Protestantismus als bürgerliche Ideologie: „Wo das Heil in zeitlos gedachten Ideen „Gott“, „Freiheit“, „Unsterblichkeit“ bzw. „Glauben“ gesucht wird, kann man diese intellektuell vereinnahmen. Im eigenen Denken kann sich jedenfalls kein Unheil ereignen.“

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Protestantismus als bürgerliche Ideologie

Die Reden für das Reformationsfest 2017 in Wittenberg sind in Gedanken schon längst geschrieben; es sind Eulogien auf die individuelle Gewissensfreiheit und die Rechtfertigung allein aus Glauben. Der Protestantismus weiß sich selbst auf feuilletoneloquente Weise zu feiern. Das einzige Unpassende sind jedoch Ort und Anlass. Nicht in Wittenberg wurde mit einem Thesenanschlag der Protestantismus ins Leben gerufen, sondern vierzig Jahre früher in Florenz, ist doch Marsilio Ficino mit seinem „Buch über die christliche Religion“ (Liber de Christiana religione) von 1474 und nicht etwa Martin Luther der wahre Ahnherr des Protestantismus. Protestantismus und Reformation sind zwei verschiedene Angelegenheiten. Was die Reformation beabsichtigt hatte, war eine evangeliumsgemäße Reform der Kirche an Haupt und Glieder, nicht aber eine bürgerliche Emanzipation von der Kirche im Namen einer eigenen Religiosität. Der Protestantismus ist eine bürgerliche Ideologie, die sich zu Unrecht auf Martin Luther beruft. Würde Luther in der Gegenwart zu verorten sein, stünde dieser der nachkonzilaren römisch-katholischen Kirche wesentlich näher als einem liberalprotestantischen Bürgertum.

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Johann Gottfried Herder

Das große Missverständnis des Protestantismus ist, dass Luthers evangelische Kritik an der spätmittelalterlichen Kirche und deren Lehre in eine allgemeine Idee religiöser Gewissensfreiheit umgemünzt wird, so wie dies schon von Johann Gottfried Herder ausgesprochen worden ist: „Freiheit ist der Grundstein aller protestantischen Kirchen, wie schon ihr Name sagt.“[1] Eine spezifisch protestantische Freiheit wird seit August Detlev Christian Twesten bzw. Albrecht Ritschl unter zwei Prinzipien gefasst, dem sola scriptura (allein die Schrift) als „Formalprinzip“ und der Rechtfertigung allein aus Glauben als „Materialprinzip“.[2] Was so vertraut „evangelisch“ klingt, entpuppt sich als antikirchliche Ideologie, die wenig mit Luther gemein hat.

Rechtfertigung allein aus Glauben

Wenn von einem protestantischen Prinzip der Rechtfertigung allein aus Glauben die Rede ist, wird damit eben nicht mit den Worten aus Luthers Kleinem Katechismus bekannt, dass Christus „mein Herr“ sei, der mit seinem unschuldigen Leiden und Sterben „mich verlornen und verdammten Menschen erlöset hat“, „damit ich sein eigen sei und in seinem Reich unter ihm lebe und ihm diene in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit.“ Bei der Rechtfertigung des Sünders geht es nicht um die selbständige Würde der Person in deren Gläubigkeit, sondern um die Vereinnahmung des eigenen Lebens durch das Pascha-Mysterium Christi, die wider alle Sünde zu glauben ist. Die evangelische Rechtfertigungslehre ist die menschliche Antwort auf Jesu Wort am Kreuz „Es ist vollbracht!“ (Joh 19,30). Dem Kreuzesgeschehen ist menschlicherseits nichts hinzuzufügen.

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Rechtfertigung allein aus Glauben steht gegen einen Heilssynergismus, der die Gültigkeit des Kreuzesgeschehens von einer menschenmöglichen Ergänzung – und sei es auch nur in Gestalt einer gläubigen Rezeption – abhängig zu machen sucht.[3] Rechtfertigung des Sünders allein aus Glauben ist freilich kein Heilsprinzip, das denkerisch verinnerlicht werden kann, sondern ein Geschehen, das von der Christusgegenwart in Wort und Sakrament abhängt, wie dies in Artikel 5 des Augsburger Bekenntnisses ausgesagt ist: „Solchen Glauben zu erlangen hat Gott das Predigtamt eingesetzt, Evangelium und Sakramente gegeben, dadurch er, als durch Mittel, den heiligen Geist gibt, welcher den Glauben, wo und wann er will, in denen, die das Evangelium hören, wirkt, welches lehrt, dass wir durch Christi Verdienst, nicht durch unser Verdienst, einen gnädigen Gott haben, so wir solches glauben.“ Der wort- bzw. sakramental gewirkte Glaube steht einer eigenen habituellen Gläubigkeit entgegen. Gerade wegen der Rechtfertigung allein aus Glauben leben Christen in einer bleibenden Abhängigkeit von einer kommunizierten Christuspräsenz. Die Christuspräsenz wiederum bindet den Glauben an die Kirche als „die Versammlung aller Gläubigen, bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente dem Evangelium gemäß gereicht werden“ (CA 7).

Die evangelische Freiheit hat mit dem Versuch eigener Selbstverwirklichung nichts gemein und existiert daher gerade nicht außerhalb der Kirche. In der lebenslang bleibenden Christusabhängigkeit, die je aufs Neue zugesprochen sein will, bleibt man vielmehr auf die Kirche angewiesen. Mit Luther gesprochen: „Wer Christus finden soll, der muss die Kirche zuerst finden.“[4] Die Kirche gilt mit den Worten des Großen Katechismus als „Mutter“, die „einen jeden Christen zeugt und trägt durch das Wort Gottes.“[5]

Der Protestantismus hingegen ideologisiert die Rechtfertigung des Sünders und kann damit die bürgerliche Unabhängigkeit in Sachen Kirche erklären. Rechtfertigung als Idee, die selbst denkerisch vergegenwärtigt kann, bedarf keiner kirchlichen Kommunikation des Evangeliums. Protestanten, die mit ihrer eigenen Bürgerlichkeit schließlich wer sein wollen, können sich eingedenk der subjektivitätstheologischen Mantra „Rechtfertigung allein aus Glauben“ den sonntäglichen Kirchgang und damit die Eingemeindung unter das gewöhnliche Kirchen(rest)volk schenken. Als protestantischer Pfarrer wiederum kann man sich den Zuspruch des Evangeliums Jesu Christi im Gottesdienst ersparen und darf stattdessen seine Zuhörer – die ja um ihrer gottwohlgefälligen Annahme im Glauben längst wissen – mit geistreichen Beiträgen in Sachen ultimativer Sinnfindung und bürgerlicher Lebensgestaltung beglücken. Unter dem „Reflexionsschema der Subjektivität“ (Mildenberger) glaubt der Protestant letztendlich seinem eigenen „christlichen Glauben“. Dank solcher Apotheose eigener Gläubigkeit erübrigt sich auf Dauer eine leibliche Kirchenzugehörigkeit.

Marsilio Ficino, Cristoforo Landino, Angelo Poliziano und Gentile de' Becchi

Marsilio Ficino (links) mit Cristoforo Landino, Angelo Poliziano und Gentile de‘ Becchi

Die Frage stellt sich nun, wie es nun zu einer Ideologisierung der „christlichen Gläubigkeit“ gekommen ist. Bei den Reformatoren lässt sich dazu jedenfalls keinen Anhalt finden, ist ihnen doch jeglicher soteriologischer Autismus unbekannt. Die Wurzeln des neuzeitlichen Subjektivismus liegen jenseits der Alpen, im florentinischen Renaissanceplatonismus eines Marsilius Ficino. Ihm ist es zu verdanken, dass die Schriften Platos zusammen mit den neuplatonischen Werken Plotins, Porphurius und Proklus ins Lateinischen übersetzt und damit einem aufkommenden Bildungsbürgertum zugänglich gemacht worden sind. Der Platonismus wurde von Marsilius Ficino in seinen grundlegenden Werken Theologia Platonica sowie De religio christiana als religiöse Heilslehre vorgestellt.[6] Der Ausgangspunkt hierzu ist die Lehre von der Unsterblichkeit bzw. Göttlichkeit der menschlichen Seele. Im Akt einer außer- bzw. übersinnlichen Kontemplation vollzieht sich der innere Aufstieg der Seele zu Gott. Das eigene Seelenheil wird damit in der Erkenntnis gesucht. Ein solcher soteriologischer Kognitivismus ergänzt um die affektive Gottesliebe richtet sich auf übersinnliche, transempirische Ideen aus.

Was im florentinischen Renaissanceplatonismus vorgedacht worden ist, konnte nachtridentinisch in Italien unter dem Index librorum prohibitorum nur eingeschränkt seine Wirkung entfalten. Da in der römischen Lehre der menschliche Heilsstatus im Hinblick auf das Jüngste Gericht als prinzipiell kontingent sowie sakramentales Handeln als heilswirksam bestimmt wurde, konnte eine leibliche Einbindung der Menschen in die Kirche aufrechterhalten werden.

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Das gelehrte Berlin (Lithographie) von Julius Schoppe – um 1810

Wo die reformatorische Bewegung das sakramentale Heilsmonopol einer rechtlich gefassten Kirche aufgebrochen hat, konnte eine bürgerliche Emanzipationsbewegung im 17. und 18. Jahrhundert sukzessive Land gewinnen. Dazu wurde der religiöse Platonismus um die Idee eines intrinsischen „Glaubens“ ergänzt. An Stelle einer „tatsächlichen“ Rechtfertigung des Sünders propter Christum, die durch Wort und Sakrament im Glauben zu geschehen hat, trat die Idee einer Rechtfertigung allein aus Glauben, die allgemein gedacht werden kann. Wo das Heil in zeitlos gedachten Ideen „Gott“, „Freiheit“, „Unsterblichkeit“ bzw. „Glauben“ gesucht wird, kann man diese intellektuell vereinnahmen. Im eigenen Denken kann sich jedenfalls kein Unheil ereignen.

Der Protestantismus ist letztlich eine bürgerliche Ideologie, wo man zu glauben denkt und damit weder etwas erwarten noch erbeten kann. In diesem Sinne hat Hegel recht, wenn er die denkerische „Innerlichkeit“[7] bzw. „der Eigensinn, der dem Menschen Ehre macht, nichts in der Gesinnung anerkennen zu wollen, was nicht durch den Gedanken gerechtfertigt ist“[8] als das protestantische Prinzip bestimmt. Einem Protestanten darf nichts zukommen, was nicht von ihm selbst gedacht werden kann. Mit dieser denkerischen Freisinnigkeit weiß er sich der Kirche als Zugehörigkeits- bzw. Gehorsamsgemeinschaft zu versagen.

[1] Briefe, das Studium der Theologie betreffend. Erster Theil, in: J.G.v. Herders sämmtliche Werke. Religion und Theologie, Neunter Theil, hg. v. J.G. Müller, Karlsruhe 21828, Brief 22, S. 264. Ähnlich Ferdinand Christian Baur: „Der Protestantismus ist das Princip der subjektiven Freiheit, der Glaubens- und Gewissensfreiheit, der Autonomie des Subjekts im Gegensatz gegen alle Heteronomie des katholischen Begriffs der Kirche.“ (Epochen der kirchlichen Geschichtsschreibung, Tübingen 1852, 257)
[2] Vgl. A. Twesten, Vorlesungen über die Dogmatik der Evangelisch-Lutherischen Kirche nach dem Compendium des Herrn Dr. W. M. L. de Wette, Bd. 1, Hamburg 41838, § 20, 257-264; bzw. A. Ritschl, Ueber die beiden Principien des Protestantismus. Antwort auf eine 25 Jahre alte Frage, in: Ders., Gesammelte Aufsätze, Bd. 1, Freiburg i.Br. u.a. 1893, 234-247.
[3] Vgl. F. Mildenberger, Theologie der Lutherischen Bekenntnisschriften, Stuttgart u.a. 1983, 40-45.
[4] Kirchenpostille, 1522, Predigt zu Lk 2,15-20, WA 10/I/1, 128-141, 140.
[5] Auslegung zum dritten Glaubensartikel, BSLK 655,4-5.
[6] Vgl. J. Lauster, Die Erlösungslehre Marsilio Ficinos, Berlin 1998; ders., Marsilio Ficino as Christian Thinker. The Theological Aspects of his Platonism, in: Michael J. B. Allen, Valery Rees, Martin Davies (eds.), Marsilio Ficino. His Theology, His Philosophy, His Legacy (Brill Publishers, 2002), 45-70.
[7] Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in: G.F.W. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Bd. 20, Frankfurt a.M. 1979, 120.
[8] Grundlinien der Philosophie des Rechts, Vorrede, in: G.F.W. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Bd. 7, Frankfurt a.M. 1979, 27.

Hier mein Text als pdf.

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