Arnold Stadlers Psalmübertragungen aus seinem Buch „Die Menschen lügen. Alle“ Und andere Psalmen (insel taschenbuch Band 3112) sind immer wieder neu lesenswert. Im Nachwort beschreibt Stadler, was er selbst an den Psalmen gefunden hat:
Die Psalmen sind voller Leben, wirklich, nicht buchstäblich. Selten sind Leben und Literatur eine solche Einheit eingegangen. Und auch deswegen gibt es das Ungefügte, die Abbrüche, den verstörenden Widerspruch. An mancher Stelle vernehme ich noch den schnellen Atem, die Atemlosigkeit, die Empörung und den Schmerz dessen, der da spricht, nein: schreit. Ich habe die unerhörten Wendungen, das scheinbar nicht Zusammengehörende so gelassen, wie es vom Psalmisten aufgeschrieben wurde oder in das Buch der Psalmen gelangt ist. Die Exegeten haben das Wort „Stimmungsumschwung“ für derartige Abbrüche oder Perspektivenwechsel (zuweilen wirklich um 180 Grad) gefunden. Die Psalmen sind keine klassizistischen Gebilde. Sie orientieren sich nicht an einer der Regelpoetiken unserer Breiten, sondern am Herzen eines aufgewühlten oder begeisterten, enthusiastischen oder deprimierten, hilflosen oder dankbaren, immer aber: Menschen, der nach Worten sucht und sie (meist) findet. So sind die Psalmen, ohne daß ihre Verfasser es wollten, „modern“; und zwar nicht wegen des Fehlens von Reim, Strophe und anderen formalen Kategorien. Sie sprechen uns unmittelbar an.
Die Psalmen sind auch Kunstwerke, sie haben aber eine andere Vorgeschichte als das klassische oder romantische deutsche Gedicht. Ihr Kunstwerkcharakter ist geprägt von altorientalischen und babylonischen Einflüssen, von Ägypten. Die „Poetik“ der Psalmen ist der Dynamik des Lebens und ihrer Sprache abgelauscht. Das Hin und Her der Psalmen, ihre Bewegung, ihre Emotionalität, ihr Leben: dieses ist eben nicht systematisch und schon gar nicht mechanisch. Diese von Herzen, de profundis kommende Bewegung, diese Emotionalität, die sich auch noch auf Gott einläßt, selbst mit ihm streitet, dürfte wohl auch erklären helfen, was die sogenannten Fluchverse sind: Zeugnisse der Erregung, menschlichen Ursprungs. Aber es bleibt ja nicht bei Verwünschungen und Flüchen. Dennoch: „Christliche“ Heimholungsversuche dürften gerade hier versagen.
Im Zusammenhang mit dieser Erregung des Menschen ist auch der Titel dieser Anthologie zu sehen: DIE MENSCHEN LÜGEN. ALLE. — Warum dieser Titel? Zunächst sagt das so Psalm 116, Vers 11. Und dann ist es von einem Menschen gesagt, der zu Gott als dem letzten Verbündeten des Menschen geflohen ist. Dieser Mensch ist einer, der zu Gott, der letzten Instanz, flieht vor „den Menschen“ und ihn als Anwalt, Zeugen und Richter seiner Sache, d. h. seines Lebens, als sein „Ein und Alles“ erhofft. So ist DIE MENSCHEN LÜGEN. ALLE mehr und anderes als eine bloße Feststellung — vielleicht befremdend, aber aufgehoben in diesem größeren Zusammenhang: über den unmittelbaren Wortlaut hinaus ein letzter Versuch, in der Sache des Menschen etwas zu erreichen beim Schöpfer und Grund des Lebens. Der „Gesprächspartner“ der Psalmen ist Gott, der Ewige, in seiner Herrlichkeit. Dem Menschen bleibt fast nichts, als zu staunen, daß es einen Gott gibt, der so etwas wie den Menschen geschaffen hat; einen Gott, dessen Herrlichkeit alles überstrahlt und die unabhängig ist von der Existenz und vom Fortbestehen des ephemeren Menschen und seiner Welt: „Ich will meinem Gott singen mein Leben lang, / ihm spielen, solange ich da bin. / Möge ihm mein Dichten gefallen, / ich freue mich an meinem Gott!“ (Psalm 104, 33/34) Dem Menschen in den Psalmen bleibt fast nichts, als diesen Gott zu rühmen oder — sich zu ihm fliehend — zu klagen. Rein numerisch überwiegen innerhalb der Psalmen sogar die Klagelieder. Erst an zweiter Stelle kommen die Preislieder oder Hymnen, quantitativ. Vielleicht entspricht diese Reihenfolge auch der conditio humana.
Die Psalmen sind nicht glatt oder handlich. Sie sind keine Texte der Empfindsamkeit. Sie lullen nicht ein, sondern rühren auf. Sie wenden sich an einen Gott, der da ist, hilft; und zwar Menschen und Tieren! Und der Mensch ist da, um diesen Gott zu preisen, bis hin zum letzten Psalmvers: »Alles, was Atem hat, preise den Herrn! Halleluja!«