„Beten ist naiv.“ So beginnt Huub Oosterhuis’ Einführung in das Beten, das seinem Gebetsbuch „Ganz nah ist Dein Wort“ (1967 bei Herder erschienen) vorangestellt ist. Da dieses Büchlein seit langem vergriffen ist, findet sich der Text hier. Außerdem der Hinweis, dass bei Herder im September zwei Sammelwerke von Huub Oosterhuis erschienen sind, Das Huub-Oosterhuis-Lesebuch sowie Das Huub Oosterhuis Gottesdienstbuch. Beide Bücher sind zur Anschaffung empfohlen.
Von Huub Oosterhuis
Beten ist naiv. Es heißt warten auf jemanden, der niemals kommt. Immer wieder bitten um etwas oder jemanden, der nicht da ist.
Wenn es einen Gott gibt, der den Menschen liebt, daß er jetzt spreche! Jetzt! So läßt der lateinische Dichter Seneca in seiner Tragödie Tyestes den Chor sprechen. Ihm schließe ich mich an:
„Wenn hier ein Gott gegenwärtig ist,
daß er mir antworte! Jetzt!“
Keine Antwort. Niemand im Kreis erhebt sich, und vielleicht ist das noch ein Glück.
Beten ist eintönig: immer die gleichen Worte, immer nur Variationen über dasselbe Thema: Erbarme dich unser, sei uns gnädig. Die ganze Weltliteratur und jedes Lied ist eine Variation über das eine Thema von Liebe, Tod und Erbarmen. Wir haben nicht viel zu sagen und zu denken. Wohl aber besitzen wir die Fähigkeit, dieses eine Thema in endlosen Wiederholungen abzuwandeln. „Willst du hören von Liebe und Tod“, so beginnt der mittelalterliche Roman von Tristan und Isolde. Wir wandeln diesen Satz in verschiedenen Tonarten ab – noch immer. Auch Beten ist eine Variation über ein bekanntes Thema: Sei gnädig, sei hier gegenwärtig, wie lautet dein Name? [6]
Menschen beten zueinander zum Beispiel, wenn der eine Mensch „Du“ zu einem anderen sagt: ehrfürchtig, intim, verzweifelt, in der Erwartung und der Hoffnung, in der Intensität, mit der man „Du“ zu einem „Sie“ sagt, suchend oder zärtlich. Vielleicht ist aus diesem Sprechen der Menschen das Beten zu Gott entstanden.
Über den Ursprung dieses Phänomens „Beten“ wissen wir nichts. Von wo haben wir es her, wie ist die Menschheit darauf gekommen? Beten ist schlechthin selbstverständlich: in allen heiligen Büchern sämtlicher Religionen ist es einfach da: plötzlich – oder es war schon immer da.
Beten ist etwas ganz Selbstverständliches in der Bibel. So selbstverständlich, daß es ursprünglich in Israel kein Wort für beten gegeben hat. Beten war ein Rufen, Frohlocken, Lachen, Weinen, Schimpfen, Flehen – je nach den Umständen. Feststehende Riten, privilegierte Orte, genau vorgeschriebene Gebetszeiten hat es in Israel kaum gegeben. Alles war gestattet – das ist die stärkste Tendenz im Umgang dieses Volkes mit seinem Gott. Es findet sich da keine sakrale und erhabene Gebetssprache. Beten ist in jeder Haltung und Tonlage möglich. Denn der Gott Israels ist ein ganz anderer als alle übrigen Götter: kein Gott, der zwingt, der verlangt und verpflichtet, den wir mit niedergeschlagenen Augen und bleischwerer Zunge in einem Standard-[7]jargon ansprechen müssen: gewollt-einfach oder förmlich-höflich. Gott ist Weite und Befreiung, ihm gegenüber ist alles möglich, kein Wort ist zu plump oder zu spontan, daß es nicht erlaubt wäre. Er ist derjenige, mit dem Abraham, der Stammvater dieses Volkes, über Sodom und Gomorra verhandelt.
Gott ist derjenige, mit dem man sprechen kann, wie Job spricht: verbissen und heftig, verzweifelt und nahezu ungläubig:
„Wann wendest du endlich deine Augen von mir ab, wann gibst du mir Zeit, meinen Speichel zu schlucken?
Was habe ich dir getan, der du die Menschen belauerst?
Warum hast du mich zu deiner Zielscheibe gemacht, und bin ich dir nur eine Last?
Warum übergehst du meine Verfehlungen nicht? Bald liege ich im Staub,
dann kannst du mich suchen,
aber ich bin nicht mehr da.“
In dieser Weite des Gottes Abrahams und Jobs hat Jesus von Nazareth gelebt.
Christen werden immer wieder auf die Worte Jesu von Nazareth zurückgreifen, wenn sie wissen wollen, wie sie beten dürfen.
Wie hat Jesus gebetet? Das Evangelium sagt, die Menschen hätten an ihrem Gebet zu zweifeln begonnen, als sie Jesus beten sahen. „Lehre uns [8] beten“, sagten sie. Die Antwort lautete: „Unser Vater im Himmel, dein Name …“ An anderer Stelle heißt es, daß Jesus Psalmen betete: „Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Die Psalmen sprechen über alles, was im Menschen ist: die verschiedensten Gefühle prallen und stoßen dort aufeinander. Es ist ein Pendeln zwischen Gott und Nicht-Gott:
„Was ist der Mensch, daß du an ihn denkst,
der Sohn Adams, daß er dir am Herzen liegt?“ –
so heißt es im 8. Psalm.
„Mein Gott, so rufe ich am Tag, und du schweigst; ich rufe es in der Nacht,
und du läßt mich weiter rufen“ –
so steht es im 22. Psalm.
„Du warst uns von Geschlecht zu Geschlecht,
o Herr, ein sicherer Wohnort“,
und gleich darauf sagt derselbe 90. Psalm abgehackt und ruckartig:
„Du läßt die Menschen zu Staub vergehen,
du sagst: vorbei, ach Kinder Adams!“
Die Dimension der Psalmen ist der Lebensraum Jesu. So die Dimension des 42. Psalms:
„Wie ein Hirsch lechzt nach frischem Wasser,
so will ich. Gott, mit meinem ganzen Wesen zu dir.
Ich dürste nach Gott, dem lebendigen Gott,
wann stehe ich endlich Aug im Aug vor meinem Gott?
Warum gehe ich zerlumpt umher,
gequält und erniedrigt? [9]
Meine Feinde bedrohen mich mit dem Tod:
Wo ist denn dein Gott? höre ich sie rufen.
Du bist meine Lebensrettung,
du bist mein Gott.“
Das und noch mehr steht im 42. Psalm, diesem nervösen, neurotischen Gedicht, voll inneren Kampfes. Stimme und Gegenstimme; ein Gebet, das leidenschaftlich anhebt, dann bis zu innerem Zweifel absinkt, bald in einer Vision nahezu kosmischer Angst aufflammt und dann wieder zur Ruhe kommt. Und in diesem Hin und Her reinigt sich das Gemüt, ganz langsam – bis mit einem Schock das vorläufige letzte Wort erobert wird: „Du bist mein Gott.“
In unserem Beten müssen wir uns immer an den Psalmen orientieren. Auch in unserem liturgischen Gebet müssen wir versuchen, die Tiefe des Psalmengebetes auszuloten, um ihr gleichzukommen, damit wir füreinander die Weite des Gebetes Israels herauf- beschwören.
Im vorliegenden Buch wurde dieser Versuch unternommen, z. B. in der „Litanei“ der Gottesnamen. Hier wird berichtet über den Namen Gottes, wie in einer Erzählung, in einem Rezitativ von Menschennamen und Ereignissen, und dies findet seinen Abschluß in einer Variation über das Wort aus dem 42. Psalm: „Du bist mein Gott.“ [10]
Gott meiner selbst,
Zunge aus Schnee,
Flamme Verzückung,
Stimme, die mitten
im Wort mir stockt,
Sturm gegen mich –
zärtlicher Wind,
rauhe Gefahr
lastet dein Leib
quer über mich.
Niemandes Gott,
Gott der Menschen,
Schritt der Jahrhunderte,
erst allmählich
bekannter Fremdling,
du unfindbarer
Stein der Weisen,
du kein Gott,
wie wir dich denken,
Ofen der Stille.
mühsamer Freund.
(S. 186-187)
Beten läßt den Namen Gottes aussprechen, oder besser: suchen nach dem Namen Gottes. „Wie lautet dein Name“, die ewige Frage, die nach jeder Antwort wiederkehrt. Die Frage des Moses, der Gott als einem „mühsamen Freund“ begegnen durfte, dem es erlaubt war, mit ihm zu sprechen, „wie ein Freund spricht mit seinem Freund“, die Frage auch, die diesem Buch als Motto vorangestellt wurde. [11]
Beten ist der Versuch, das kleine Wort „Gott“ zu einem Namen zu machen, der etwas für mich bedeutet, für uns, für heute. Das flüchtige, riskante Wort „Gott“ mit Aussagekraft aufladen. Wenn wir „Gott“ sagen, so sind wir noch nirgends angekommen. Diese wenigen Buchstaben können eine Chiffre sein, ein Füllsel, ein X.
Der ganze lange Weg vom dumm-langweiligen, leeren Gott-Klischee bis zur Aussage: „unser Gott, mein Gott, Gott der Lebendigen“, nicht mehr Klischee, sondern Personenname, in dem seine ganze Geschichte mit den Menschen mitschwingt, das ist beten.
Gott, das Wort, womit wir dich nennen,
lebt fast nicht mehr und ist sinnlos geworden,
leer und vergänglich
wie jedes menschliche Wort.
Wir bitten dich.
zunehmen laß es an Kraft
als ein Name,
der deine Verheißung uns zuträgt,
als ein lebendiges Wort, in dem wir wissen:
der du bist,
wirst du für uns sein:
treu und verborgen
und greifbar nahe
unser Gott, jetzt und in Ewigkeit.
(S. 71) [12]
Ein Name ist nicht einfach ein Wort. Der Name eines Menschen ist geschichtsbeladen: Ereignisse und Erfahrungen, Freud und Leid und Mißverständnis klingen darin mit. Wenn ich die Namen meiner Freunde ausspreche, entsinne ich mich, wie ich zu ihnen stehe, was uns bindet. Unsere ganze Verbundenheit – das ist für mich die Tiefe und Höhe ihrer Namen. Manchmal sagt man von einem Verstorbenen: Wenn ich seinen Namen nenne, so ist er ganz da.
Wenn wir jemanden bei seinem Namen nennen, heißt das: ihm die Möglichkeit geben, zu sich selbst zu kommen, er selbst zu werden. Wie man im gegenteiligen Fall einen Menschen demütigen, isolieren und eigentlich entmenschlichen kann, indem man nie seinen Namen, seinen Rufnamen, niemals seinen vollen Namen ausspricht, sondern sich immer mit irgendeinem Beinamen, einem Schrei, einer Entstellung seines Namens begnügt.
Beten ist: Gott „segnen“, „preisen“, „ehren“, so lehren es die Psalmen; Gott bei seinem Namen nennen, Gott die Möglichkeit geben, er selbst zu werden: „unser Gott“. Der 140. Psalm beginnt so:
„Dich will ich, Gott, bei deinem Namen nennen,
so wahr ich lebe.“
Nach einer kurzen Andeutung der Schöpfung wird anschließend alles herangezogen. Das ist die erste Schöpfungsstunde: „Als das Wasser noch über den [13] Bergen stand“, sodann blühen die Gewächse auf dem Feld, die Gemsen springen und dann – ist der Mensch da, der schuftet, bis es Abend wird. Und während der Psalm auf diese Weise die ganze Welt durchstreift, kommt er dem Namen Gottes auf die Spur. Es heißt:
„Dies alles, Gott, ist dein eigenes Werk,
aus so vielen Dingen spricht deine Weisheit,
deine Schöpferkraft erfüllt die Erde.“
Wer ist Gott, wie lautet sein Name? Er ist, was er mit uns tut. Er heißt: „seine Schöpferkraft erfüllt die Erde“. Wenn die Bibel betet, wird die ganze Schöpfung inventarisiert, indem die ganze Geschichte der Beziehung Gottes zu den Menschen ins Gedächtnis gerufen wird. Wenn wir beten, berufen wir uns auf die Schöpfung und auf den Bund. Wir erinnern Gott daran, wer er ist und was er getan hat. Die Vergangenheit schließt die Verheißung der Zukunft ein. Was er in der Vergangenheit für die Menschen bedeutet hat, darin ist die Zusage, die Zu-kunft enthalten, daß er auch für uns etwas bedeuten wird, ein Jemand sein wird.
Die Theologie hat diese Art des Betens „Anamnese“ genannt: Gedächtnis, Ge-denken: aufs neue aussprechen und aufzählen, was Gott getan hat, sich erinnern, wer er ist, die „facta et gesta“ rezitieren. Denn nur im Verlauf eines Menschenschicksals, allmählich und in menschlichen Gestalten, läßt er sich erkennen. [14]
„Der du Abraham aus dem Kreislauf seiner kleinen Welt hinweggerufen und ihn fruchtbar gemacht hast, der du Moses deinen Namen gegeben und ihn unversehrt durch das Meer und die Wüste geführt hast, der du David von seinen Schafen hinweggeholt hast – der du deine rettende Macht zur Gänze in Jesus von Nazareth zur Geltung gebracht hast, den du vom Tod befreit hast, du wirst auch an uns tun, was du nicht lassen kannst, unser Gott.“
Diese Gebetsstruktur erkennen wir auch im eucharistischen Tischgebet, das eine ausgesprochene Anamnese ist. Auch Eucharistie feiern heißt: Gott beim Wort nehmen. Jesus ist sein Wort:
dein vielgeliebter Sohn,
den du gerufen und gesandt hast,
daß er uns diene und erleuchte …
deiner Güte und Treue
Gleichnis und Gestalt …
dieser unvergeßliche Mensch,
der alles vollbracht hat,
was menschlich ist,
unser Leben, unsren Tod …
der mit Leib und Geist
sich hingegeben hat an diese Welt …
der in der Nacht, in der er verraten wurde,
das Brot in seine Hände nahm …
Auch die Fürbitten sind ihrem Wesen nach anamnetisch. „Fürbitten“ will sagen, daß wir zunächst die [15] eigene Welt ringsum betrachten und abhorchen und uns selber in diesem großen Jetzt nahezu wie verloren fühlen, um dann unsere Sorgen aufzuzählen, immer wieder, genauso hartnäckig wie die Zeitungen, die darüber berichten. Wir umschreiben unsere Not, und im Kreis der Gemeinde sind somit die Fürbitten ein Stück Verkündigung der menschlichen Existenz. Und zugleich sind sie ein Aufruf zum Verständnis, zur Weite. „Beten heißt: einer größeren inneren Weite teilhaftig werden“, sagt der niederländische Dichter Simon Vinkenoog.
Die Fürbitten sagen uns: Diese Welt ist dein Horizont, Vietnam ist ein Teil von dir, jeder Krieg – wir sind es selbst, Kranke. Einsame und Tote – wir sind es selbst, ich bin dieser Mensch.
Laßt uns bitten
für alle, die mit Unrecht leben müssen,
die eingebaut sind in ein unmenschliches System
und ihm nicht entkommen können.
Für die Soldaten an der Front,
die gegen ihren Willen und ihr Gewissen
gezwungen sind, zu kämpfen und zu töten.
Für alle, die mutlos werden
im Anblick all des Bösen in dieser Welt
Aber auch für alle Zuversichtlichen,
die Kraft ausstrahlen
und Freundschaft geben können: [16]
Daß sie standhaft bleiben in der Prüfung
und unter uns nie fehlen.
(S. 109-110)
Fürbitten besagt, daß man für andere bittet, daß man andere zur Kenntnis nimmt, sie wiedererkennt, daß man wünscht, mit ihnen verbunden zu sein – und daß man sie tragen will, aber auch, daß man den Mut hat, sie aus der Hand zu geben.
Wenn wir uns so mit Menschen befassen, mit unserer Welt, dann sagen wir: „Mit all diesen Dingen, Gott, hast du zu tun, du hast mit allem, was uns angeht, zu tun, denn du hast dich nicht geschämt, unser Gott genannt zu werden.
Beten heißt immer wieder: nicht wissen, wer Gott ist, mit schwachen, anfechtbaren Worten versuchen, ihn zu benennen. Er deckt sich nicht mit unseren Worten, mit unseren Namen. Er ist nicht so, wie wir ihn denken.
Ist er groß, erhaben? Es hat in der Geschichte des Gebets, in dieser unsichtbarsten und ungreifbarsten Geschichte der Kirche, immer Menschen gegeben, die der Meinung waren, für den Gott Jesu von Nazareth, dieses Geringsten aller Menschen, seien alle großen Worte schlechthin zu groß. Sie wagen es, von der Torheit Gottes zu reden: er sei demütig, er sei ein Niemand, er sei den Weg alles Fleisches gegangen, sei gestorben und nirgends mehr zu finden. Ist Gott das Licht, der strahlende Tag? Er ist Finsternis, tiefe Nacht, Leere. Er ist kein hoher Baum, son-[17]dern ein formloser kleiner Zweig, kein unermeßliches Meer, sondern ein Becher Wasser, keine mächtige Stimme, sondern verwundbare Stille. Gebetserfahrung bedeutet aber auch: wissen, daß Gott wehrlos, nicht makellos, ein anderer ist, daß er keine Antwort ist und kein Problem löst, daß er zu nichts taugt – Elend bleibt Elend –, daß er uns nichts nützt – und dennoch. So wie man einen Freund hat, der auch keine Lösung bringt – Tod bleibt Tod – und dennoch.
Diese Erfahrung bildet den Hintergrund des Gebetes, dieses Lieds:
Du bist die Antwort nicht
auf unsere Fragen, Gott,
du bist kein Trost,
wenn wir nicht weiterkönnen…
du bist kein Lückenbüßer …
du bist kein Grundsatz, Gott,
du bist uns kein Gesetz.
du bist ein anderer,
und du wehrst dich nicht …
du bist nicht alles, Gott,
du sagst so wenig.
(S. 53)
Beten ist eine Art zu leben, zu warten, offenzuhalten, nicht zu besitzen, sondern zu bitten. Beten heißt: flehen um die Dinge, um die Menschen, um alles, was einfach und gewöhnlich ist. Nicht zwingen, nicht die Wirklichkeit erzwingen und überwältigen, sondern bitten: [18]
Laßt uns bitten
um alles, was selbstverständlich ist:
um Brot auf dem Tisch, jeden Tag,
um Kleidung für den Leib,
um einen sicheren Weg,
um das Licht unserer Augen,
um die Sympathie und Zuneigung
unserer Mitmenschen.
(S. 50)
Beten deckt sich nicht mit dem, was früher „geistliches Leben“ genannt wurde. Nicht leben von dem, was man hat oder besitzt, sondern von dem, was noch werden kann, von der Hoffnung, von der Zukunft: die Lebenshaltung, die Paulus den Glauben nennt, wodurch man „dennoch“ sagt. Und doch kann werden, was noch nicht ist. Zum Beispiel der Friede in Vietnam.
Wir alle zusammen sind zwar nicht in der Lage, diesen Frieden zu verwirklichen – noch immer nicht –, weil wir Gefangene gewisser Schemata sind: Notwendigkeit der Waffenindustrie im Zusammenhang mit dem Wirtschaftsprozeß, Machtverhältnisse in Südost-Asien – alles nur Götter. Prügel, die uns treffen –. Aber wir versuchen zu glauben, daß Gott größer ist als alle Schemata, daß er der Herr aller Mächte und Götter ist. – Manchmal denke ich, daß das Demonstrieren für den Frieden in Vietnam, ganz konkret: sich einem solchen Aufmarsch anschließen, daß dies doch etwas mit dem Glauben zu tun hat und mit Gebet. Ein solcher Protest ist vielleicht [19] ein verzweifelter Versuch, die Sache offenzuhalten, überall in der Welt. Irgendwo beginnen tausend Menschen, die bei Gott auch nicht wissen, was sie tun sollen, einfach mit einem Protestmarsch, weil sie zum Ausdruck bringen wollen, daß es auch anders sein kann, daß wir – eine Handvoll Menschen, tausend Männer und Frauen – größer und ewiger sind als dieser Krieg.
Es gibt Menschen, die dies so empfinden, in ihnen wird dieser Protest geboren. Es sind die Armen im Geist – sie haben den Schein und die Vernunft gegen sich. Welchen Einfluß hat in Gottes Namen ihr Aufmarsch auf das Weltgeschehen? Genau denselben wie das Gebet, denke ich. – Wenn wir in der Liturgie mit der Gemeinde um Frieden bitten, dann ist dies mit einem solchen ergebnislosen Aufmarsch verwandt. Auch wir haben den Schein und die Vernunft gegen uns, denn wo landet ein solches Gebet? Aber stellen wir uns einmal vor, wir würden nicht mehr darum bitten, einfach aus Verzweiflung oder Naivität? Vielleicht würden wir ersticken und zusammenbrechen. Laßt uns beten. Laßt uns offenbleiben, damit möglich werde: Friede, neue Schöpfung. Damit dies wirklich etwas ist: Gnade.
Quelle: Huub Oosterhuis, Ganz nah ist Dein Wort. Gebete, aus dem Niederländischen übertragen von Peter Pawlowsky, Herder: Wien-Freiburg-Basel 101972, 5-19.