Hans Joachim Iwand – Zur Versöhnungslehre (nach 2Korinther 5,18-22): „Nun stoßen wir auf das Höchste und Tiefste, auf die eigentliche Goldader der Heiligen Schrift“

Weyden - Crucifixion (Triptych)

Da hat Hans Joachim Iwand in seinem Vortrag zur Versöhnungslehre die „Goldader der Heiligen Schrift“ freigelegt – mit seiner Auslegung zu 2. Korinther 5,18-22:

Zur Versöhnungslehre

Von Hans Joachim Iwand

Die christliche Lehre von der Versöhnung ist das Zentrum unseres Glaubens. Einer ihrer besten Vertreter aus dem 19. Jahrhundert, Martin Kähler, hat gesagt, „alle biblischen, dogmatischen, ethischen Studien haben mich auf die Frage von der Versöhnung durch Christum ge­führt, wie dieselbe die unabtrennbare andere Seite, nämlich die Grund­lage der Rechtfertigung durch den Glauben ist“.

Man wird bei dieser Gelegenheit auch an August Tholuck erinnern dürfen, der die Lehre von der Versöhnung wieder neu und lebendig hervorhob, nachdem sie in der Aufklärungszeit gänzlich verfallen war. Wenn ihn auch heute kaum noch jemand kennt und liest, so ist es doch nützlich, daran zu erinnern, daß es Tholucks „Lehre von der Sünde und vom Versöhner oder die Wahre Weihe des Zweiflers“ war, womit die Versöhnungslehre im 19. Jahrhundert wieder neu ins Bewußtsein der Christenheit eintrat. Martin Kähler und viele andere — selbst Wil­helm Herrmann wird man hier nicht vergessen dürfen — stehen noch ganz im Banne dieser großen Tradition. Darin dürfte Kähler recht haben, daß mit der Lehre von der Versöhnung das Zentrum des christlichen Glaubens wieder gefunden wurde.

Wir stehen, sobald wir uns auf sie beziehen, in der Mitte der großen Gottesstadt, wo alle Radien aus den anderen Bereichen und Bezirken zusammenlaufen. Von hier aus kann man das ganze übersehen; wem diese Mitte fehlt, dem fehlt auch das Bewußtsein der Ganzheit, dem fehlt die Anschaulichkeit und Einheitlichkeit seines Glaubens.

Wir wollen versuchen, uns das an einem Beispiel deutlich zu machen. Abgesehen von den vielen, kaum übersehbaren Fragen, die unser Thema in der Theologiegeschichte gefunden hat, seit Anselm von Canterbury (1033-1109) und Abaelard (1072-1142), seinen beiden so gegen­sätzlichen Vertretern bis in die Gegenwart hinein, muß es doch einen Punkt geben, an dem uns ansichtig wird, was das Christen­tum meint, wenn es von der Lehre von der Versöhnung spricht. Was ist das Gegenteil dazu? Kann man sich auch ein Gottesverhältnis den-[215]ken, in dem die Versöhnungslehre keine Rolle spielt oder nur eine untergeordnete? Von hier aus wird das Eigentümliche der biblischen Offenbarung verständlich. In der Bibel wird immer, auch im Alten Testament, von Gott im Blick und in Beziehung auf die Versöhnung geredet. Das ist anders bei der Philosophie, weithin auch anders bei unseren großen Dichtern, es ist anders überall da, wo man an ein immanentes Gottesbewußtsein anknüpft, das in der mensch­lichen Natur angelegt ist, und das man entfalten möchte. Und es ist ver­ständlich, wenn es nichts anderes gäbe, an dem wir uns in unserer Frage nach Gott zu orientieren hätten, als eben jenes in uns lebendige Gefühl einer Abhängigkeit von einem überweltlichen Wesen oder eines panthe­istischen Einsseins mit Gott — dann würden wir niemals auf die Versöhnung stoßen, als das eigentliche Thema des Verhältnisses Gottes zu uns.

Es liegt nicht an uns, daß von Versöhnung die Rede ist, sondern an Gott. Die Natur des Menschen ist nicht dazu angelegt. Wenn man ihr selbst ihren Lauf läßt, sucht sie Gott auf ganz anderen Wegen und in ganz anderen Erfahrungen und Bildern. Sie möchte eher Gott ver­söhnen als sich von ihm versöhnen lassen.

Wer aber den wirklichen Gott findet, nicht einen erdachten oder erträumten, sondern den Gott, der uns mit sich versöhnte als wir noch Feinde waren, der uns rettet, wo wir verloren gehen, der frei und wunderbar auf dem Plan ist, um sich als Herr und Versöhner der Welt und der Menschen zu erweisen, eben der Welt, die von ihm her und auf ihn hin ist, der wird den Unterschied empfinden, der zwischen der Bibel und ihrem Reden von Gott auf der einen Seite und unserem Denken und Empfinden auf der anderen Seite besteht. Die Bibel nennt dieses versöhnende Handeln Gottes in Jesus Christus darum gern ein Mysterium, das heißt ein Geheimnis Gottes, das sich nur von Gott her erschließt, das wir nicht von außen aufbrechen oder enträtseln können, und so ist es nicht der Gott der Philosophen, wie Pascal ihn genannt hat, um den es in der Lehre von der Versöhnung geht, sondern es ist der Gott Israels, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der Gott des Alten und des Neuen Bundes, um den es uns dabei zu tun ist. Wir treten mit dieser Frage heraus aus der Welt der Aufklärung und aus der Stimmung des Pantheismus, wo es nirgend zu einem echten Gegen­über kommt zwischen Gott und uns.

Wer Gott ist und wer ich bin, das bleibt dort auf immer verborgen. [216] Erst da, wo Gott selbst als Versöhner auf den Plan tritt, offenbart er sich als der, der er ist und macht zugleich offenbar, wer ich bin.

Vielleicht hat Calvin, in dessen Theologie die Versöhnung eine so bedeutende Rolle spielt, eben darum die These in den Vordergrund gestellt, daß es in der christlichen Religion um die Frage geht, wer Gott ist und wer ich bin.

Ich kann das nicht ermessen und verstehen aus der bloßen Erinne­rung daran, daß Gott mich geschaffen hat oder daß ich ein endliches Wesen bin im Verhältnis zu ihm als dem Unendli­chen, daß Gott uns allerorten umgibt oder daß er in uns wohnt, wie er in allem Leben­digen lebt und ist, denn damit ist er noch nicht herausgetreten, hat sich noch nicht gezeigt in seinem Gottsein, ist nicht zu fassen nach dem, was er ist. Hier gibt es kein echtes Gegenüber zu ihm und ich kann nicht zu ihm sagen: ,,Mein Herr und mein Gott“, hier ist er überall und nirgend­wo. Aber da, wo er als der Versöhner auf den Plan tritt in seinem Bund, wo er mitten unter uns gegenwärtig sein will, darf es dann heißen: Kommet und seht! Da heißt es Jerusalem und Gol­gatha, da heißt es Jesus Christus, der Herr!

 II.

Wer meint, der Versöhnung mit Gott entraten zu können, wer also den Gott sucht, mit dem er je schon eins ist, ehe denn Gott diese Einheit herstellt, dem wird darum immer wieder die Schrift leer er­scheinen, er wird sich anderen, leichter eingänglichen Gedanken und Empfin­dungen über Gott und das Göttliche hingeben. Denn der Gott des Bundes, des Alten wie des Neuen, des Bundes von Sinai und des Bundes von Golgatha will als der erkannt und geglaubt sein, der als der Versöhner sich zu uns und uns zu sich ins Verhältnis setzt, der, wie es Karl Barth in seiner neuen groß angelegten Versöhnungslehre voranstellt: „Mit uns ist!“

Wir wollen uns das an einer besonders inhaltreichen Stelle des Neuen Testamentes deutlich machen, denn vom Neuen empfängt ja auch das Alte sein Licht und seine Rechtfertigung: 2. Korinther 5,18-22. Man könnte sagen, daß hier wirklich an einem Punkte alles zusammenge­faßt ist, was für die Lehre von der Versöhnung entscheidend ist. Jeder dieser gewichtigen Sätze ist ein Glaubensartikel für sich.

1. Es geht aus Vers 17 hervor, daß es sich in der Versöhnung um [217] eine neue Schöpfung handelt, nicht nur um eine Besserung und Restau­rierung des alten Menschen. „Wer in Christus ist, ist eine neue Krea­tur.“ Paulus meint doch wohl, daß Gott da, wo er in Jesus Christus als Versöhner am Werke ist, uns als Schöpfer begegnet und daß wir sein ganzes Versöhnungswerk anschauen dürfen, als wenn wir das eigentlichste und tiefste Geheimnis unseres Lebens anschauten. Wir dürfen dabei sein und sehen, wie Gott das Wunder des Lebens an uns tut! Das ist mehr als das bloße Wunder des. Geborenseins und des Existierens, dies erst ist seine Erfüllung. Hier ist Werden und Erkennen eins.

Dies Wunder ist 2. dies, daß es Gott war, der in Jesus Christus die Welt mit sich versöhnte. Es geht um die Gegenwart Gottes in dem einen Menschen Jesus Christus, der für uns gestorben und auferstan­den ist. In Jesus ist Gott, die Welt mit sich versöhnend, am Werk. So ist er in dem Menschen Jesus unter uns getreten und so will er von uns geglaubt und angenommen sein, daß wir uns ihm versöhnen lassen. Nur ein Schatten, nur ein fernes, dunkles, trübes Ahnen ist alles angeborene, im Menschen verbliebene Gottesbewußtsein gegen­über dieser seiner Herrlichkeit, die unser Bitten und Verstehen weit überragt.

Aber es gibt nicht nur die Versöhnungstat Gottes in Jesus Christus, sondern

3. zugleich den Dienst der Versöhnung. Wie die Sonne nicht auf­gehen kann, ohne daß ihre Strahlen über die Erde laufen, so hat Gott mit der Tat der Versöhnung auch das Amt der Versöhnung gesetzt. Das ist der Dienst der Kirche. Was auch immer in der Kirche geschieht, es sollte nichts anderes sein als die Fortsetzung dieses Ereignisses dieser unerhörten Gottes­nähe und Gottesfreundlichkeit, wie sie in Jesus Chri­stus ein-für-allemal Wirklichkeit gewor­den ist. Diese Sonne sollte nim­mermehr untergehen. Das, was geschah, da Gott in Jesus Christus die Welt mit sich versöhnte, indem „er uns die Sünden nicht anrech­nete“, sollte allerorten geschehen, wo das Wort von der Versöhnung, das heißt wo die Versöhnung in der Kraft des Wortes Gottes ver­kündet wird. Man achte wohl darauf, daß das „Wort von der Ver­söhnung“ nicht an sich durch die Welt läuft, es ist ein besonderer Dienst dazu nötig, damit die Welt, die dieses Wort nicht begriffen hat, immer aufs neue von ihm ergriffen und angesprochen wird.

Wenn wir uns nun aber fragen, worin denn diese Versöhnung besteht, so stoßen wir [218]

4. auf jenen Begriff, der in der Geschichte der Theologie und des Glaubens, insbesondere seit Augustin und Luther, eine so große Rolle spielte, der Begriff der Nichtanrechnung. Luther hat einmal gesagt, diese Nichtanrechnung sollte man nicht gering achten, denn sie bedeute mehr als Himmel und Erde. Wir sind von Natur aus geneigt, nach etwas „Positivem“ Ausschau zu halten, aber die Schrift sagt uns hier (man könnte auch an Römer 4,8; Psalm 32 denken), daß das erste Wort, welches ein Mensch vernimmt, wenn er versöhnt wird mit Gott, ein Nein ist, ein scheinbar negatives und doch ist dieses Nein, das eigentliche und letzte Positivum unseres neuen Lebens. Das Nein be­sagt: In Gottes Augen bist du nicht der, der du in deinen und der anderen Menschen Augen bist, in Gottes Augen bist du um Jesu Christi willen auf immer geschieden und getrennt von deinen Sünden und Verfehlungen. Wie sollen wir das verstehen? Stellen wir uns vor, die Welt wäre wie ein großes Meer, wir müßten uns über Wasser halten, da ist aber eine Last, die zieht uns in die Tiefe, sie ist an uns gehängt mit unserer eigenen Natur, es ist ein Gefälle in uns, das uns nach unten reißt, wie einen Stein in die Tiefe. Es kennt niemand das geheime Ge­füge, wo wir und unsere Verfehlungen miteinander in eins verfloch­ten sind. Die menschliche Natur ist nicht einfach identisch mit ihrer Sünde und auf der ande­ren Seite hat doch die Sünde ihre Wurzeln in eben dieser Natur. Niemand kann das auseinan­dernehmen, ohne darüber entweder oberflächlich oder schwermütig zu werden. Das Wort der „Nichtanrechnung“ aber heißt, daß Gott in Jesus das Nein zu uns ge­sprochen hat, welches die Schuld von uns scheidet und so den Menschen errettet. Er spricht ein absolutes, von keinem irdischen und keinem himmlischen Gericht umzustoßendes Nein. Er trennt mich selbst von meinen eigenen Verfehlungen, so daß ich mich an sein Urteil halten darf, er stellt sein gött­liches Nein zwischen mich und meine Sünden, so daß nichts und niemand herüber und hinü­ber kommen kann, Jesus Christus steht dazwischen. Dieses Nein Gottes, eine Nichtanrech­nung! — ist tausendmal mehr als alle Ja des sogenannten „positiven Christen­tums“ (wir haben dies Wort wohl noch in den Ohren!), mögen sie unserem alten Adam noch so gut gefallen. Erst muß der Mensch dieses Nein Gottes glauben lernen, erst muß er erfahren, daß Jesus Christus in der Mitte ist, dort, wo niemand sonst hintreten kann, der uns scheidet von jener Welt des Bösen und Sündhaften und sagt: Nein, dieser Mensch gehört nicht euch, sondern mir. Das ist der Trost des Evangeliums, Gottes Zuspruch; daß mit seiner Nichtanrechnung unse-[219]rer Schuld eine neue Zeit und ein neuer Mensch heraufgeführt wird, denn

5. der Welt, nicht nur der Kirche gilt die Versöhnung. Es heißt nicht: Gott war es, der in Christus die Kirche reinigte, sondern es heißt: der die Welt mit sich versöhnte. Das bedeutet, daß die Versöhnung all denen zukommt, die dieser verlorenen und entstellten Welt angehören und verhaftet sind. Die Nichtanrechnung der Sünden ist kein Privileg, das nur besonderen Menschen gilt, besonders ernsten, besonders from­men, besonders unter ihrer Schuld leidenden, denen natürlich auch! Aber die Versöhnung gilt vorbehaltlos. Mit diesem Nein Gottes — und hier dürfen wir sagen, mit diesem im Blute Christi bekräftigten und befestigten Nein ist Ähnliches geschehen wie am Beginn der Schöpfung, als Gott Licht und Finsternis schied. So scheidet sein Nein die Welt und unsere Verfehlungen voneinander in einer uns wahrhaft erlösen­den und rettenden Tat, scheidet das Sein vom Nichts, das Leben vom Tod, die Gerechtigkeit Gottes von unserer Ungerechtigkeit. So muß man das lesen, was hier geschrieben ist: Er versöhnte die Welt mit ihm selber, indem er uns unsere Übertretungen nicht zurechnete.

Das ganze ist aber

6. nur auszudrücken in der Weise der Aufforderung und der Einladung: „Laßt euch versöhnen mit Gott“. Die Art und Weise, wie Gott das Werk der Versöhnung an uns heranbringt, geschieht in der Form der Bitte (wie im Abendmahl), zu nehmen, was er für uns bereitet hat. Auch das zeigt eine neue Lage an. Unsere Existenz haben wir uns nicht wählen können, wir haben sie als unsere Bestimmung empfangen. Bei unserer ersten Schöpfung, wenn wir das so sagen dürfen, sind wir nicht mitbeteiligt gewesen, da sprach Gott und es geschah. So soll es jetzt nicht sein. Gott will uns dabei haben als die Genossen seines Bundes, als solche, die in seine Hand einschlagen und das Ja des Menschen, des Menschen im neuen Bunde, dazu sprechen, ein Ja, mit dem wir auf das Nein Gottes, auf seine Nichtanrechnung im Glauben antworten und die Versöhnung als Gottes Gnadenurteil annehmen. Gott selbst will seinen Bund mit freien weil befreiten Menschen schließen. Das freie Ja zu seiner Gnade soll das Tor sein, durch das wir ins neue Leben treten. Die Tat der Versöhnung wird also nicht mein durch Tradition und Sitte, durch Erziehung und was dieser Wege mehr sind, durch die sich kultu­relle Eigenschaften von Generation zu Generation übertra­gen, sondern hier ist der Augenblick alles, hier heißt es: Heute, so ihr meine Stimme höret, verstocket eure Herzen nicht! Psalm 95; Hebräer [220] 3,7. Ich muß heraustreten aus dem, woraus ich herausgerufen bin, und einschla­gen in die Hand Gottes. „Du reichst mir deine durchgrabene Hand, die so viel Treue an mich gewandt.“ Es ist sehr wesentlich, daß dieser Akt der Freiheit in der Kirche nicht verloren geht, denn mit ihm würde die Freude und das Aktuelle der Begegnung mit der Gnade Gottes schlechthin verloren gehen. Das also heißt Versöhnung mit Gott. Sie ist der Inbegriff des großen Freudentages, an dem Gottes Werk in Jesus Christus in uns, in unserer Welt, zu seinem Ziele kommt. Nur, daß sich niemand täusche über den Preis. Das ist nämlich

7. das Seltsame, daß wir hier am letzten Ende dieses ganzen Ge­schehens meinen könnten, das bloße Angebot der Gnade Gottes könnte genügen. Wo dem Menschen etwas so großes ange­boten würde, da müsse jeder den Platz verlassen, an dem er steht, müsse von den Ecken und Gassen weglaufen, wo er sich befindet, um der Einladung zu fol­gen, zu der er hier gerufen ist. Aber das ist ein Irrtum. Das Kommen und sich Versöhnenlassen geht nicht so leicht. Sie kom­men eben nicht, die Geladenen kommen nicht, die Erwählten nehmen es nicht an. Wenn Gott das Werk der Versöhnung nur auf den Ruf seiner Boten gegrün­det hätte — manche meinen das ja —, dann würde diese Botschaft leer und nutzlos verhallen. Das Versöhnungswort Got­tes, mit dem er uns gerettet hat, das wir im Ja zu ihm ergreifen sollen, „sollen“, weil wir es „dürfen“ und ergreifen „dürfen« weil wir es „sollen“, dieses Nein Gottes muß uns so vor Augen gestellt werden, daß es mehr ist als ein Wort, ein Begriff und ein Spiel mit Begriffen.

Nun stoßen wir auf das Höchste und Tiefste, auf die eigentliche Goldader der Heiligen Schrift, in jene Tiefe, wo wir empfinden, daß in ihr Dinge gesagt und gedacht sind, wie man sie bei keinem Philo­sophen finden kann, denn nun gelangen wir an das eigentliche Funda­ment der Versöhnungslehre: „Er hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir würden die Gerechtigkeit Gottes in ihm.“ Das ist einer der Sätze, auf die man ster­ben kann, weil sie einen Trost bieten, der stärker ist als der Tod. Und wenn man in seinem ganzen Leben nichts anderes begriffen hätte als dies — und diese Sache ist gar nicht so ein­fach zu begreifen, einmal ist man ihr näher und dann wieder weiter von ihr entfernt, man muß immer tiefer und inniger darum ringen, in ihre Mitte zu gelangen, sich dort festzuhalten, mit seinem ganzen Sein und Leben — dann hätte man nicht umsonst gelebt. Hier erst wird ganz deutlich, wer Gott ist und was er in Jesus Christus an uns getan hat und wer wir selbst sind. Hier erst weiß [221] man, was es heißt: Crux unica spes! — Das Kreuz die einzige Hoff­nung. — Hier begreift man, daß man das neue, göttliche Leben nicht beginnen kann, ohne diesen Wechsel. Wir müssen aufhören von unse­rer Gerechtigkeit zu leben und anfangen, mit Jesus Christus unserer eigenen Ungerechtigkeit zu sterben. Dieser von Gott in den Tod gege­bene Mensch Jesu Christus ist die, das behauptet hier Paulus, univer­sale, die dich und mich und alle Welt ganz umfassende Sünde im Feuer des göttlichen Gerichtes. Ich und wir haben sie nie ganz ernst genom­men, aber Gott hat sie ernst genommen. Hier und so, in seinem Todesgang, wirklich in seinem Blute, hat Jesus Christus den Menschen auf die Seite der göttlichen Gerechtigkeit gezogen, hat ihn bekleidet mit dem Kleid eines neuen Seins. Hier ist Jesus im Gehorsam gegen Gott hinausgegangen in die Nacht der Gottverlassenheit, in die Tiefe, die keiner von uns ermessen kann, damit wir in den Besitz derjenigen Gerechtigkeit kämen, die nicht den Menschen, sondern Gott zum Sub­jekt hat. Versöhnung heißt also, daß uns Gott im Opfer Jesu Christi einen realen Seinsgrund geschaffen hat, auf Grund dessen wir sie an­neh­men, weil wir in diesem Versöhnungstode Jesu angenommen sind. Wer diesen Grund weg­nimmt, wer meint, es genüge, zu verkündigen, daß Gott gut ist, daß er barmherzig ist, wer darauf allein die Ver­söhnung gründen möchte, der hat den großen Ernst Gottes, der hat das, was wir in der Theologen-Sprache die stellvertretende Genugtuung nennen, gestrichen: „Er hat meine Sünde zu seiner gemacht und seine Gerechtigkeit zu meiner“ (Luther). Das ist der fröhliche Wechsel und in Wahrheit die „Transsubstantion“ von Sünde und Gerechtigkeit.

Quelle: Hans Joachim Iwand, Um den rechten Glauben. Gesammelte Aufsätze, hg. v. Karl Gerhard Steck, TB 9, München: Chr. Kaiser 21965, 214-221. Zuerst veröffentlicht in: Das tat Gott. Bericht und Besinnung einer Bruderschaft, fünfzig Jahre Bahnau, Unterweissach: Buchhandlung der Bahnauer Missionsschule 1956, 208-216.

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