Es ist eine Kunst einen Text aus dem Alten Testament auf Christus hin auszulegen, ohne das Erzählgeschehen in seiner Wörtlichkeit zu übergehen. Paul Schempp hat es in seiner Predigt über Jakobs Kampf bei Pniel (1Mose 32,23-32) meistlich verstanden, selbst in diesen Kampf einzudringen, um die göttliche Verheißung in Christus zur Sprache zu bringen. Seine Predigt kann in jedem Fall mit Gerhard von Rads Predigt über diesen Kampf mithalten:
Predigt über Jakobs Kampf bei Pniel
Von Paul Schempp
Und Jakob stand auf in der Nacht und nahm seine zwei Weiber und die zwei Mägde und seine elf Kinder und zog an die Furt des Jabbok, nahm sie und führte sie über das Wasser, daß hinüberkam, was er hatte, und blieb allein. Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach. Und da er sah, daß er ihn nicht übermochte, rührte er das Gelenk seiner Hüfte an; und das Gelenk der Hüfte Jakobs ward über dem Ringen mit ihm verrenkt. Und er sprach: Laß mich gehen, denn die Morgenröte bricht an. Aber er antwortete: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. Er sprach: Wie heißest du? Er antwortete: Jakob. Er sprach: Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und bist obgelegen. Und Jakob fragte ihn und sprach: Sage doch, wie heißest du? Er aber sprach: Warum fragst du, wie ich heiße? Und er segnete ihn daselbst. Und Jakob hieß die Stätte Pniel; denn ich habe Gott von Angesicht gesehen, und meine Seele ist genesen. Und als er an Pniel vorüberkam, ging ihm die Sonne auf; und er hinkte an seiner Hüfte.
(1. Mose 32, 23-32)
Jakob ist der Gesegnete des Herrn, er ist wirklicher Erzvater des Glaubens, er ist Erbe der Verheißung, des Segens Abrahams. Nach ihm heißt das auserwählte Volk „Israel“, und der allmächtige und heilige Gott schämt sich nicht, der Gott Jakobs zu heißen. Wir staunen über die Ehrlichkeit der Bibel, die uns erzählt, wie Jakob zum Erstgeburtsrecht und zum Segen der Verheißung gekommen ist, durch Bestechung, durch Lüge, durch Erbschleicherei. Von seinem Leben hören wir nichts Rühmliches. Es ist eine ständige Irrfahrt, und tot bringt ihn Joseph aus Ägypten, um ihn ins Grab von Abraham und Isaak zu legen. „Wenig und böse“ hat er die Zeit seiner Wallfahrt genannt, als er, 130 Jahre alt, nach Ägypten kam. Wie seltsam, ist die böse Lebensgeschichte Jakobs! Wenn wir uns nur daran erinnern, was jeder ungefähr in gutem Gedächtnis hat aus dieser Geschichte: von dem Greifen nach der Ferse des Bruders bei der Geburt — ein heimlicher Kain gleichsam, der Gottes Freiheit und Gerechtigkeit nicht an-[102]erkennen und glauben will, — von der Überrumpelung des Bruders mit dem Linsengericht, von dem Betrug am Vater, von der Flucht zu Laban bis zum Sterbebett des 147jährigen in Ägypten mit dem Segen über die 12 Söhne und besonders über Juda, dessen Zepter bleiben wird, bis der Held kommt, dem die Völker anhangen werden. Wem könnte es da ganz entgehen, daß hier die Geschichte Israels, die Geschichte des Volkes Gottes, die Geschichte der Christenheit schon in vollem Anlauf ist: Sünde und Gnade, Irrung und Heimsuchung, Demütigung und Erhöhung, Eigenwille und Führung, Schuld, Leid und große Hoffnung und in allem siegreich der Segen Gottes, seine Offenbarung, sein Begegnen und Mitgehen, die ständige Bestätigung seiner Barmherzigkeit und Treue, deren die Kirche viel zu gering ist. Da kann es uns nicht entgehen, daß diese Geschichte nicht das Beispiel eines frommen und oft sehr unfrommen Mannes geben will, sondern daß wir hier in einem dunkeln Wort, in vielen dunkeln Worten, und in einem dunklen Leben einen Spiegel haben, in dem uns die herrliche Klarheit des Angesichtes Gottes entgegenscheint. Wie nirgends im Alten Testament häufen sich hier die Zusicherungen Gottes, daß er mit Jakob sein wolle, daß er ihn segnen, ihm treu sein, ihn schützen, ihn zum Segen setzen wolle für alle Zukunft. Wohl wird der Betrüger Jakob auch betrogen, von Laban, von seinem Weib Rahel, von seinen Söhnen, aber von Gott und auch von Isaak bekommt er kein Wort des Tadels. Laban muß ihm freundlich begegnen, Esau empfängt ihn sogar mit besonderer Herzlichkeit. Isaak hatte ihn noch einmal beim Abschied gesegnet. Bei Bethel ist ihm Gott im Traum begegnet, er hat ihn reich gemacht in Mesopotamien, hat ihm 11 Söhne geschenkt, hat ihn zur Heimkehr aufgefordert und versprochen, mit ihm zu sein und ihm wohlzutun, und später begegnet ihm Gott noch einmal bei Bethel, und auch die Reise nach Ägypten geschieht auf Gottes Gebot und Verheißung. Geradezu überschüttet wurde dieser seltsame Mann mit immer neuen Bezeugungen der Unverbrüchlichkeit der Wahl und der Verheißung Gottes. Und doch ist sein Leben bis zum Rand gefüllt mit Angst und Elend, von der Flucht vor Esau bis zum Jammer um seinen liebsten Sohn Benjamin, den einst bei seiner Geburt in Bethlehem die sterbende Mutter Rahel Ben Oni, Sohn des Elends, genannt hatte. Dieser Mann, den Gott und die Engel begleiten, ist kein glück-[103]licher Mensch gewesen. Sieht er zurück auf sein Leben, so nennt er es Trübsal und Herzeleid, schaut er nach vorwärts, so hat er Angst und Sorge um sich und die Seinen. Und doch bekennt er immer wieder: Gott ist mit mir gewesen, Gott hat mein Elend angesehen, Gott hat seine Treue bewiesen, und doch klammert er sich immer wieder an die Verheißung: „Du hast gesagt!“ Seht, das ist unser Erzvater Jakob, der dritte Urvater, der menschlichste, der kirchlichste, der elendeste, der mächtigste Zeuge der großen Barmherzigkeit Gottes unter den drei Vätern des Glaubens. Und hier in unserm dunklen Text steht er gleichsam am Tiefpunkt seiner bösen Wallfahrt, auf der Grenze zwischen der Fremde, in die Gott mit ihm gegangen ist, und dem Heimatboden, an dem der Segen haftet: hinter sich die harte Dienstzeit und die Hilfe Gottes und vor sich Esau mit 400 streitbaren Männern. Zurück kann er nicht mehr, der Vertrag mit Laban bindet ihn, und hinüber über den Grenzfluß muß er: Gott hat ihm die Heimkehr befohlen. Er hat gebetet, und er hat gehandelt. Er hat gebetet in Demut und Dankbarkeit und mit Berufung auf Gottes Zusage. Und er hat gehandelt mit Überlegung und Klugheit. Geschenke sind unterwegs, die Leute und Herden sind aufgeteilt, und im Schutz der Nacht sind alle über den Fluß gezogen. Und nun ist Jakob allein an der Furt. Was wir dann hören, ist eine rätselhafte, unheimliche Geschichte: „Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach.“ Stundenlang dauerte also wohl dieser nächtliche Ringkampf. Aber wer ist der Mann? Jakob hat ihn nachher, ehe er verschwand, nach seinem Namen gefragt, und der Mann hat die Antwort verweigert. Aber er hat ihm gesagt: „Du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft“, und Jakob hat die Stätte dann Pniel, das heißt Gottes Angesicht, geheißen, „denn ich habe Gott von Angesicht gesehen“. Gott von Angesicht, und es war doch Nacht! Welch eine Ungereimtheit! Und gerungen hat er mit einem leibhaftigen Mann, nicht mit einem Gespenst und nicht etwa im Herzen mit der Kraft und Heftigkeit des Gebets aus angefochtenem Gewissen oder aus schrecklicher Angst. Da steht’s in knappen Worten, als ob es Jakob selbst erzählt hätte, und ist doch nicht zu fassen und zu deuten, so geheimnisvoll wie es später von Mose heißt, als er nach seiner Berufung vom Horeb nach Ägypten zog: „Und als er unterwegs in der Herberge war, kam ihm der Herr [104] entgegen und wollte ihn töten“ (2. Mose 4, 24.). Hilft uns das Wort aus Hosea (12, 4 f.): Jakob „hat in seiner Kraft mit Gott gekämpft. Er kämpfte mit dem Engel und siegte“? Mit Gott also und doch wieder nur mit einem Engel, einem Boten Gottes? Oder sollen wir die kühne Deutung Luthers wagen: Jesus Christus ist der Mann, der Mensch und Gott zugleich ist!? Müssen wir’s wissen, oder ist es vielleicht mit Absicht und gnädig bedeckt mit Nacht und Grauen? Es soll uns wohl genügen, zu erkennen, daß es um Leben und Tod geht bei diesem Kampf, so ernstlich wie es um Isaaks Leben gegangen ist bei dem geforderten Opfer Abrahams, und daß es, weil Jakob der Träger des Segens ist, um den Segen, um die Verheißung Gottes, um die Entscheidung auch für oder wider uns geht, um Gottes Gericht oder Gnade? Gott ist hier jedenfalls gegen Jakob, ist auf der Seite des betrogenen Esau. Gott verwehrt ihm den Zutritt zum heiligen Land, er soll nicht eingehen zur Ruhe des Volkes Gottes, wie er es später in seinem Zorn den ungläubigen Nachkommen Jakobs unter Mose geschworen hat (und von allen Israeliten aus Ägypten durften nur Josua und Kaleb über den Jordan um ihres Glaubens willen). Und doch ist Jakobs Kampf erfolgreich, doch muß der Unbekannte sehen, daß er ihn nicht bezwingen kann. Wie unsinnig scheint das, wenn jener Namenlose Gott ist oder Gott vertritt! Was kann ihn hindern? Ist Jakobs leibliche Kraft stärker oder sein Glaube oder sein Gebet? Gewiß nicht in dem Sinn, als ob eines Menschen Glaube oder Gebet der Allmacht Gottes und seinem freien Willen standhalten und trotzen könnten. Nein, die Kraft Jakobs ist es nicht, der Glaube und das Gebet der Christenheit ist es nicht, was uns den Weg freimachen könnte vor Gott, was uns auch nur eine Stunde vor Verderben und Tod schützen könnte, wenn Gott wider uns ist. Und Gott ist wider uns, so gewiß wir Fleisch sind und sterben müssen, so gewiß das heilige Land nicht der Himmel und das Reich Gottes ist, so gewiß Jakob einmal nur als Leiche hineinkommen wird, so gewiß Fleisch und Blut das Reich Gottes nicht ererben werden, so gewiß der König der Juden, der Auserwählte Gottes, Jesus Christus, am Kreuz sterben mußte. Jakob ist in die Hände des lebendigen Gottes gefallen, und der Schrecken seines Vaters Isaak — so hat Jakob Gott vor Laban genannt — ist über ihn hergefallen. Was ist mit Jakob, daß dieser Gegner nicht fertig wird mit ihm, daß dieser Schrecken ihn nicht [105] umbringt und dieser Fremde sogar bittet: Laß mich gehen, die Morgenröte bricht an? Gottes eigenes Wort, das er nicht zurücknimmt, Gottes eigener Segen, von dem er nichts abbricht, Gottes eigene Wahl, die ihn nicht gereut. Gottes eigene Treue, die eben göttlich und darum beständig und unveränderlich ist. Das ist Jakobs Kraft, das ist der Kern und auch die Grenze von Gottes Zorn, das ist die himmelhoch erhabene Göttlichkeit Gottes, auch wo er Mensch wird, auch wo er die Widerspenstigkeit und Unverbesserlichkeit des Menschen menschlich angreift und sie überfällt wie ein Dieb in der Nacht, wie ein Löwe und Bär am Wege, auch wo er sich verhüllt und verbirgt in den dunkelsten Anfechtungen seiner Zeugen, in den schwärzesten Drohungen seiner Boten und darüber hinaus in all dem, was unser aller Dasein täglich und nächtlich bedroht mit den Schatten des Todes und was unsre Wege und Wünsche, auch die reinsten und frömmsten, versperrt und verriegelt und was unser aller Leben zu einem so verzweifelten Kampf um Möglichkeit, um Zukunft und Hoffnung und Frieden macht. Da, gerade da dürfen wir es einander sagen und dürfen wir dieses seltsame Stück der Heilsgeschichte vom Ringen Jakobs mit Gott hören: er sah, daß er ihn nicht übermochte, denn so sagt Hosea zu Ephraim, wo allenthalben Lügen sind und falscher Gottesdienst im Hause Israel: „Was soll ich aus dir machen, Ephraim? Soll ich dich schützen, Israel? Aber mein Herz ist andern Sinnes, meine Barmherzigkeit ist zu brünstig, daß ich nicht tun will nach meinem Zorn, noch mich kehren, Ephraim gar zu verderben“ (11, 8 f.). Darum ist Jakob so stark, darum kann er sich erfolgreich wehren, darum ist der Schlag nicht tödlich, der ihm die Hüfte verrenkt und die Spannader zerreißt, und darum kommt es zu einer so erstaunlichen Wendung der Lage, daß Jakob offenbar eine ihm selbst unerklärliche Zuversicht zu diesem nächtlichen Feind bekommt. Der Mann will fort, er gibt den Kampf auf, ja er bittet, ihn loszulassen, weil die Morgenröte anbricht, und Jakob läßt nicht los, ist nicht froh über diesen Ausgang des langen Kampfes. Warum fürchtet der Mann den Tag? Ist es doch ein Gespenst, eine Gestalt aus dem Geister- und Totenreich? Ist es ein Verfluchter, dem das Licht versagt ist? Oder einer, der das Licht scheut, der nicht erkannt sein will? Wir wissen, welche Rolle Tag und Nacht in der Bibel spielen von der Schöpfung an bis zur ewigen Stadt, in der keine Nacht mehr [106] sein wird, weil Gott selber Sonne und Licht ist. Nacht ist das Zeichen der Gottesferne, der Gottwidrigkeit und Bosheit, der Verstocktheit und Verlorenheit, des Todes und der Hölle, und Tag das Zeichen der Güte Gottes, der Offenbarung und Erleuchtung, der Gnade und Wahrheit und so des Lebens und der Hoffnung. Und das Licht ist der Gegner und Besieger der Finsternis. Aber in Jesus will die Finsternis das Licht auslöschen, und sie hat ihre Stunde und ihren Sieg erhalten, als die Sonne ihren Schein verlor über Golgatha und das Licht der Welt im Dunkel des Grabes lag. Ist Jakob nicht immer wieder dunkle Wege gegangen, muß er nicht das Licht scheuen, hat nicht er in der Tat Angst vor dem kommenden Tag der Entscheidung? Ist er nicht der Vater des Volkes, das im Finstern wandelt? Wird sein Volk nicht einst hören müssen: „Weh denen, die den Tag des Herrn begehren! Was soll er euch? Denn des Herrn Tag ist Finsternis und nicht Licht“ (Amos 5,18). Werden nicht einst die Menschen sich verstecken und verbergen wollen in Klüften und Felsen am großen Tag seines Zorns? Und hier tauscht Gott die Rolle mit Jakob. Er weicht vor der Morgenröte, er fürchtet den Tag und bittet Jakob, ihn loszulassen, und Jakob wird die Sonne aufgehen an Pniel, er wird Gnade finden vor Esau, als sähe er Gottes Angesicht, und wird mit Frieden durchs Land ziehen. Um Jakobs willen hüllt sich der Mann in die Nacht, aus Schonung und Gnade stellt er sich, als fürchte er das Licht. Jakob müßte vergehen, Jakob wäre verloren, wenn Gott sich nicht gnädig verhüllen würde. Weh uns, wenn uns Gott offen begegnen würde, wenn er am Tag, im Licht seiner Heiligkeit und Macht mit uns streiten würde, und nicht verkleidet in unser armes Fleisch und Blut, nicht in der Gestalt der Sünde und des Todes. Darum die Finsternis am Sinai bei Gottes Erscheinen. Das ist ja die Kraft des Segens in Jakobs Leben, in der Kirche und durch sie in unserem Leben, daß Gott mit dabei blieb und bleibt im finstern Tal, daß die Sünde bedeckt ist, daß wir Zuflucht haben und bleiben dürfen im Schatten des Allmächtigen, daß Jakobs Segen ein verborgener Segen ist, weil Jakobs Gott fürwahr ein verborgener Gott ist. Kraft dieses verborgenen Segens — nicht Fleisch und Blut konnte ihm das offenbaren — hat Jakob nun die Entdeckung gemacht: nicht ich bin der Sieger, nicht ich habe diesen furchtbaren Kampf bestanden und mir [107] den Weg freigekämpft, nicht ich kann nun den Feind schonen oder vernichten, sondern dieser Mann da, den ich für meinen Feind hielt, dieser Unbekannte, den ich umklammere, der hat den Segen Gottes, der ist der Gesegnete des Herrn, der ist in Wahrheit der Sieger, der mich geschont hat, an dem habe ich mich vergriffen; geht er, dann ist mein Recht verwirkt und mein Segen dahin, dann steh ich da als gnadenloser Empörer und Gottesfeind. „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“ Das heißt nicht: jetzt erst recht, jetzt bist du in meiner Gewalt, jetzt will ich dich kennen, Unbekannter. Hüten wir uns ja, das zu leicht nachzusprechen, weil es so fromm klingt, weil es als ein so gläubiges und zuversichtliches Gebet erscheint. Es könnte ein Erpressungsversuch, ein großer Selbstbetrug sein; da könnte eine trotzige, eine verdammte und verlorene Kirche beten. Jakob hat hier kapituliert und nicht getrotzt. Das ist aus tiefer Not geredet, da spricht ein zerschlagenes Herz, ein geängstigter Geist, ein erschrockenes Gewissen. Es geht hier um den Segen Abrahams, um die Erwählung, um das Heil. Jakob hat hier, an der Grenze zum heiligen Land, Buße getan. Er ist mehr noch als Abraham und Isaak nur aus Gnade Erzvater. Er hat sich am meisten gewehrt gegen die Gnade, hat den Segen erschleichen und erzwingen wollen. Er ist als Sieger unterlegen, und die Gnade hat ihn im Unterliegen besiegt. „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!“ Das war Jakobs Bitte um Gnade, das war sein Damaskus, hier ist er vom Tod zum Leben durchgedrungen um jenes künftigen Sohnes willen, der nicht Gnade für sich brauchte, sondern die Gnade brachte für Jakob und Israel und uns alle, um des Gekreuzigten willen, der — wie der Hebräerbrief sagt — von Gottes Gnaden für alle den Tod schmeckte, um dessetwillen, der — wie Paulus schreibt — das gottlose Wesen von Jakob abwendete nach der Verheißung (Röm. 11, 26). Dieser Eine hat wirklich Gott nicht losgelassen in seiner Verlassenheit am Kreuz. Er hat sich verfluchen lassen als der Gesegnete und hat so die Sünde Jakobs versöhnt (Jes. 27, 9). Um Jesu willen allein hat es Jakob wagen dürfen zu bitten: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“. In Jesu Namen dürfen so die Auserwählten zu Gott schreien, und in Jesu Namen dürfen wir so auch unser Kreuz auf uns nehmen und die Anfechtung für eitel Freude halten und den verborgenen Segen umklammern, der in dem furchtbaren Gericht unserer [108] Zeit, in Angst und Einsamkeit, in Schuld und Versagen oder in der leiblichen Not, in Verarmung und Hunger jedem in besonderer Weise wie ein Feind begegnet, wobei doch alles Elend nur das Zeichen ist, daß Gott das Würmlein Jakob trösten wird und nicht wider uns ist, sondern für uns.
Jetzt, auf diese Bitte hin, hat der Fremde Jakob einen neuen Namen gegeben, den Namen Israel, den dann das Volk Gottes bis heute getragen hat und trägt. „Mit Gott und mit Menschen hast du gekämpft und bist obgelegen.“ „Mit Gott“: das hebräische Wort, das hier steht, heißt seltsamerweise beides: mit = gegen Gott und mit = im Bündnis, zusammen mit. In dieser Doppeldeutung ist Jakob der Gottesstreiter. Man müßte die ganze Bibel ausschreiben, um diesen Namen zu erklären. Wider und mit Gott im Streit. Der ganze Abfall, der Hochmut, der falsche Eifer, die Selbsthilfe Israels, und die ganze Gnade, die Herablassung, die Treue und Beständigkeit der Verheißung Gottes ist in diesem Namen. Kann es uns noch ein Rätsel sein, auf wen dieser Rätselname weist, wer mit Gott und mit Menschen gerungen hat, anders als Jakob, für Jakob, anstelle Jakobs? Mit Gott und Menschen gerungen: ist das nicht die Leidensgeschichte Jesu: Israel mit Gott gegen Christus. und Christus mit Israel gegen Gott? „Und bist obgelegen“: ist das Israel, das den Gekreuzigten verspottet, oder ist es Christus der Auferstandene?
Ja, Jakob hat allen Anlaß zu fragen: „Wie heißt du? Wer bist du?“, daß du mir diesen Namen geben darfst? So wird auch Mose fragen, und Saulus wird noch fragen: „Herr, wer bist du?“ Da werden Glauben und Zweifel immer zusammentreffen,“ in dieser Frage, betroffen, beunruhigt, zwischen Furcht und Hoffnung: „Wer ist der? bist du’s?“ „Wie lange hältst du unsere Seele auf? Bist du Christus, so sage es frei heraus. Ich habe es euch gesagt, und ihr glaubet nicht“ (Joh. 10, 24 f.). Ja, warum fragst du? Warum zweifelst du? Warum seid ihr so kleingläubig? Weißt du es nicht, hast du es nicht gehört? „Meine Schafe hören meine Stimme!“ Ach, wir hören immer wieder nicht und erkennen ihn nicht, weil es doch so unfaßlich ist, daß Er, Er selbst, da ist in seinem Wort und bei uns und mit uns und für uns ist und für uns streitet und den Müden Kraft gibt und Stärke genug den Unver-[109]mögenden. „Aber wer glaubt unserer Predigt, und wem wird der Arm des Herrn offenbar?“ „Ein Ochse kennt seinen Herrn und ein Esel die Krippe seines Herrn, aber Israel kennt’s nicht, und mein Volk vernimmt’s nicht“ (Jes. 1, 3). Ja, selbst die Jünger werden einmal den Auferstandenen nicht erkennen, werden sich fürchten und meinen, sie sähen ein Gespenst oder einen Geist. Wir entreißen ihm sein Geheimnis nicht. Aber er verwehrt uns das Fragen nicht. Er wird schon antworten, wenn seine Zeit da ist. Wir dürfen uns daran genügen lassen, daß wir erkannt sind, daß er uns mit Namen kennt und ruft, daß er uns Israel nennt und für uns gestritten und gesiegt hat, damit wir streiten und siegen können und siegen werden. Wir werden warten müssen, bis der Tag anbricht und der Morgenstern aufgeht in unseren Herzen. Wir werden nicht vergessen dürfen, daß Jakobs Hüfte verrenkt ist, daß nicht bloß die Welt eine gebrechliche Einrichtung ist, sondern gerade die Kirche ihren Schatz in irdenen Gefäßen hat; daß die Helden der Bibel, gerade Jakob, gerade David und Salomo und Petrus und Paulus, sehr gebrechliche Gestalten sind, daß da gerade der Pfahl im Fleisch nicht verleugnet wird. Wo ist der Ruhm der Kirche? Er ist ausgeschlossen. Den Namen, der über alle Namen ist, hat die Kirche nicht nur angerufen, geehrt und geheiligt, sondern mehr noch mißbraucht, gelästert und geschändet. Wir tragen diesen Namen, ohne ihm Ehre zu machen, und Gott muß ihn selber in unserer Schande verhüllt heiligen. Warum fragst du, wie ich heiße? Ich habe dir gesagt, wenn du glauben würdest, so solltest du die Herrlichkeit Gottes sehen! „Und er segnete ihn daselbst.“ Da ist schon die Antwort. Mit dem Segen des Herrn endet der Kampf. So und nur so ist nun Jakob der Sieger. Wie leicht sagen wir’s: „An Gottes Segen ist alles gelegen.“ Wie selten glauben wir das Wörtlein „alles“ dabei. Und wie selten glauben wir, daß wir als Israel die Gesegneten des Herrn sind, so gewiß der Herr segnend von den Jüngern aufgefahren ist und sitzet zur Rechten der Majestät. Jetzt ist die Sünde vergeben, die Angst dahin, das Fragenerledigt. „Und Jakob hieß die Stätte Pniel, denn ich habe Gott von Angesicht gesehen, und meine Seele ist genesen.“ Nun kann er glauben und sogar sagen, er habe Gott von Angesicht gesehen. Mit diesem Segen hat Gott sein Angesicht erhaben und leuchten lassen über ihn, hat ihm seine Gnade und Wahrheit im Herzen bestätigt, und im [110] Dunkel und Geheimnis und in der Verhüllung hat er die Herrlichkeit Gottes gesehen. Seine Seele ist genesen! Wissen wir, was das heißt? Meinen wir, das sei bloß so ein Aufatmen aus gedrückter Stimmung, Rückkehr von Mut und Entschlossenheit und Hoffnung nach Anfechtung und Niedergeschlagenheit? Gewiß fehlt das nicht, aber Jakobs Seele ist genesen. Israel ist geheilt. Das Volk Gottes ist aus dem Tod gerufen zum Leben, aus dem Gericht zur Gewißheit des ewigen Lebens. Zu den Ostertexten der Kirche gehört diese Geschichte mit Recht, denn da ist erfüllt, was Jakob geschah, als die Morgenröte aufging und die Sonne hervorbrach. „Ihm ging die Sonne auf“, heißt es, als ob sie nur für Jakob und nicht für die ganze Erde, über Gute und Böse, aufgehe und scheine. Wir starren immer wieder in das Dunkel unseres Lebens, unserer Zeit und Zukunft, lassen uns bannen und halten von der Nacht, die wir nicht zum Tag machen können, auch nicht im besten Leben. Aber Jakobs böse und leidvolle Wallfahrt ist schon Zeugnis von Ostern, von dem Aufgang und Sieg des ewigen Lichts. In Christus ist es wahr, daß wir leben dürfen, und nicht nur hier in der Fremde und im Elend, sondern „ewig“; aber auch hier, auch in den schlimmsten Engpässen sehr getrost und fröhlich, auch als die Sterbenden, auch unter dem, was wir so töricht und neutral Schicksalsschläge nennen, gerade so, gerade mit verrenkter Hüfte als das Israel Gottes, dessen Hoffnung nicht zuschanden wird, das wohl aus der Tiefe rufen muß wie der Psalmist: „Gott Zebaoth, wende dich doch, schaue vom Himmel und sieh an und suche heim deinen Weinstock und halt ihn im Bau, den deine Rechte gepflanzt hat und den du dir fest erwählt hast, so wollen wir nicht von dir weichen. Laß uns leben, so wollen wir deinen Namen anrufen. Herr, Gott Zebaoth, tröste uns, laß dein Antlitz leuchten: so genesen wir“ (Psalm 80, 15-20).
Aber das Gebet des Gerechten dringt durch die Wolken, und du wirst rufen, so wird er dir antworten; wenn du wirst schreien, wird er sagen: „Siehe, hier bin ich, dein Licht wird aufgehen in der Finsternis, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag.“ Der Herr wird dich immerdar führen und deine Seele sättigen in der Dürre und deine Gebeine stärken“ (Jes. 58, 9ff.). Haben wir auch nur ein wenig von unserem wunderlichen Text verstanden als verhüllte und doch deutliche Verheißung an uns, als Zeugnis des Ostersieges für die zagenden Jünger, so werden wir nicht ungetröstet von Pniel und Ostern kommen und nicht ungestärkt unsere Straße ziehen und als Israel rechter Art bekennen: „O sieh, in Nacht und Nöten ziehn wir die steile Bahn. Nach deinen Morgenröten wir wandern himmelan. Wir gehen dir entgegen durch dieses Graun der Welt, Du bist’s doch allerwegen, der uns die Treue hält.“ Denn „Selig, ja selig ist der zu nennen, des Hilfe der Gott Jakobs ist, welcher vom Glauben sich nicht läßt trennen und hofft getrost auf Jesum Christ.“ Amen.
Quelle: Paul Schempp, Predigten aus den Jahren 1939-1955, aus dem Nachlass herausgegeben von Ernst Bizer, Bad Cannstatt: Müllerschön 1960, 101-111.