinversetzen können; sie werden sich aber nicht darüber täuschen, daß der Wahrheitsanspruch der Bibel einer solchen Vorgabe an Vertrauen, vollends einer solchen Bereitschaft, sich ihm zu unterwerfen, heute nicht mehr begegnet. Man nimmt von ihr nur mit Vorbehalten und nur wahlweise Kenntnis. Und oft genug verschanzt sich hinter dem Lesen der Heutigen etwas wie eine Abwehr. Jedenfalls, der Weg zum Ohr der Menschen ist inzwischen viel weiter geworden. Darin aber liegt zugleich auch die große Chance, diesem Wahrheitsanspruch wieder neu zu begegnen.
Es gibt heute eine Reihe von Arbeiten, die eine Deutung unserer Erzählung einem breiteren Leserkreis anbieten.[2] Da ist viel Nützliches und Wichtiges gesagt. Aber, wie unberührt, wie wenig bedrängt sind sie im Grunde von der Gewalt der Aussage, die frühere Ausleger zugleich fasziniert und abgestoßen hat! Von dem Entsetzen, das hinter Luthers Auslegung oder hinter Rembrandts Zeichnungen steht, ist wenig zu spüren. Wer sich auf diese Erzählung einläßt, muß darauf gefaßt sein, daß er immer wieder wie vor einem Abgrund zurückschaudert. Als Isaak, wieder nach Hause gekommen, seiner Mutter von all dem Erlebten berichtete, da — so steht es in einer spätjüdischen Überlieferung — habe Sara sechs Schreie ausgestoßen und sei gestorben![3] [12]
Der Text der Erzählung
(1) Nach diesen Ereignissen geschah es, daß Gott den Abraham versuchte und zu ihm sprach: »Abraham!« Er antwortete: »Hier bin ich«. (2) Er aber sprach: »Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du lieb hast, den Isaak und begib dich in das Land Moria und bring ihn dort auf einem der Berge, den ich dir ansagen werde, als Brandopfer dar.« (3) Da machte sich Abraham am Morgen frühe auf, sattelte seinen Esel, nahm seine beiden Burschen mit sich und seinen Sohn Isaak. Er spaltete Holz zum Brandopfer und machte sich auf und ging an den Ort, den ihm Gott angesagt hatte. (4) Als Abraham am dritten Tag seine Augen aufhob, da sah er den Ort von ferne. (5) Da sprach Abraham zu seinen Burschen: »Bleibt hier bei dem Esel. Ich aber und der Knabe, wir wollen dorthin gehen, um anzubeten und dann wieder zu euch zurückkommen.« (6) Dann nahm Abraham die Holzscheite fürs Brandopfer und lud sie seinem Sohn Isaak auf. Er aber nahm das Feuer in seine Hand und das Messer. So gingen die beiden miteinander. (7) Da sprach Isaak zu seinem Vater Abraham: »Mein Vater!« Er antwortete: »Hier bin ich, mein Sohn.« Und er sprach: »Hier ist Feuer und Holz, wo aber ist das Schaf zum Brandopfer?« (8) Abraham antwortete: »Gott wird sich ein Schaf zum Brandopfer ersehen, mein Sohn.« So gingen die beiden miteinander.
(9) Als sie an den Ort gekommen waren, den Gott ihnen angesagt hatte, da baute Abraham daselbst den Altar, er schichtete die Holzscheite zurecht, er band seinen Sohn Isaak und legte ihn oben auf die Holzscheite. (10) Dann streckte Abraham seine Hand aus und nahm das Messer, um seinen Sohn zu schlachten. (11) Da rief ihn der Engel Jahwes vom Himmel herab an und sprach: »Abraham, Abraham!« Er antwortete: »Hier bin ich.« (12) Und er sprach: »Strecke deine Hand nicht [13] aus nach dem Knaben und tu ihm nichts an, denn jetzt weiß ich, daß du gottesfürchtig bist, da du deinen Sohn, deinen einzigen mir nicht vorenthalten hast.« (13) Als Abraham seine Augen aufhob und hinschaute, siehe, da hatte sich ein Widder mit seinen Hörnern hinten im Gestrüpp verfangen. Da ging Abraham hin, holte den Widder und brachte ihn anstelle seines Sohnes als Brandopfer dar. (14) Dann benannte Abraham jenen Ort »Jahwe sieht«, so daß man heute noch sagt: »Auf dem Berge, wo Jahwe gesehen wird.«
(15) Da rief der Engel Jahwes den Abraham zum zweiten Mal vom Himmel her an (16) und sprach: »Ich schwöre bei mir, ist der Spruch Jahwes, darum, daß du das getan hast und mir deinen einzigen Sohn nicht vorenthalten hast, (17) will ich dich reichlich segnen und deine Nachkommenschaft überaus zahlreich machen wie die Sterne des Himmels und wie den Sand am Ufer des Meeres; und deine Nachkommenschaft soll das Tor deiner Feinde besetzen. (18) Und mit deiner Nachkommenschaft sollen sich segnen alle Völker der Erde, weil du auf meine Stimme gehört hast.«
(19) Dann kehrte Abraham zu seinen Burschen zurück, sie brachen auf und gingen zusammen nach Beerseba. Und Abraham blieb in Beerseba wohnen.
Die Erzählung und ihre Merkmale
Es ist eine bewährte Regel der Ausleger, daß sie ihren »Text« zuerst einmal auf ganz äußerliche Merkmale hin befragen. Ernstlich versehrt scheint die Erzählung nicht zu sein; nirgends ist eine Textlücke, die auf einen Verlust schließen ließe, nirgends eine Passage, die schwer oder gar nicht übersetzbar ist. Gleich am Beginn rückt der Erzähler seine Geschichte eng an frühere Widerfahrnisse Abrahams heran. Das geschieht freilich nur sehr [14] allgemein und unpräzise, denn an welche »Ereignisse« dabei zu denken ist, wird nicht deutlich. Zweierlei ist daraus zu schließen. Wurde die Erzählung so locker, ja vage mit den vorausgegangenen Abrahamsgeschichten verbunden, so hat sie vorher einmal sicher für sich allein existiert. Andererseits ist klar, daß diese Bemerkung an ihrem Anfang die Erzählung in den großen Zusammenhang der Abrahamsgeschichten stellt, so daß sie jetzt in diesem Zusammenhang verstanden werden soll.
Wirklich auffällig ist aber der Schluß der Erzählung, denn auf den Anruf des Engels und auf die Benennung des Ortes durch Abraham, die sich doch wie ein Abschluß des Ganzen liest, ergreift der Engel unvermittelt »zum zweitenmal« (V 15) das Wort. Aus dem Engel redet ganz direkt das Ich Jahwes; er ist also für eine irdische Erscheinungsform Jahwes selbst zu halten. Hatte sich der erste Anruf Gottes darauf beschränkt, dem Abraham das Prädikat der »Gottesfurcht« zuzuerkennen, so holt der zweite, sich beinahe schon zu einer Rede entfaltend, viel weiter aus. Feierlich, fast schwelgend in Worten wird über Abraham die alte Verheißung erneuert, daß er zum großen und mächtigen Volk werden soll und daß sich in seiner Nachkommenschaft segnen werden alle Völker der Erde. Hier hat sich das Thema sichtlich gewandelt, denn die Auswirkung der Tat Abrahams weist jetzt in eine andere Richtung. In einer älteren Fassung war es der Erzählung darum zu tun, an einem extremen Fall zu zeigen, was es bedeuten kann, »gottesfürchtig« zu sein. Hier beschäftigt sich also der Erzähler mit dem Humanum Abrahams, das er zu vorbildlicher Bedeutung erhebt. Hinter dem Abschnitt V 15 bis 18 dagegen steht nicht mehr die Frage, wie denn der Mensch vor Gott recht ist. Jetzt wendet sich der Blick in die Zukunft. Der Erweis dieser Gottesfurcht bleibt keine Episode zwischen Abraham und seinem Gott. Er hat die Verheißung eines überschwenglichen Lebens für ferne Generationen. Übrigens ist auch ein Stilbruch hin-[15]ter V 14 unverkennbar. Die Sprache dieses festlichen Finale ist eine völlig andere als die der eigentlichen Erzählung. Sie ist geradezu superlativisch und somit der ausgesprochen verhaltenen Sprache der eigentlichen Erzählung entgegengesetzt. Kurz, heute zweifelt wohl niemand mehr daran, daß man die Verse 15-18 für einen jüngeren Zusatz halten muß. Daß er aus Redewendungen besteht, die wörtlich oder fast wörtlich in anderen Zusammenhängen der Vätergeschichten wiederkehren, hat diese nachträgliche Weiterung in den Augen nicht weniger Ausleger entwertet. Wollte man an die Passage nur den Maßstab geistiger und künstlerischer Originalität anlegen, so würde sie tatsächlich schlecht abschneiden. Aber in theologischer Hinsicht kann es nicht gleichgültig sein, wenn die Erzählung von einer späteren Hand in den Horizont eines bekannten religiösen Vorstellungskreises, eben des von der Erzväterverheißung gerückt wurde. Stellt sich hier nicht eine verhältnismäßig tief einschneidende Neuinterpretation ,der alten Erzählung vor? (Siehe unten S. 33 und 37)
Bliebe nur noch — wir erwähnen nur das Wichtigste — das Moria-Problem in V 2. Im hebräischen Text ist zwar keine Unebenheit oder sonst ein Bruch zu bemerken. Aber schon das wiegt schwer, daß wir, die wir den geographischen Umkreis der Abrahamsgeschichten einigermaßen kennen, von einem »Land Moria« nichts wissen. Tatsächlich hat es nie ein »Land Moria« gegeben. Ebenso auffällig ist es, daß schon die alten Übersetzer das Wort Moria gar nicht gelesen zu haben scheinen. Leider können sie uns mit ihrer Übersetzung auch nicht weiterhelfen. So erscheint es sicher, daß an dieser Stelle noch in verhältnismäßig später Zeit herumgeschrieben wurde und daß eine ältere Ortsangabe nachträglich übermalt wurde. Einen Berg Moria erwähnt das junge Chronistische Geschichtswerk und meint damit den Berg, auf dem Jahwe in Jerusalem dem David erschienen und wo dann der Tempel gebaut worden war [16] (2. Chron. 3,1). So ist die Annahme wohl kaum zu umgehen, daß man in einer späteren Zeit, die wir leider nicht mehr bestimmen können, der Meinung war, daß der Ort, an dem Isaak auf den Altar gelegt worden war, der Berg des späteren salomonischen Tempels in Jerusalem war. Demnach haben also in einer viel späteren Zeit (priesterliche?) Kreise in der Hauptstadt diese Abrahamserzählung als eine spezifisch altjerusalemische Überlieferung verstanden.
Diese Spuren einer nachträglichen Bearbeitung lassen nur ahnen, wie diese Erzählung Israel beschäftigt hat und wie man ihr auf verschiedene Weise einen Sinn abzugewinnen versuchte. Trotzdem wäre es falsch, wenn man annehmen wollte, daß die Erzählung sozusagen dauernd in Bewegung gewesen sei und daß es deshalb wenig Sinn habe, bei einem so anonym durch die Zeiten gehenden Stoff sich auf eine bestimmte Ausgestaltung zu konzentrieren und gar nach deren Verfasser zu fragen. Unbeschadet der erwähnten Änderungen stellt sich die Erzählung nach Stil und Inhalt in einer Geschlossenheit dar, die auf alle Fälle das Ergebnis eines starken Kunstwillens ist. Derlei entsteht bei der Weitergabe von Erzählungsstoffen nicht von selber. Eine solche Erzählung kann nur von einem einzelnen Erzähler gestaltet worden sein und zwar, wie wir noch sehen werden, von einem Erzähler höchsten Ranges. Daß wir seinen Namen nie erfahren werden, wundert den nicht, der etwas von den Literaturen alter Völker weiß. Schwerer schon fällt es ins Gewicht, daß das ganze Alte Testament keine Andeutung darüber enthält, wie wir uns den Stand solcher Erzähler vorstellen müssen. Beneidenswert die Homerforschung, die sich heute nach langem Zögern wieder in der Lage sieht, die Ilias dem Homer als einer geschichtlichen Dichterpersönlichkeit zurückgeben zu können! Wir können leider nur sagen, daß die Erzählung dem Elohisten zugehört, jener pentateuchischen Quellenschrift, die wir wegen bestimmter [17] Merkmale von dem sogenannten Jahwisten trennen. Wir haben also zur Bezeichnung für diese großen literarischen Quellenwerke nicht viel mehr als eine wissenschaftliche Chiffre anzubieten. Setzen wir die Abfassung dieser Sammelwerke etwa um 900 v. Chr. an, so bedeutet das, daß schon für sie die Ereignisse der Väterzeit der fernsten Vergangenheit zugehörten. Deren Zeit auch nur einigermaßen genau zu bestimmen, ist fast aussichtslos, denn einige wandernde Kleinviehnomaden haben natürlich keine erkennbaren Spuren in der Geschichte hinterlassen. Setzt man die Zeit Abrahams, wie das vorgeschlagen wurde, schon in die erste Hälfte des zweiten vorchristlichen Jahrtausends, so muß man sich klar machen, daß mindestens sechs Jahrhunderte zwischen ihm und unseren Abrahamerzählungen liegen! Aber auch wenn man Abraham wesentlich später ansetzt, so sind es immer noch Jahrhunderte, die zwischen den Genesiserzählungen und ihrem Gegenstand liegen. Aber wie man auch den Abstand bestimmen mag — diese Erzähler waren ja überhaupt nicht am historisch Authentischen interessiert. Vielmehr stellten sie die Ereignisse der Vergangenheit ganz unbefangen in den Horizont der religiösen Vorstellungen ihrer eigenen Zeit hinein. Gewiß haben sie sich dabei auf älteres Überlieferungsmaterial gestützt; aber wir sind noch weit davon entfernt, uns vorstellen zu können, wie sie mit dem älteren Material umgegangen sind, was sie etwa dazugetan und wie sie es geprägt haben. Man mag den Anteil der Sammler an den Stoffen hoch oder relativ gering einschätzen, fest steht auf alle Fälle, daß eine so bunte Welt von Erzählungen nicht dem künstlerischen Gestaltungstrieb einiger weniger origineller Köpfe entspringt. Sie setzt in jedem Fall eine auf breiter Basis gepflegte Erzählerkultur voraus, deren Träger wir nur ahnen können. Insofern ist also die Geistigkeit und die künstlerische Gestaltung unserer Geschichte eben doch nicht das ausschließliche »geistige Eigentum« eines Erzählers. [18] Wir wollen zunächst an unserer Geschichte einige charakteristische Merkmale dieses hebräischen Erzählens bedenken.
Den hebräischen Erzählungsstil, sonderlich in den Erzvätergeschichten, glauben wir gut zu kennen; er liegt uns derart im Ohr, daß wir ihn — würde man uns raten lassen — mit Leichtigkeit aus vielen Beispielen aus dem Bereich anderer Literatur heraushören würden. Aber das heißt noch nicht, daß wir nun auch Auskunft geben könnten über die charakteristischen Merkmale dieses Erzählens, also darüber, wie hier dargestellt, wie hier, etwa im Unterschied zu ganz anderen Möglichkeiten der Darstellung, eine Wirklichkeit erzählerisch beschworen wird.
In dieser Frage hat uns eine kleine Studie einen erheblichen Schritt weitergeführt, nämlich eine genaue Vergleichung einer von Homer erzählten Szene gerade mit unserer Geschichte von Abrahams Opfer.[4] Bei Homer — es handelt sich um die Szene, wie der heimgekehrte Odysseus zuerst von der alten Schaffnerin beim Waschen seiner Füße erkannt wird — bei Homer geht die Darstellung unvergleichlich mehr ins Einzelne; der äußere Raum, in dem sich das Geschehen begibt, wird aufs genaueste ausgemalt. Auch die Nebenumstände werden bis in alle Winkel ausgeleuchtet und erscheinen in präzisen Konturen. Nichts, auch nur beiläufig Erwähntes, soll im Dunkel bleiben; alles wird ins Helle, Vordergründige gerückt, wird »tastbar und sichtbar«. Das betrifft aber nicht nur die äußeren Umstände. Ebenso werden auch die Gefühle und die Gedanken der handelnden Personen ausgebreitet. »Ohne Rest« teilen sie das mit, was sie gerade bewegt. Mit einem Wort, Homers Bestreben geht dahin, möglichst alles, was geschieht und was vorhanden ist, dem Dunkel zu entreißen und es anschaulich darzutellen. [19]
Wie völlig anders liegen die Dinge bei unserem biblischen Erzähler! Im Unterschied von Homer ist hier »ohne jeden sinnlichen Zauber« erzählt. Schon der Anfang läßt eine Reihe von Fragen unbeantwortet. Wo befand sich Abraham, als er angerufen wurde? Im Hause, auf dem Felde? Geschah es tags oder nachts? Vor allem aber: wie sollen wir uns den Vorgang des Anrufs vorstellen? Als eine Gotteserscheinung, oder als den Ruf einer inneren Stimme, oder geschah es im Traum? Auch das »hier, ich!« Abrahams sagt ja über den Ort gar nichts aus; es bezeichnet überhaupt keine äußere Lokalität, sondern, wie man richtig gesagt hat, »den moralischen Ort« Abrahams vor Gott, seine Bereitschaft, zu hören und zu handeln. Dann waren Vater und Sohn mit ihren Knechten drei Tage unterwegs. Auch hier bleibt, angefangen beim Landschaftlichen, alles unanschaulich; es ist »wie ein Schreiten durchs Unbestimmte«. Am dritten Tage »hob Abraham die Augen auf« und sah »die Stelle von ferne«. Das ist alles, was wir über das Landschaftliche erfahren. Es mußte das am Morgen gewesen sein, denn an diesem Tag mußte die Stelle ja noch erreicht, ein Berg bestiegen und mußten auch alle Vorbereitungen zur Darbringung eines Opfers getroffen worden sein. Wohl hat der Erzähler einiges getan, um gerade die lange Wanderung unvergeßlich zu machen. Man stutzt doch ein wenig, wenn uns der Erzähler trotz seiner strengen Beschränkung auf das Notwendigste so genau über die Verteilung der mitzunehmenden Gegenstände informiert. Das Brennholz wird Isaak zugewiesen, Abraham selbst trägt das Gefährliche, an dem sich der Knabe verletzen könnte: das Messer und das Feuerbecken. So weich, so fürsorglich war der Mann, der sich zu einer Tat von unvorstellbarer Härte rüstete!
Und dann das Gespräch, das der Knabe — offenbar nach langem Schweigen — eröffnete. Isaak ist kein kleines Kind mehr; er weiß Bescheid und stellt eine Frage, [20] der er offenbar lange nachgehangen ist: Alles ist für diese Unternehmung bedacht worden; aber wo ist denn das Opfertier? Wer meint, hier sei der Ort, an dem der Erzähler endlich einen Blick in das Innere der beiden Wanderer tun läßt, wird enttäuscht sein, denn nichts dergleichen geschieht. Aber würde uns das Gespräch ebenso ans Herz greifen, wenn der Knabe von seiner Angst und der Alte von seiner Bedrängnis gesprochen hätte? Das ist doch das Wunderbare, daß es eigentlich ein Alltagsgespräch ist, das über Abgründe hingeht und das Schreckliche nur gerade und beinahe ahnungslos an- rührt. Über die Antwort des Alten auf die kluge Frage des Kindes hat man viel nachgedacht. Und wahrhaftig, das soll man auch. »Gott wird sich das Lamm zum Opfer ersehen«. Ist das nun eine Notlüge, oder umgekehrt der Ausdruck von Abrahams unerschütterlicher Gewißheit, daß alles zuletzt doch noch ein günstiges Ende nehmen werde? Keines von beidem! Abraham weicht der Frage nicht aus; er sagt wirklich die Wahrheit, die freilich das Kind nicht verstehen kann. Aber das Wunderbare ist, daß er dabei unbewußt doch zugleich mehr Wahres sagt, als auch er verstehen kann. Von da ab wird nichts mehr gesprochen. Bei der Zurichtung des Opfers geht der Erzähler noch einmal sehr ins Einzelne. Es ist, als verlangsame sich das Tempo des Erzählens von Wort zu Wort: Der Altar wird gebaut, das Holz aufgeschichtet, Isaak wird gebunden und auf den Altar gelegt. Dann — noch langsamer, denn das Auge hängt jetzt an jeder Bewegung! — streckt Abraham die Hand aus, und er ergreift das Messer, um Isaak zu schlachten. In der nächsten Sekunde mußte das Messer das Kind treffen.
Nun dürfen wir uns natürlich nicht damit begnügen, einiges Charakteristische dieser Erzählweise nur eben festgestellt zu haben. Es müßte noch deutlicher werden, welche Gründe wohl dafür bestimmend waren, daß das Geschehen gerade so und nicht anders dargestellt wurde [21] und wohin die Erzählung, gerade so wie sie ist, den Leser führen will. Die Frage würde sich natürlich erledigen, wenn wir die Charakteristika der Erzählung einfach negativ, also mehr als Unbeholfenheiten zu beurteilen hätten, also gewissermaßen als eine letztlich dann doch unbefriedigende Vorstufe jener Beherrschung aller darstellerischen Möglichkeiten, in deren Vollbesitz wir Homer sich so überlegen bewegen sehen. Man kann getrost sagen, daß auch unser Erzähler auf seine Weise in der Darstellung von etwas Geschehenem und Erlebtem etwas Äußerstes erreicht hat. Und ebenso sicher ist, daß unser Erzähler nicht wählen konnte zwischen verschiedenen Möglichkeiten der Darstellung, daß er das, was er zu sagen hatte, nicht im homerischen Stil hätte sagen können. Seine Darstellung ist also von der Sache, die er im Auge hat, unmöglich zu trennen. Man hat gesagt, daß diese Erzählweise »hintergründig« ist. Während Homer alles ins Licht des Vordergrundes rückt und den Dingen, Worten und Gefühlen deutliche Konturen gibt, geht unser Erzähler viel weniger aufs Sinnenfällige aus; seine Kunst besteht vielmehr darin, durch eine Darstellung, die im Blick auf das Gefühlsmäßige geradezu asketisch ist, eine Welt von Gefühlen zu beschwören. Ohne ins Wort hereingeholt zu werden, sind das Erschrecken beim Anhören des Befehls, die tödliche Trauer auf dem Weg, die Versuchung, wieder umzukehren, die Angst des Kindes und die unausdenkbare Freude am Ende intensiver gegenwärtig, als wenn das in Worten ausgemalt worden wäre. Viel steht hier zwischen den Zeilen. Die Dinge scheinen nur eben »angerührt«. Aber gerade durch seine Verhaltenheit bietet der Erzähler einen weiten Raum an, den der Zuhörer mit seiner eigenen Vorstellungskraft betreten und ausfüllen kann. Gerade durch das Nichtgesagte — ebenso im Blick auf Abraham wie auf Isaak — wird eine Welt Widerstreitender Gefühle dem Leser aufs intensivste gegenwärtig. Er müßte ja ein Stein sein, wenn er sich [22] nicht von jener Dimension menschlichen Erlebens ergreifen ließe, die von unserem Erzähler auf eine so merkwürdig indirekte Weise beschworen wird.
Aber so ist es doch auch nicht, daß hier alles Wesentliche zwischen den Zeilen zu lesen sei. Von dem ganzen Geschehen hat der Erzähler doch nicht nur indirekt gesprochen, sondern auch sehr Direktes ausgesagt, und von dem müßte jede Ausdeutung ausgehen. Da steht gleich am Anfang — von größter Bedeutung für das Wirklichkeitsverständnis der Erzählung — der Satz von dem Einbruch Gottes in das Leben Abrahams. Da ist also einerseits eine Welt vorausgesetzt, in der man ißt und trinkt, wandert und ruht, sich ängstet oder sich freut, also eine Welt, in der die Geschehnisse nach erkennbaren Ursachen und Regeln ablaufen. Aber sie ist zugleich eine Welt, in der Gott Anstöße gibt und Bewegungen auslöst, also eine Welt, in der Gott jederzeit auf eine höchst bedrängende Weise präsent werden kann! Nie. wird ein Erzähler eine solche Wirklichkeit derart in den Griff bekommen, daß alles aufgeht. Der Leser einer solchen Geschichte verschließt sich gerade ihrem Wesentlichen, wenn er das, was »wirklich« ist in der Wirklichkeit des Lebens, für etwas so Vordergründiges hält, daß man darüber, sofern man nur Augen im Kopf hat, schnell einig werden kann. Ein Blick in die Widerfahrnisse unseres Lebens belehrt uns ja auch heute keineswegs eindeutig darüber, worin wir denn die entscheidenden Realitäten, also das eigentlich Wirkende zu sehen haben. Homer sah das anders als unser Erzähler, und darum schilderte er auch anders. Genüge uns hier die Feststellung, daß die Darstellungsweise der biblischen Erzähler durch und durch abhängig ist von einer sehr spezifischen Gotteserfahrung und einer sehr spezifischen Welterfahrung. Das Geschehen, das unser Erzähler beschwört, — so war gesagt worden — sei »hintergründiger« als bei Homer. Eine Welt, die derart nach Gott hin offen ist, in die hinein sich so erschreckende göttliche Anstöße [23] auswirken, hat ihre eigenen Aspekte, ihre eigene Erscheinungsform, und um sie — etwa in einer Erzählung – zu verdeutlichen bedarf es besonderer Mittel der Darstellung. Ist das nicht für viele biblische Erzählungen charakteristisch: einerseits erheben sie sich zu einer realistischen Plastik, die so von keiner antiken Literatur erreicht wurde, andererseits vermögen sie vieles an ihren Gegenständen offen zu lassen, als ob sie von ihnen Abstand hielten? Noch so packend geschilderte Ereigniszusammenhänge erscheinen in ihrem inneren Kräftespiel im Letzten doch nie als ein geschlossenes und restlos überschaubares Ganzes.
Versuch einer Deutung der Erzählung
An der Spitze der Erzählung als ihr erstes und wichtigstes Subjekt steht das Wort »Gott«. Aber dieses Offenbarwerden Gottes über Abraham bedeutet kein tröstliches Auflösen der Lebensrätsel, im Gegenteil, ihre äußerste Steigerung. War es denn klug vom Erzähler, den Inhalt der ganzen Geschichte schon im ersten Satz zu entschärfen? Denn das ist ja klar, erfährt man, noch bevor die Geschichte überhaupt begonnen hat, daß es sich um eine Versuchung handelte, die Gott veranstaltet hat, so werden damit die Gedanken des Lesers in eine ganz bestimmte Richtung in Bewegung gesetzt. Er wird von vornherein daran gehindert, sich auf eine gräßliche Sensation einzustellen. Insofern zerstört der erste Satz eine Spannung, noch ehe sie entstehen konnte, denn man weiß nun, daß Gott die Tötung des Kindes nicht wirklich gewollt hat. Aber zugleich wird eine andere Spannung erzeugt, nämlich die Frage, wie sich Abraham in der nun folgenden Erprobung verhalten wird. Der Erzähler hat — man muß sich das einmal klarmachen — mit dem ersten Satz eine [24] nicht unkomplizierte Situation hergestellt. Uns, die Leser, hat er vorher gleichsam beiseite genommen und uns gesagt, worum es sich im Folgenden eigentlich handeln wird. Wir wissen also mehr als Abraham. Zugleich aber müssen wir uns mit allen Fasern unseres Verstehens in die Sicht hineinversetzen, die sich vor Abraham auftun mußte. Zwischen diesen beiden voneinander so tief geschiedenen Aspekten bewegt sich der Leser, ohne sich dessen ganz bewußt zu werden, hin und her bis zum Ende, wo auch für Abraham der eigentliche Sinn des Geschehens deutlich wird, und auch er das erfährt, was wir schon von Anfang an wußten, daß nämlich kein böser, sondern ein heilsamer Wille hinter dem erschreckenden Befehl stand.
Aber was sollen wir uns dabei denken, wenn ein Erzähler sagt, daß Gott einen Menschen »versucht« habe? In Israel wußte jeder, was damit gemeint war. Man muß zunächst einmal ganz allgemein bedenken, daß die Alten schon die alltäglichen Widerfahrnisse nicht für so zufällig und auch nicht für so sprachlos gehalten haben, wie das heute die Menschen tun. Sie strichen angesichts der Frage nach dem Sinn, den ein Widerfahrnis haben könnte, nicht so schnell die Segel, weil sie wußten, daß in den Dingen und in den Geschehnissen eine Sprache ist, die zu verstehen man sich bemühen sollte. Natürlich erhoben sie nicht den dreisten Anspruch, alles und jedes, das ihnen zwischen Morgen und Abend widerfuhr, erklären zu können. Sicher mußte der Glaube auch immer wieder mit Unbegreiflichem fertig werden. Aber gerade bei schweren Schicksalsschlägen lag mindestens die Vermutung nahe, daß Gott sie dazu über den Menschen gebracht habe, um seinen Glauben, um seine Festigkeit, d. h. sein Festhalten an Gott, zu prüfen. So liest man doch auch im Buche Hiob, wie im Himmel ein Zweifel über die Echtheit der Frömmigkeit Hiobs geäußert wurde, und wie Gott daraufhin befahl, Hiob durch Leiden zu erproben. Hiob selbst weiß natürlich von der [25] Vorgeschichte seiner Leiden nichts. Uns aber setzt der Erzähler vorher ins Bild. Darin verfährt er also ganz ähnlich wie der Erzähler unserer Patriarchengeschichte. Die Weisheitslehrer Israels haben sich viel mit dem Gedanken einer Erprobung durch Gott beschäftigt.
Wen der Herr liebt, den weist er zurecht,
und er läßt leiden, den Sohn, den er gern hat.
Spr. 3,12
Mein Sohn, wenn du dich nahst, dem Herrn zu dienen,
so mache dich auf Versuchungen gefaßt.
Sir. 2,1
Gewiß, der Gedanke einer Versuchung durch Gott und der einer Erziehung decken sich nicht ganz. Aber darin berühren sie sich doch nahe, daß sie im einen wie im anderen Fall das Leiden bis zu einem gewissen Grad rational verständlich machen, eben als eine Veranstaltung Gottes, auf die der Mensch sich immer gefaßt machen sollte. Aber das wichtigste bei alledem war doch dies, daß Israel in der Lage war, auch widrige, ja ganz schreckliche Ereignisse auf einen heilsamen göttlichen Willen zurückzuführen und aus einer gütigen göttlichen Hand zu nehmen. Das heißt freilich noch lange nicht, daß damit alles Schwere entschärft wurde. Leiden hörte ja nicht auf, Leiden zu sein. Aber es hörte auch nie auf, den, dem es auferlegt war, ganz persönlich auf sein Gottesverhältnis hin zu befragen.
Aber die Versuchung Abrahams überstieg bei weitem alles, was man sonst in Israel unter Versuchung oder Prüfung verstehen mochte. Diese Versuchung ging nicht etwa von fremden Göttern aus, die zum Abfall verlockten, sie ereignete sich nicht auf dem weiten Gebiet des Geschlechtlichen, auch handelte es sich nicht um ein körperliches Leiden, dessen Sinn sich der Mensch erst zurechtlegen mußte, sondern um einen direkten Befehl Gottes, an dem es schlechterdings nichts zu deuten gab. Es wäre eine unerlaubte Abschwächung, wenn man an-[26] nehmen wollte, es habe sich da nur um eine innere Anfechtung gehandelt, sozusagen um Gewissensskrupel, die sich Israel angesichts der Kinderopfer gemacht habe, die bei seinen kanaanäischen Nachbarn gelegentlich dargebracht wurden. Die Erzählung wäre dann die Antwort, die sich Israel auf seine eigene innere Unsicherheit gab: Nein, der Gott Israels will nicht den Tod sondern das Leben. Aber mit dieser Deutung wäre der großen Härte der Erzählung etwas Entscheidendes ausgebrochen. Wahr daran ist nur, daß der Stoff unserer Erzählung tatsächlich einmal von einem kultischen Kinderopfer gehandelt hat. Es zweifelt heute kaum mehr jemand daran, daß eine ferne Frühform unserer Erzählung die Erinnerung an eine von der Gottheit angeordnete Auslösung eines Kinderopfers durch ein Tieropfer aufbewahrt hat, daß sie also als eine sogenannte Kultlegende eines Heiligtums anzusprechen ist. Dafür spricht nicht zuletzt die — inzwischen bezeichnenderweise dem Text verlorengegangene — Benennung der Stätte mit einem Ortsnamen, die in einer lokalen Kultlegende nicht fehlen durfte.[5] Aber von alledem ist in den Auslegungen unserer Erzählung schon fast zu viel die Rede, denn diese Frühform hat mit der Jetztgestalt der Erzählung kaum mehr gemeinsam als die Historie von dem Schwarzkünstler Dr. Faustus mit der Faustdichtung von Goethe. Im Verständnis der jetzigen Erzählung werden wir durch die Kenntnis der Vorgeschichte des Stoffes kaum gefördert. Mag man den Erzählungsstoff für das Dokument einer Humanisierung des Jahwekultes halten, so ist er inzwischen weit über den kultischen Bereich und seine Ordnungen hinausgewachsen, und damit hat sich sein Sinngebäude total verändert. Kein Mensch wird den Ersatz eines Kinderopfers durch ein Tieropfer als das Anliegen unserer jetzigen Erzählung bezeichnen wollen. [27]
Daß ein Mensch im Zwang irgendwelcher Umstände sich genötigt sieht, sehenden Auges sein eigenes Kind zu töten — damit haben sich Erzähler in aller Welt beschäftigt. Auch im Alten Testament findet sich dafür ein Beispiel in der Geschichte von Jephta und seiner tapferen Tochter. Ein (unbesonnenes?) Gelübde hatte den Vater dazu verpflichtet, sie zu opfern. Das Mädchen anerkennt die Notlage des Vaters und erbittet nur einen kurzen Aufschub (Ri. 11,30-40). Solch ein Stoff mochte die Erzähler schon allein deshalb gelockt haben, weil hier eine äußerste Form menschlicher Bedrängnis und inneren Konfliktes darzustellen war. Aber bei näherem Zusehen hat unsere Abrahamgeschichte auch damit nur sehr wenig gemeinsam.
Besonders in der kirchlichen Unterweisung hat man die Erzählung von Abrahams Opfer ganz allgemein als Veranstaltung einer harten Gehorsamsprobe verstanden. Sofort aber verfehlt man ihren Sinn, wenn man den Gehorsam, wie es oft geschehen ist, als etwas Absolutes, als einen Selbstwert verstehen wollte, also als eine Tugend, deren Vorhandensein an sich festgestellt werden soll. Leider haben sich die Ausleger seit Anbeginn immer wieder in diese Richtung abdrängen lassen, manchmal, indem sie den Abraham geradezu als einen wahren Gehorsamsathleten darstellten. Der im hellenistischen Alexandria lebende Religionsphilosoph Philo weiß, daß sich Abraham beim Anhören des furchtbaren Befehles nicht einmal verfärbt habe. Abgesehen davon, daß hier offenbar das ganz unalttestamentliche Leitbild von der stoischen Selbstbeherrschung des Philosophen hereinschlägt — eine solche Auslegung steht in der Gefahr einfach unmenschlich zu werden. Könnte man den Vätergeschichten Israels etwas Schlimmeres antun? Nicht um den Gehorsam ganz im allgemeinen geht es, sondern um einen bestimmten Gehorsam, um den Gehorsam in einer bestimmten und allerdings extremen Situation. [28]
Natürlich soll sich jeder der Not der ganz elementaren Vatergefühle Abrahams aussetzen. Aber in Isaak ging es um viel mehr als das einzige Kind eines Vaters, denn er war ja das Kind einer sonderlichen Verheißung. Alle Heilspläne mit dem künftigen Volk Israel, von denen Gott schon zu den Vätern gesprochen hatte, standen und fielen mit dem Leben Isaaks. Der Leser muß sich daran erinnern, wie zögernd sich diese Verheißung im Leben Abrahams erfüllt hat, wie ihre Erfüllung vor Abraham immer aufs neue in eine vage Zukunft zurückzuweichen schien. Als endlich das Kind des Alters geboren war, sollte es geopfert werden! Was war nun von den Versprechen Gottes, daß der Same Abrahams zum großen Volke werden, ja daß in ihm dereinst sogar »alle Sippen der Erde« gesegnet werden sollten, zu halten? Mußte nicht mit dem Befehl, den Isaak zu opfern, vor Abraham die ganze Vergangenheit und die ganze Zukunft des göttlichen Handelns und Geleitens in sich zusammenstürzen? Sein Glaube mußte durch diesen Selbstwiderspruch in eine geradezu tödliche Verwirrung hinabstürzen. Mußte ihm nicht, so fragen wir nocheinmal, mit einem Schlag Gott unglaubwürdig geworden sein? Aber die Erzählung weiß es anders. Abraham ließ Gott nicht fahren. Im Gegenteil, er war gehorsam und ging in die Nacht, die Gott vor ihm auftat, hinein.
Oder sollen wir es uns doch anders vorstellen? Könnte es nicht so gewesen sein, daß nicht einmal der Befehl, das Kind zu opfern, imstande war, das Vertrauen Abrahams zu Gott zu stören? War Abraham vielleicht doch dessen sicher, daß Gott auf irgend eine Weise seine Zusage wahr machen würde? So hat es jedenfalls der Verfasser des Hebräerbriefes aufgefaßt:
Durch Glauben hat Abraham den Isaak dargebracht, da er versucht ward; ja seinen einzigen Sohn brachte er dar, der die Verheißungen empfangen hatte, zu dem gesprochen war: In Isaak soll dein Name ge-[29]nannt werden, indem er bedachte, daß Gott imstande ist auch von den Toten zu erwecken; und deshalb erhielt er ihn auch gleichnisweise zurück.
(Hebr. 11,18 f.)
Diese Deutung, der sich auch Luther anschloß, versteht die ganze Begebenheit aus dem Horizont des jungen Christenglaubens und seiner Auferstehungshoffnung heraus. Sie soll nicht als eine authentische Auslegung unserer Genesiserzählung aufgefaßt werden. Die Geschichte von Abrahams Opfer ging damals von Mund zu Mund und von Deutung zu Deutung. Der christliche Prediger, der im Hebräerbrief zu uns spricht, mußte sie nicht erst in der Genesis nachlesen. Deshalb war er sich auch schwerlich bewußt, daß er sich mit seiner Deutung erheblich von dem entfernt hatte, was der alte Erzähler hatte darstellen wollen, denn daran, daß Abraham auf die Auferstehung von den Toten ausgeschaut habe, hat jener bestimmt nicht gedacht. Darum steigerte sich ja auch der Dialog Hiobs mit Gott bis zum Blasphemischen, denn auch ihm öffnete sich kein Ausblick auf eine Gemeinschaft mit Gott jenseits des Todes. Es gab kein Aussteigen aus dem unbeschreiblich bedrängten Jetzt. War Gott wirklich für ihn, und das war für Hiob fraglich geworden, so mußte er das hier und jetzt erfahren.
Aber Abraham hat nicht, wie Hiob es tat, Gott seine Not ins Angesicht geschrieen. Er hat geschwiegen, und dieses lange Schweigen droht dem Ausleger zu dem eigentlichen Rätsel der Erzählung zu werden. Schweigen ist noch vieldeutiger als es Worte sein können. So ist es nicht verwunderlich, daß schon im Altertum manche von denen, die die Geschichte nacherzählten, dieses strenge Schweigen einfach nicht ausgehalten haben. So weiß z. B. der jüdische Historiker Josephus (i. nachchristliches Jahrhundert) von einer pathetischen Rede zu berichten, mit der sich Abraham nach der Errichtung des Altars an Isaak gewendet habe: Wie habe er diesen [30] Sohn ersehnt! Aber nun müsse er ihn Gott im Opfer zurückgeben. Isaak solle sich fassen und in die Opferung ergeben. Der »edle Isaak« nahm die Worte seines Vaters freudig (!) auf. Er würde sich ja auch unterworfen haben, wenn es sich nur um den Willen seines Vaters gehandelt hätte; nun aber habe Gott selbst das Opfer befohlen … Nun, hier wird der Leser reichlich bedient. Er braucht sich nicht mehr dem quälenden Schweigen Abrahams auszusetzen. (Wie merkwürdig und zugleich gefährlich ist doch dieser uralte Drang der Späteren, die Sache nach irgend einer Richtung hin zu steigern!) Der Leser, den das lange Schweigen Abrahams anfocht, wird zugeben, daß hier nun umgekehrt zuviel der Worte gemacht wurden. Auch Luther wunderte sich, daß nichts von einer Erklärung Abrahams mitgeteilt werde, und meint, daß Abraham zu Isaak vor allem von dem »Hauptstück« gesprochen habe, nämlich von dem Gebot Gottes und der Auferstehung der Toten. Das ist nun freilich nicht ohne Großartigkeit; aber damit geht Luther weit hinaus über den religiösen Vorstellungkreis, in dem unser Erzähler lebte. Daß Abraham, bevor er ihn auf den Altar gelegt hat, etwas zu Isaak gesagt haben muß, ist klar. So hat es sich ja auch Rembrandt vorgestellt, als er gerade diese unausdenkbare Szene dargestellt hat. Warum hat unser Erzähler darüber geschwiegen? Zunächst wird man zu bedenken haben, daß Isaak für ihn — im Unterschied zu späteren Auslegungen! — überhaupt keine Hauptperson war. Und gibt es für einen Erzähler nicht auch Dinge, die immer noch besser in einem Schweigen aufgehoben sind als in den bestgemeinten Worten? Wahrhaftig, es gibt Situationen, in denen das Schweigen besser redet, als Worte es vermögen.
Würde der Leser dieses Schweigen Abrahams nicht aushalten, so würde er an einer entscheidenden Aufgabe, die ihm der Erzähler zugeschoben hat, versagen. Was unter der Decke dieses Schweigens vorgegangen ist, das [31] gerade muß er sich vergegenwärtigen, wenn er nicht am Wesentlichen vorübergehen will. Isaak, so sagten wir, war für Abraham mehr als ein geliebtes Kind. In ihm war ihm ein göttliches Heil anvertraut, ein »Segen«, der noch die fernsten Generationen in seinen Heilsbereich einbeziehen sollte. Schlicht gesagt: Isaak war für ihn die Bürgschaft, daß Gott für ihn und alle die Seinen da sein wollte. Hatte sich Abraham bei seiner Berufung und seinem Auszug von seiner Vergangenheit getrennt, so mußte er jetzt seine ganze Zukunft mit Gott opfern. So überstieg also die letztere Zumutung die erste bei weitem, denn nun widersprach sich Gott aufs unerträglichste. Setzte er damit,- daß er seine feierliche Verheißung zurücknahm, nicht seine ganze Vertrauenswürdigkeit aufs Spiel? Aber Abraham — so unser Erzähler — trat den Weg in jenes entsetzliche Dunkel hinaus an. Stürzte ihm die Hoffnung zusammen, so blieb ihm doch der Gehorsam, den er Gott schuldig war. Genau daraufhin feiert ihn zuletzt die Stimme vom Himmel als »gottesfürchtig«. Gottesfurcht ist hier ein anderes Wort für »Gehorsam«, allenfalls für »Frömmigkeit«. Abraham hat also den Selbstwiderspruch Gottes ausgehalten. Er hat nicht, wie Hiob es tat, Gott einfach das Recht bestritten, derart an ihm zu handeln, sondern auch in dem äußersten Dunkel, das es für ihn geben konnte, an Gott festgehalten. Das ist die Aussage des Schweigens Abrahams.
Aber es bleibt noch manches, das unter der Decke dieses bis zum Ende durchgehaltenen Schweigens in Abraham vorgegangen sein muß, dem unsere Gedanken, so weit sie es vermögen, nachhängen. Daß am Ende, also nach dem Abfallen der unausdenkbaren Last, kein Freudenlaut hörbar wird, das gehöre zu der antiken Großartigkeit der Erzählung, meint ein Ausleger, und wir folgen ihm darin.[6] Aber vorher? Es war, so sagten [32] wir, das Schweigen des Gehorsams. Aber was in diesem Schweigen des Gehorsams noch alles Raum haben konnte, das haben Rembrandt und Kierkegaard, jeder auf seine Weise angedeutet. Besonders der Letztere hat verschiedene Möglichkeiten höchst geistreich durchgespielt. Auch Luther ist weit entfernt davon, sich Abraham als einen auf seine Selbstbewahrung bedachten Stoiker vorzustellen. Auf eine ergreifende Weise malt er sich die Anfechtungen aus, denen Abraham preisgegeben war. Aber das ist nun die Frage: Konnte denn Abraham, so wie es sich Luther vorstellt, in aller Angefochtenheit doch noch der ganz unbeirrbar Glaubende, der sich an der Verheißung Festhaltende geblieben sein, also der gleiche Abraham, der vorher zum Sternenhimmel aufgesehen und geglaubt hatte (1. Mos. 15,5 f.)? Was blieb ihm denn anderes als eine sternenlose Nacht? Vollzog er das Opfer, so erlosch ihm das Licht, das Gott in sein Leben gestellt hatte. Vollzog er es nicht, so war er an Gott gescheitert. Der Ort, an den Gott ihn hinausgeführt hatte, war der einer Gottverlassenheit. Von einer alttestamentlichen Golgathasituation könnte man insofern sprechen, als sich vor Abraham eine Gottesfinsternis auftat, in der ihm die Macht und die Herrlichkeit des Waltens seines Gottes völlig entschwand.
Vielleicht haben wir überhaupt keine handliche theologische Bezeichnung für die besondere Art dieses Gehorsams, einfach deshalb, weil er singulär war. Abraham ist auf die prüfende Anfrage Gottes hin bereit, das gesamte ihm schon übereignete Heilsversprechen wieder in die Hände Gottes zurückzulegen, weil er keinen Grund sah, Gott diese Forderung zu verwehren. So sehr war er sich bewußt, daß die Verheißung eine freie Gabe gewesen war. Angesichts einer so extremen Situation, in die Abraham hinausgedrängt worden war, verspürt der Ausleger wenig Lust, sich die seelische Verfassung des Mannes bei diesem Geschehen genauer auszumalen. Wo in aller Welt fände er für dieses [33] Erleben Vergleichbares? Bei sich selbst würde er wenig entdecken, das seiner einfühlenden Phantasie behilflich sein könnte.
War bisher einiges von der Nacht einer Gottverlassenheit zu sagen, die Abraham umfangen haben mußte, so wäre die Erzählung doch völlig mißverstanden, wenn wir darin den Hauptgegenstand ihrer Darstellung sehen wollten. Im Gegenteil! Der Abgrund hat sich geschlossen, die Not wurde durchgestanden. Abraham hat die Bindung an Gott nicht abgeworfen, und dafür empfängt er aus dem Munde Gottes selbst das Ehrenprädikat eines Gottesfürchtigen, d. h. eines Gehorsamen. Aber noch mehr: Auf der Überwindung dieser Not liegt auch ein Segen. Das war doch das große Thema der zweiten Gottesrede (s. o. S. 13 und 14 f.). Jede durchgestandene Not hat wohl die Verheißung, zum Segen zu werden. Aber hier ist das doch anders gemeint: Der Vorhang hebt sich, und die Perspektive in eine unabsehbare Zukunft tut sich auf, denn der Segen dieses Gehorsams wird noch die fernsten Nachkommen erreichen. Hier ist Abraham nicht nur als Vorfahr gesehen. In der Rückschau der Späteren gewinnt er geradezu Heilsbedeutung für seinen »Samen«. Von jetzt ab kann sich jeder Nachkomme Abrahams sagen: Er hat’s durchgestanden, und du stehst im Genuß des Segens, der über ihm ausgerufen wurde. Gerade dieser letzte Aspekt wird den Christen bewegen. Er wird daran denken, daß das Neue Testament einer ganz anderen Gestalt eine Heilsbedeutung zuerkennt, die den abrahamitischen Segen weit überbieten wird.
Der Erzähler und seine Absicht
Wir fragen erstaunt, wer war der Mann, der solches zu erzählen vermochte? Wir meinen mit dieser Frage jetzt nicht die nach Name, Wohnort und Zeit des Verfassers, denn die ist, wie wir schon sagten, nicht zu be-[34]antworten. Wir fragen vielmehr nach seinem geistigen Ort in der Geschichte des Glaubens seines Volkes. Nun, er war ein Mann, der um eine Gotteserfahrung, um eine Anfechtung äußerster Art wußte. Hier kommt alles darauf an, daß wir den Begriff der Gotteserfahrung wirklich ernstnehmen und nicht ins Allgemeine ausweichen. Da war nämlich nichts von jenem Dunkel, das ein anonymes Fatum für die Menschen hat, und vollends weit ab lag die Möglichkeit, daß da eine tragische Verstrickung im Spiele gewesen sei, denn der Befehl, das Kind zu opfern, war schlechterdings eindeutig und der, der den Befehl gab, war es auch. Es war der Gott Abrahams. Da ist also kein Dunkel außerhalb Gottes. Alles Dunkel, das Abraham überfällt, ist in Gott versammelt. Das ist nun wirklich ein erstaunlicher und für uns Heutige überraschender theologischer Ausgangspunkt der Erzählung. Aber das alte Israel dachte über das den Menschen im Leben erschreckende Dunkel insofern anders, als es außerstande war, eine in der Welt waltende böse Macht anzuerkennen, die sowohl Gott wie den Menschen objektiv gegenüberstand. Offenbar war es ihm leichter zu ertragen, daß sich ihm zu Zeiten sein Gottesbild verdunkelte, als die Macht und Freiheit seines Gottes von einem in der Welt vorhandenen selbständigen Bösen eingegrenzt zu sehen. So kommen also auch in dieser Erzählung Erfahrungen zur Sprache, die Israel in langen Zeiten bei seinen Begegnungen mit Jahwe eingebracht und intensiv bedacht hat. Erfahrungen, von dem Israel fordernden, ja vielleicht überfordernden Gott haben sich in einer verhältnismäßig schon vorgerückten Zeit in dem alten Erzählungsstoff bildhaft verdichtet. Es bedurfte schon einiger Zeit, bis es Israel möglich war, etwas so Verwirrendes, auf das es in der Tiefe seiner Gotteserfahrung gestoßen war, in einer so einfachen Erzählung ins Wort zu erheben. Viele Begegnungen mit dem sich Israel gebenden und zugleich sich verbergenden Gott haben an diesem Kapitel ge-[35]schrieben. Darin liegt seine geschichtliche Authentizität und seine Wahrheit; nicht liegt sie in den vagen Spuren, die zum Ältesten in diesem Erzählungsstoff gehören und die vielleicht (vielleicht aber auch nicht) in die Zeit der Erzväter zurückreichen könnten. Hinter der Stimme, die sich aus dieser Erzählung an den Leser wendet, steht real geschichtlich Erfahrenes und vom Glauben als wahr Befundenes.
Wir müssen also festhalten, daß der Glaube Israels vorher lange und angestrengt auf die Hände Gottes geschaut haben mußte, ehe diese Erzählung so, wie sie uns heute vorliegt, geschrieben werden konnte. Dem aber scheint der Eindruck Calvins zu widersprechen, der von der wunderbaren Einfalt dieses Erzählens sprach (mira in narrando simplicitas). Erschienen uns die Hintergründe der Geschichte nicht viel komplizierter, so daß wir viele eher dem neueren Ausleger zustimmen müssen, der rundweg sagt, Genesis 22 sei »erzählte Theologie«?[7] Aber diese beiden Feststellungen müssen sich nicht notwendig widersprechen, denn die Erzählung, die sicher ein hohes Maß von theologischer Reflexion voraussetzt, ist tatsächlich von wunderbarer Einfalt. Die Reflexion selbst liegt hinter ihr; sie hat es nicht nötig, sich selbst zu entfalten, weil sie auf Tatsachen gestoßen ist, die sich letztlich doch ganz einfach erzählen lassen: Das Hereinbrechen der Gottesfinsternis über Abraham war eine Prüfung; der Gehorsam Abrahams wich davor nicht zurück.
Wer genauer zusieht, dem fällt auf, daß sich die Erzählung von Abrahams Opfer in einer Hinsicht von vielen der Erzvätergeschichten unterscheidet. Es muß wohl jeder Leser einmal die Verlegenheit durchgestanden haben, die darin besteht, daß er von den Erzählern so wenige oder gar keine Hinweise darüber erhält, was [36] er denn nun von den jeweils erzählten Geschehnissen zu halten habe, vor allem, wie denn nun das Verhalten der handelnden Hauptpersonen zu beurteilen sei. So war es doch etwa bei den Variationen des Themas von der Gefährdung der Ahnfrau (1. Mos. 12,10 f.; 20,1 ff.; 26,7 ff.), so empfindet es der Leser vollends im Dickicht der Jakobsgeschichten. War denn all das Erzählte vor Gott recht? Aber in unserer Erzählung ist das ganz anders. Schon im ersten Satz wird der Leser über den Sinn des nun anlaufenden Geschehens unterrichtet, so daß er im Vorhinein schon weiß, wie Gott das alles gemeint hat. Und zum Schluß wird uns fast eine Art göttlicher Zensur mitgeteilt. Wo sonst wird noch irgendwo einer der Ahnen Israels so eindeutig beurteilt — nicht auf irgendeine indirekte Weise, die herauszufinden dem literarischen Feingefühl des Lesers überlassen bleibt, sondern so laut und so überschwenglich?
Jeder nachdenkliche Betrachter solcher Erzählungen weiß, daß sie niemals nur einen Sinn haben, daß sie also nicht wie Lehrfabeln dem Leser nur einen Gedanken anbieten. Hätte er es vergessen, so würden es ihm die beiden Abschlüsse, die die Geschichte bekommen hat, sagen, daß sie unter mehreren Aspekten gelesen werden kann. Nur zwei grenzen wir zum Schluß voneinander ab, obwohl sie doch auch ineinander übergehen.
Man kann nicht abstreiten, daß die Gestalt Abrahams im Sinne eines Vorbildes dargestellt wird. Es wird dem Leser nahegelegt, aus der Geschichte Folgerungen für sein eigenes Leben zu ziehen. Aber vielleicht doch nicht im Sinne einer direkten »Nachfolge«. Ja, es erscheint unwahrscheinlich, daß die Erzählung beim Leser eine »moralische« Aktivität auslösen will, eine Bemühung, sein Leben dem des Abraham gleichzugestalten. Kann man ihm denn überhaupt nachfolgen? Ist er nicht in der Härte seiner Anfechtung, wie Kierkegaard einmal von Hiob sagte, »ein Außenposten der Menschheit«? War es nicht einfach dies: Wer die Geschichte von der großen [37] Versuchung Abrahams hörte, der durfte bei allem Abstand doch auch sein Leben in dem Abrahams wiedererkennen. Seine Anfechtung war in der des Abraham mitenthalten, und somit durfte er sich geborgen fühlen. So mag man also ruhig etwas Lehrhaftes in der Erzählung feststellen. Es ließe sich etwa so paraphrasieren: Wenn Gott in seinen Führungen gegen sein eigenes Heils-versprechen aufzustehen scheint, wenn er gleichsam als sein eigener Feind sein Werk zu zerstören scheint, dann braucht Israel nicht zu erschrecken, denn Gott hat sich von ihm nicht abgekehrt. Es soll vielmehr wissen, daß Gott gerade darin seinen Glauben harten Prüfungen unterzieht.
Während unter diesem Aspekt die Versuchung Abrahams zwar als etwas Außerordentliches gilt, aber im Prinzip doch nicht als etwas Einmaliges, sondern als etwas, das sich in immer neuer Gestalt wiederholt, stellt sich die Sache in dem später angefügten zweiten Schluß (V 15-18) doch erheblich anders dar. Hier wird das Geschehen als etwas schlechterdings Einmaliges und Einzigartiges angesehen, ja es wird als ein Heilsgeschehen gefeiert. Der von Abraham dargebrachte Gehorsam setzte Heil für alle seine Nachkommen. Abraham gilt hier nicht nur als der Ahnherr seines Volkes. Das war er auch. Aber aus dem, was sich zwischen Gott und ihm auf Moria begeben hatte — grenzt es in dieser Sicht nicht an ein soteriologisches Mysterium? —, aus dem dargebrachten Gehorsam leitete Israel ein Heil her, dessen Empfänger noch die fernsten Nachkommen, ja sogar »die Völker der Erde« sein werden.[8]
Ob wir die Erzählung mehr unter dem einen oder [38] mehr unter dem anderen Aspekt lesen — das gilt in jedem Fall: sie beruhigt, indem sie aufregt; in ihrer Härte liegt ihr Trost.
Die Erzählung als ein Ärgernis
Blicken wir zurück auf die Erzählung, so wie wir uns ihren Gehalt glaubten zurechtlegen zu müssen, so ist doch eines ganz deutlich. Sie geht mit einer fast unheimlichen Kraft auf den Leser zu; sie macht es ihm einfach unmöglich, neutral zu bleiben. Diese Erzählung kann man nicht wie zahllose andere interessiert anhören, schon gar nicht kann man sich von ihr unterhalten lassen. Sie greift nach dem Leser, sie setzt ihm zu, weil sie um eine Wahrheit weiß, zu der unter allen Umständen Stellung genommen werden muß, ja mehr noch: zu der man sich bekennen muß. Könnte man sich dieser Wahrheit öffnen und ihr bei sich Raum geben, so wäre wohl alles einfach. Der Glaube wäre belehrt und gewissen Anfechtungen gegenüber gestärkt. Aber so einfach liegen die Dinge nun doch nicht. Die Schwierigkeit liegt nämlich darin, daß man die Erzählung gar nicht so haben will, wie sie ist. Sie weckt im Leser einen Widerstand auf, ja geradezu einen Protest. Die Geschichte der Auslegung dieser Erzählung enthält viele Beispiele dafür, wie man sie sich eigenmächtig zurechtgelegt hat und ihr — einmal auf eine feinere, einmal auf eine gröbere Art — ausgewichen ist. Gewann z. B. schon im Altertum die Auffassung Raum, daß der Satan es Gott eingeredet hatte, diese Versuchung über Abraham zu bringen, so ist eben damit doch der Sinn der alten Erzählung an einem entscheidenden Punkt abgebogen, denn damit war das Dunkle einigermaßen aus Gott herausverlegt (Jubil. 17,16). Israel aber hatte doch in der Erzählung eine Erfahrung ausgesprochen, die es an Gott und nicht am [39] Satan gemacht hat. Heute bedarf es freilich nicht mehr so gewundener Umdeutungen. Man ist so frei, die Erzählung im Ganzen abzulehnen.
Das ist doch merkwürdig! Der eigentliche Widersacher der Erzählung ist der Mensch, den sie anredet und dem sie helfen will. Er trägt ein so tief eingewurzeltes Leitbild von Gott in sich, daß er der Erzählung einfach das Recht bestreitet, so von Gott zu reden, wie sie es tut. Bei dieser Sache will er die Hand im Spiel behalten und mitbestimmen, denn er glaubt, es besser zu wissen, wie man angemessen von Gott redet. Bei Gott muß es doch feierlich zugehen, heilig und noch viel sittlicher als bei den Menschen, und deshalb protestiert man sowohl im Namen Gottes wie im Namen der Humanität gegen das, was die Erzählung zumutet. Es scheint also schwer zu sein, die Erzählung richtig zu lesen. Daß sich ein so anspruchsvoller Erzähler stumpf ergebene Zuhörer wünscht, wird keiner behaupten wollen. Aber er will sich auch nicht unterbrechen und dreinreden lassen. Er nimmt das Recht für sich in Anspruch, mit seiner Geschichte und ihrer Wahrheit auf den Zuhörer loszugehen. Wem sie nicht hart zusetzt, wem sie ohne weiteres einleuchtet, der muß sich fragen lassen, ob er ihr wirklich begegnet ist. Die Menschen reagieren also ganz richtig, wenn sie ihr Gottesbild von ihr infrage gestellt sehen. Aber liegen nicht am Rande des ganzen Weges, den Israel mit seinem Gott gegangen ist, die Trümmer so mancher Gottesbilder, die ihm zerschlagen wurden? Auch der Gott, von dem unsere Erzählung spricht, ist kein Gott, der von der Sinngebung der Menschen her sein Leben hat. Er kann nie zum Götzen der Menschen werden.
So kann also das Ärgernis, das wir an dieser Geschichte nehmen, sicher nicht allein von ihr verantwortet werden. Es muß sich bestätigen lassen von der Gottverlassenheit der Psalmbeter, von den Verzweiflungen Hiobs und dem Bildersturm der Propheten. Es muß sich bestä-[40]tigen lassen von all den Stimmen in der Bibel, die darum wissen, daß der Mensch erst da in seinem Leben zur Sache kommt, wo er sich aus seinem selbstgezimmerten Gottesbild herausholen läßt, weil dieses sein Gottesbild im Grunde ein trostloses ist. Und das Menschenbild des alten Israel? Befragen wir seine großen Erzähler, die Propheten und die Psalmen, so bekommen wir wenig Grundsätzliches zu fassen. Der Mensch — nun, er ist das, was er im Gegenüber Gottes wird, was sein Gespräch mit Gott aus ihm macht. Israel wußte nichts von einem dem Menschen vorher gegebenen Maß. Unsere Erzählung zeigt uns einen Menschen, der durch eine ganz unfaßliche Zumutung Gottes weit über sein »Maß« und die den Menschen sonst zugänglichen Möglichkeiten hinausgehoben wird. Aber gerade darin wird in diesem Abraham eine ganz neue Weise des Menschseins vor Gott angedeutet; es ist das Bild eines Menschen, der in der Gottverlassenheit gehorsam ist. Insofern richtet die Erzählung in der Tat eine sehr kritische Frage an alle Humanität, wo immer sie sich absolut setzt.
Die Wirklichkeit, in der sich die Menschen des Alten Testaments bewegen, ist tiefer verschlüsselt, als Homer sie sah. Nicht nur deshalb, weil um die Menschen und die Dinge nie gelüftete Geheimnisse liegen. Sondern vor allem, weil Menschen und Dinge dem Handeln eines sich von Mal zu Mal tiefer verbergenden Gottes preisgegeben sind. Darum wird auch die Auslegung in ihrem Ringen um den Gehalt der Erzählung von Abrahams Opfer nie ein Ende finden. Immer neue Gesichtspunkte werden sich aufdrängen und immer neue Grenzen werden sich ihr in den Weg stellen.
Quelle: Gerhard von Rad, Das Opfer des Abraham. Mit Texten von Luther, Kierkegaard, Kolakowski und Bildern von Rembrandt, Kaiser Traktate 6, München: Chr. Kaiser Verlag 1971, Seiten 7-40.
[1] D. Lerch, Isaaks Opferung christlich gedeutet (1950).
[2] Hervorzuheben sind H. Graf Reventlow, Opfere deinen Sohn! Eine Auslegung von Gen. 22 (Biblische Studien 53 1968). R. Kilian, Isaaks Opferung, Zur Überlieferungsgeschichte von Gen. 22 (Stuttgarter Bibelstudien 44 1970).
[3] Strack-Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch Bd. IV S. 181 f.
[4] E. Auerbach, Mimesis (19674), Die Narbe des Odysseus S. 6-27.
[5] So z. B. 1. Mos. 16,14, Jos. 5,9, Ri. 6,24 u. ö.
[6] O. Procksch, Die Genesis (19242.3.) S. 319.
[7] C. Westermann, Forschung am Alten Testament (1964), Arten der Erzählung in der Genesis S. 72.
[8] Der Abschnitt v. 15-18 ist also in traditionsgeschichtlicher Hinsicht interessant. Er wiederholt fast schon formelhaft die Inhalte des Abrahamsegens. Die waren vorgegeben (1. Mos. 12,3, 15,5, 24,60, 28,14, 32,13 u. ö.). Aber indem er die Abrahamverheißung von der singulären Bewährung Abrahams herleitet, hat er sie theologisch ganz neu unterbaut.
1 Kommentar