„Ich habe einen Traum!“ Predigt zu 1. Mose 28,10-19a
10 Aber Jakob zog aus von Beerscheba und machte sich auf den Weg nach Haran 11 und kam an eine Stätte, da blieb er über Nacht, denn die Sonne war untergegangen. Und er nahm einen Stein von der Stätte und legte ihn zu seinen Häupten und legte sich an der Stätte schlafen. 12 Und ihm träumte, und siehe, eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder. 13 Und der HERR stand oben darauf und sprach: Ich bin der HERR, der Gott deines Vaters Abraham, und Isaaks Gott; das Land, darauf du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. 14 Und dein Geschlecht soll werden wie der Staub auf Erden, und du sollst ausgebreitet werden gegen Westen und Osten, Norden und Süden, und durch dich und deine Nachkommen sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden. 15 Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe. 16 Als nun Jakob von seinem Schlaf aufwachte, sprach er: Fürwahr, der HERR ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht! 17 Und er fürchtete sich und sprach: Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels. 18 Und Jakob stand früh am Morgen auf und nahm den Stein, den er zu seinen Häupten gelegt hatte, und richtete ihn auf zu einem Steinmal und goss Öl oben darauf 19 und nannte die Stätte Bethel. (Genesis 28,10-19a)
„Mit 17 hat man noch Träume“ sang dereinst Peggy March und siegte damit 1965 bei den Deutschen Schlager-Festspielen in Baden-Baden. In Jugendträumen scheint einem das Leben offen zu stehen. Da mögen Eltern einwenden „Wunschträume, Luftschlösser, bleib besser auf dem Boden der Realität.“ Und doch muss das zukünftige Leben nicht einfach an den Orten und in den Bahnen geschehen, die Eltern vor(her)zusehen wissen. Wer einen Lebenstraum hat, will etwas für sich erreichen, was nicht offensichtlich ist; man sucht für sein eigenes Leben das Besondere, das nicht einfach zu erwarten ist.
Vor 50 Jahren, am 28. August 1963 hatte der amerikanische Bürgerrechtler Martin Luther King vor 250.000 Menschen am Lincoln Memorial in Washington D.C. einen besonderen Traum zur Sprache gebracht: „I have a dream – Ich habe einen Traum“. Sein Traum galt der gemeinsamen Zukunft von Afroamerikanern und Weißen – Menschen unterschiedlicher Herkunft und Hautfarbe in einer gemeinsamen Nation, den USA:
„Ich habe einen Traum, dass sich eines Tages diese Nation erheben wird und die wahre Bedeutung ihrer Überzeugung ausleben wird: Wir halten diese Wahrheit für selbstverständlich: Alle Menschen sind gleich erschaffen.
Ich habe einen Traum, dass eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia die Söhne früherer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können.
Ich habe einen Traum, dass eines Tages selbst der Staat Mississippi, ein Staat, der in der Hitze der Ungerechtigkeit und in der Hitze der Unterdrückung verschmachtet, in eine Oase der Freiheit und Gerechtigkeit verwandelt wird.
Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilt.
Ich habe heute einen Traum!“

Martin Luther Kings Zukunftstraum hat immer noch Bestand, auch nachdem King im April 1968 bei einem Attentat ermordet wurde. Schließlich war sein Traum mehr als nur ein persönlicher Lebenstraum, der irgendwann im eigenen Leben ausgeträumt ist. Was wir für uns selbst zu träumen wissen, hat keinen Bestand auf Ewigkeit. Wie das Leben so müssen auch persönliche Lebensträume mit dem Tod begraben werden. Anders ein Menschheitstraum, der das jeweilige Leben überdauern kann.
Aber worin können Menschheitsträume auf Dauer bestehen? Was mir inneres Bild ist, was ich mir selbst für uns alle erträumen und vorstellen kann, hat ja keinen Anhalt in der Realität. Sind Menschheitsträume nicht doch Luftschlösser? Diese Frage führt uns in der Bibel zu einem besonderen Traum, der auf dem harten Boden stattgefunden hat.
Jakob, Mutterkind und Trickbetrüger, hat den Erstgeburtssegen von seinem Vater Isaak in den Kleidern seines älteren Zwillingsbruders Esau erschlichen. Der Familienfriede ist zerstört, Esau sinnt nach Rache. So muss Jakob auf Geheiß seiner Mutter in die Ferne nach Haran entfliehen. Mutterseelenallein unterwegs auf der Flucht gibt es kein Zurück. Was Jakob im Traum nie eingefallen wäre, setzt ihm zu. Die eigene Kindheit ist ausgeträumt! Wer fliehen muss, verfolgt keinen eigenen Lebenstraum.
Die Nacht auf nackten Boden, einen Stein unter den Nacken gelegt – in der ungewissen Zukunft ist man alles andere als samtweich gebettet. Irgendwann fallen Jakob dennoch die Augen zu. Wo er dem Nachthimmel zu Füßen liegt, erhebt sich im Traum eine Steige in den Himmel hinauf, Gottesboten steigen darauf auf und ab. Jakobs Blick richtet sich nach ob aus, immer weiter hinauf in eine Höhe, die kein menschliches Auge wirklich sehen kann. Unerreichbar für menschliche Wege und doch gegenwärtig an diesem Ort – Himmel und Erde miteinander verbunden. Dort oben, ganz oben öffnet sich der Himmel; der Gott zeigt sich im Traum, meldet sich gar zu Wort.
Ich bin der HERR, der Gott deines Vaters Abraham, und Isaaks Gott; das Land, darauf du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. Und dein Geschlecht soll werden wie der Staub auf Erden, und du sollst ausgebreitet werden gegen Westen und Osten, Norden und Süden, und durch dich und deine Nachkommen sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden. Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe.

Gotteswort macht zukunftsgewiss: Der Boden, auf dem sich Jakob krümmt, wird zur Heimaterde, seine Nachkommen werden zahlreich sein wie der Staub auf Erden. Der Weg, der Jakob in Zukunft bevorsteht, wird schlussendlich ein segensreicher Heimweg.
Das wünscht man sich in seinen Lebensträumen. Ein Aufbruch ins Ungewisse, der nicht im Unglück endet, Dinge schaffen, Ziele erreichen, die über mein eigenes Leben hinausgehen. Aber Jakob hat zu träumen, was er sich nicht selbst erträumt hat, kein Lebenstraum, sondern ein Gottestraum. Nicht Selbstverwirklichung zählt, sondern göttliche Gegenwart. Der HERR selbst sagt sich Jakob zu:
Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe.
Wo Göttliches mit der Menschenwelt verbunden ist, sind Träume weder Wunschdenken noch Einbildung. Gott und Mensch verbunden – nur so können Lebensträume und Menschheitsträume wahr werden. Was ich für mich selbst erträume, kann auf Ewigkeit hin nicht wahr werden. Das macht den Unterschied zwischen eigenen Lebensträumen und Jakobs Gottestraum aus.
Aufgewacht aus dem Traum – gotterschrocken aufgewacht: „Fürwahr, der HERR ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht!“ Was für ein Ort seiner Gegenwart: Bethel, Gotteshaus ohne Wände, Gottestor zum Himmel – heiliger Ort. Der Stein, auf dem sein Kopf im Traum geruht hat, wird Jakob zum Anhaltspunkt. Er richtet ihn als Gedenkstein (Mazzebbe) der Gottesgegenwart auf.
Gott und Mensch verbunden, nur so können Lebens- und Menschheitsträume wahr werden. So hat sich Christus dem Nathanael zugesprochen: „Du wirst noch Größeres als das sehen. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren über dem Menschensohn.“ (Joh 1,50f) Gottesgegenwart in Jesus Christus eingeleibt; in seinem Kreuz sind Himmel und Erde miteinander verbunden. Wo Christus zugegen ist, zeigt sich der Himmel offen. Da lässt uns die Gegenwart des Gottes über den eigenen Lebenshorizont hinausschauen.

„Ich bin auf dem Gipfel des Berges gewesen (I’ve been to the Mountaintop)” die letzten Worte Martin Luther Kings, gesprochen am 3. April 1968 im Mason Temple in Memphis, Tennessee. Der Vorabend des tödlichen Attentats. Da waren für King die Todesdrohungen bereits in das eigene Leben fest eingeschrieben. Und doch der Traum, dass eines Tages die Söhne früherer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können, er ist nicht einfach ausgeträumt. So beschließt Martin Luther King seine letzte Rede mit den Worten:
„Nun, ich weiß nicht, was jetzt geschehen wird. Schwierige Tage liegen vor uns. Aber das macht mir jetzt wirklich nichts aus. Denn ich bin auf dem Gipfel des Berges gewesen. Ich mache mir keine Sorgen. Wie jeder andere würde ich gern lange leben. Langlebigkeit hat ihren Wert. Aber darum bin ich jetzt nicht besorgt. Ich möchte nur Gottes Willen tun. Er hat mir erlaubt, auf den Berg zu steigen. Und ich habe hinübergesehen. Ich habe das Gelobte Land gesehen. Vielleicht gelange ich nicht dorthin mit euch. Aber ihr sollt heute Abend wissen, dass wir, als ein Volk, in das Gelobte Land gelangen werden. Und deshalb bin ich glücklich heute Abend. Ich mache mir keine Sorgen wegen irgend etwas. Ich fürchte niemanden. Meine Augen haben die Herrlichkeit des kommenden Herrn gesehen.“
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Hat dies auf NAMENSgedächtnis rebloggt und kommentierte:
Aus Anlass des bevorstehenden 50. Todestages von Martin Luther King meine Predigt „Ich habe einen Traum“