Klaus Scholder, 1945. Das Jahr ohne Vergleich: „Es stellte sich heraus, dass die Generation, die die Katastrophe überlebt hatte, nicht nur entschlossen, sondern auch fähig war, einen demokratischen Staat zu gründen und zu erhalten. Diese Entschlossenheit und Fähigkeit zu demokratischen Formen aber bedeutete tatsächlich zugleich eine überzeugende und wirkungs­volle Absage an das Dritte Reich. Es war eine Absage, die Bestand hatte – auch wenn sie viele Fragen offenließ. So hat eine ausdrückliche Auseinandersetzung über Schuld und Verantwortung der Deutschen bisher kaum stattgefunden. Vielleicht war das von der Generation der Betroffenen auch nicht zu erwarten. Aber wir sind aus dieser Frage nicht entlassen.“

1945. Das Jahr ohne Vergleich

Von Klaus Scholder

Das Jahr 1945 war ein Jahr ohne Vergleich. Kein Deutscher, der es bewußt erlebt hat, wird es je vergessen. Zwar sind inzwischen mehr als dreißig Jahre vergangen, in denen sich die Welt auf fast unvorstellbare Weise verändert hat. Aber die Erinnerung an 1945 ist davon nicht ausgelöscht worden. Tief im Inneren jener Generation sind die Bilder noch immer lebendig: Unendliche Bomberströme am blauen Himmel; Zerstörung, Flucht und letzte Verteidi­gung; die Auflösung aller Ordnungen und das unwirkliche Gefühl, überlebt zu haben. Noch immer ist jedem Soldaten von damals Ort und Stunde seiner Gefangenschaft bewußt; noch immer weiß jeder Deutsche, der den Einmarsch erlebte, wo er den ersten Gegner sah, um welche Ecke er bog, wo das Fahrzeug erschien, das er fuhr.

Was für die Älteren derart unauslöschliche Erinnerung ist, ist für die Jünge­ren ferne, fast unwirkliche Vergangenheit. Wer nach dem Krieg geboren und mit der Bundesrepublik groß geworden ist, für den bedeutet dieses Jahr ein Stück Vorzeit; Zeit, die nicht mehr zur eigenen Geschichte gehört. Daß es ihre eigenen Eltern und Großeltern waren, die in diesen Städtewüsten wohnten, mit diesen Kinderwagen unterwegs waren, an diesen Zügen hingen, sich nach diesen Kippen bückten, das ist angesichts der Gegenwart kaum noch vor­stellbar.

Aber es ist die Wahrheit. Und wir verstehen die Geschichte der Bundesrepu­blik nur halb, wenn wir uns nicht bewußt machen, daß dies das Jahr ist, von dem sie herkommt. In alle großen geschichtlichen Entscheidungen gehen die Erfah­rungen der Generation ein, die diese Entscheidungen trifft. Zu den entschei­denden Erfahrungen der Generation, die die Bundesrepublik aufgebaut hat, gehört das Jahr 1945. Deshalb ist es gut, sich dieses Jahr zu vergegenwärtigen.

Das Buch von Margaret Bourke-White ist ein besonders eindrucksvoller Beitrag zu solcher Vergegenwärtigung. Freilich muß man es kritisch lesen. Denn die Sicht der Autorin ist eine besondere Sicht. Es ist die Sicht des Siegers. Der Sieger sieht die Dinge anders als der Besiegte. Manches sieht er genauer und schärfer; anderes sieht er nur undeutlich oder gar nicht.

Das soll im folgenden an einigen Punkten verdeutlicht werden. Sie sollen zum besseren Verständnis helfen für uns selbst, aber auch für die Sieger, die durch diesen Sieg auf eine besondere Weise mit uns verbunden sind.

Die Sicht des Siegers

Der Sieger hat wenig Sinn für die Leiden des Besiegten. Das ist so gewesen, seit Rom seine Gefangenen im Triumphzug durch die Stadt führte. Margaret Bourke-White macht davon keine Ausnahme. Sie betritt deutschen Boden mit den siegreichen amerikanischen Truppen, und sie denkt und empfindet wie diese. Sie sieht die amerikanischen Opfer und Verluste, die der lange Marsch von Omaha-Beach, dem ersten Brückenkopf in der Normandie, bis zum Rhein, bis nach Köln und ins Ruhrgebiet und schließlich bis ins Herz Deutschlands gekostet hat. Sie ist zornig darüber, und sie ist zugleich zornig über diejenigen, die daran schuld sind, die Deutschen, die sich Herrschaft und Land nur Stück um Stück entreißen lassen. Das ist nicht der Augenblick, um mit dem Gegner Mitleid zu haben. Wenn man korrekt bleibt, ist es schon viel. Auch die amerikanischen Soldaten sind nicht alle korrekt geblieben (obwohl sich jeder Deutsche glücklich pries, der unter amerikanischer Besatzung lebte). Margaret Bourke-White weiß das, und sie mißbilligt es. Aber sie kann es nicht eigentlich bedauern: »Es war das Land des Feindes und war ihm von Männern abgenom­men worden, die bei jedem Schritt von Omaha-Beach bis hierher ihr Leben riskiert hatten.«

Die natürliche Distanz, die zwischen Siegern und Besiegten liegt, wurde in diesem Fall noch verstärkt durch die ungeheure Überlegenheit der Amerikaner in nahezu jeder Hinsicht: militärisch, technisch, versorgungsmäßig und nicht zuletzt moralisch. Im Unterschied zu den russischen und französischen Trup­pen, die sich aus dem Land mitversorgen mußten, brachten die Amerikaner alles im Überfluß mit. Dies gab jedem einzelnen Gl in Deutschland eine unvergleichliche Stellung. Jeder mußte hier das Gefühl bekommen, der stärk­sten, reichsten und besten Nation der Welt anzugehören. Wer solchermaßen im Überfluß lebt, für den ist es schwer, fast unmöglich, sich vorzustellen, was Mangel heißt. Dies ist eine Erfahrung, die die Bundesrepublik heute selbst im Blick auf die dritte Welt macht. Was Hunger und Kälte damals in Deutschland bedeuteten, konnten gerade die Amerikaner kaum begreifen. Dies war der Grund für manche Fehlurteile.

Zur Sicht des Siegers gehört es auch, daß er sich kaum Gedanken macht, wie er auf die Besiegten wirkt. Die vielen Gespräche mit Deutschen, die Margaret Bourke-White aufgezeichnet hat, versuchen kaum einmal, sich in die Lage der Gesprächspartner zu versetzen. Dabei darf man davon ausgehen, daß für jene die Überlegung entscheidend wichtig war, was man einer amerikanischen Journalistin in diesem Augenblick sagen durfte und sagen wollte: daß man kein Nazi war oder (etwa aus Stolz) gerade daß man einer war; daß man immer an das Beste geglaubt und immer schon das Schlimmste befürchtet hatte. So verraten manche dieser hochinteressanten Gespräche weniger über das, was die deut­schen Gesprächspartner über das Dritte Reich dachten als das, was sie von den Amerikanern erwarteten.

Schließlich überrascht es den Leser, daß die Autorin so gut wie kein Interesse an der Geschichte des Dritten Reiches hat. Von historischen Gründen für seine Entstehung und für die Entwicklung bis zu jener Katastrophe, die sie festhält, weiß sie nichts und will sie auch nichts wissen. Ihr Auge ist (und darin liegt natürlich auch eine Stärke) wie das Auge ihrer Kamera: genau und scharf auf den Augenblick und seine Umstände gerichtet. Dieser wird bis ins Detail hinein registriert. Wo die zeitliche Dimension ins Spiel kommt, sei es als Vergangen­heit oder als Zukunft, da geschieht das immer nur kurz, gleichsam wie ein Blitzlicht, das die größeren Zusammenhänge nur für einen Augenblick erhellt.

Der Krieg

Auch der Krieg aus der Sicht des Siegers ist etwas anderes als der Krieg aus der Sicht des Besiegten. Man meint, solche Sätze zu kennen, wie sie hier von General Patton notiert werden: »Alles, was die Boys der 4. und 6. Panzerdivi­sion brauchen, ist, rüberzukommen und dann genug Platz zu haben, um den schnellsten Gang einzulegen« (S. 42). Ganz ähnlich haben wohl die deutschen Panzergeneräle gesprochen, als es nach Frankreich und nach Rußland hinein­ging. Und ganz ähnlich berichteten auch damals die deutschen so wie jetzt die amerikanischen Frontberichterstatter von den erschöpften Soldaten, die von Einsatz zu Einsatz hetzen: »Wir sind rasend stolz, weil man von uns sagt, daß wir immer auf Draht sind» (S. 48). In der Tat geht von einer siegreichen Armee eine unvergleichliche Faszination aus. Da wird alles, was sonst so kompliziert ist, ganz einfach. Der Sieg ist das einzig Wichtige, alle anderen Probleme, die unendlichen Schwierigkeiten des einzelnen Lebens wie der Gemeinschaft werden bedeutungslos. Auch Margaret Bourke-White kann und will sich diesem besonderen Lebensgefühl nicht entziehen. Es ist ihre Armee, der sie hinter den Panzerspitzen folgt, und sie ist so fasziniert von der geballten Macht des Vormarsches wie die Soldaten selbst.

Was darüber zu kurz kommt, ist die elende Seite dieses Krieges. Aber im Rückblick kann sie niemandem entgehen. Der Wahnsinn einer Führung, die das rechtsrheinische Köln von 16jäh­rigen verteidigen ließ; die unvorstellbaren Leiden und das unvorstellbare Elend, das mit diesen letzten Kriegswochen zusätzlich über Deutschland hereinbrach; die sinnlosen Opfer, die hier noch gebracht wurden: dies alles gehört zum Bild dieses Krieges dazu, auch wenn es sich nicht in den Lackschichten des Pattonschen Helmes spiegelt.

Deutschland im Frühjahr und Sommer 1945

Das Bild, das Deutschland zwischen März und Oktober 1945 bot, war das eines vollkommenen Chaos. Die amerikanische Journalistin und ihre Kollegen haben das überaus eindrücklich empfunden und festgehalten. »Wir wußten einfach nicht«, so notiert sie, »wie wir das verwirrende menschliche Kaleido­skop interpretieren sollten, das sich uns bot.« Und ihren Kollegen läßt sie sagen: »Ich kriege keinen Faden aus diesem Gewirr zu fassen. Es ist noch zu verworren. Das Bild ist verschwommen« (S. 80). In der Tat war das alles nur schwer zu verstehen und fast gar nicht, wenn man in diesem Bild geradezu verzweifelt nach bekannten und vertrauten Zügen suchte, die amerikanischen Lesern dies alles erklären konnten. Denn die Situation war tatsächlich ohne Vergleich. Zunächst hatte der Krieg fast niemanden an dem Ort gelassen, an den er gehörte. So machten sich in diesen Monaten Millionen auf, um nach Hause zurückzukeh­ren, oder, schlimmer, um ein neues Zuhause für die besetzte oder zerstörte alte Heimat zu suchen. Der Ausschnitt aus diesem »Strom von Wanderern«, den die Kamera am Anhalter Bahnhof festhielt, war durchaus typisch. Dieser unvor­stellbare Strom aber bewegte sich in einem Land, in dem es so gut wie keine öffentliche Versorgung mehr gab: keine Verkehrsmittel, keine Kommunika­tion, keine Unterkünfte, keine Ernährung. Jeder, jede Familie, jede Gruppe war auf sich allein gestellt und angewiesen auf die Hilfe der jeweils Nächsten. Und auch wer das Glück gehabt hatte, unbeschädigt im eigenen Zuhause das Kriegsende zu überstehen, hatte seine Probleme. In allen Häusern in Deutschland wurde auf Nachricht gewartet; Besatzungssoldaten und Flüchtlinge füllten die Räume; die nächste wie die fernere Zukunft war verschlossen. All das und vieles andere ergab jenes chaotische Bild, das die Amerikanerin festgehalten hat – einschließlich der ungeheuren Welle von Plünderungen und Diebstählen, die den Zusammenbruch auch der öffentlichen Moral dokumentierten. An einer Stelle ist die Verfasserin der Wahrheit ganz nahe, wenn sie schreibt, nach außen hin ließen sich »die Leitmotive der Besiegten auf drei ganz einfache Nenner bringen. Wie werde ich satt? Wo kann ich unterkommen? Wann finde ich meine Familie wieder?« (S. 79).

Das waren in der Tat die beherrschenden Motive. Aber dahinter gab es, wie die Amerikanerin richtig vermutet, noch etwas anderes. Nur lag es in einer völlig anderen Richtung. Margaret Bourke-White meinte, nach den Abgrün­den suchen zu müssen, aus denen das Böse aufgestiegen war. In Wirklichkeit jedoch herrschte in Deutschland zugleich und weiterhin ein großes, fast unvor­stellbares Gefühl der Befreiung, zusammengefaßt in der kurzen Wendung: Wir sind noch einmal davongekommen.

Das Frühjahr 1945 war klar und warm, der Sommer bis in den Herbst hinein von strahlender Schönheit. In allem Elend und in aller Verzweiflung gab es viele, die meinten, niemals einen schöneren Sommer erlebt zu haben. Es war wie die Erlösung aus einem Alptraum, einem Alptraum der Zwänge, der Unterdrückung und des Todes.

Paul Celan hat diesem Lebensgefühl in wenigen Zeilen seines Gedichtes »Zwölf Jahre« einen unvergleichlichen Ausdruck gegeben:

»Wer
sagt, daß uns alles erstarb,
da uns das Aug brach?
Alles erwachte, alles hob an.«

Es war wohl undenkbar, daß die Sieger dieses Gefühl begriffen. Auch Margaret Bourke-White begriff es nicht, und dies um so weniger, als sie von einer ganz anderen Frage umgetrieben wurde. Es war die Frage nach dem Bösen in Deutschland.

»Wir haben es nicht gewußt!«

Am 15. April 1945 erreichten britische Truppen das KZ Bergen-Belsen. Es war das erste große Lager, das den westlichen Alliierten unzerstört in die Hände fiel. Wenige Tage später befreiten die Amerikaner Buchenwald. Damit lagen zum ersten Mal die Verbrechen des Dritten Reiches offen vor den Augen der Welt. Selbstverständlich hatten die Alliierten vom System der Konzentrations­lager gewußt. Aber was sie jetzt mit eigenen Augen sahen, übertraf alle Befürchtungen und wirkte wie ein Schock. Die Haltung der alliierten Armeen gegenüber den Deutschen änderte sich schlagartig. Insbesondere die engli­schen und amerikanischen Offiziere, die in großer Zahl die Lager besichtigten, kamen zu der Überzeugung, daß alle Deutschen von diesen Verbrechen gewußt hatten und dafür verantwortlich oder zumindest mitverantwortlich waren.

Dies ist auch die Meinung von Margaret Bourke-White. Man begreift diese Abschnitte ihres Buchs nicht, wenn man sich nicht klarmacht, daß sie unter dem frischen Eindruck des Entsetzens stehen, den der Blick in die Wirklichkeit der Lager auslöste. Und man tut gut daran, sich dem ohne Vorbehalt auszusetzen. Denn dies war die Wirklichkeit von Buchenwald und Leipzig-Mochau und unzähligen anderen Lagern, mit denen das Dritte Reich Deutschland wie mit Pestbeulen überzogen hatte. Dies hatten Deutsche an anderen Menschen getan, mitten in einem Land, das sich einer alten humanitären Tradition rühmte. Es ist bezeichnend, daß der Autorin die Realität der deutschen Verbrechen noch stärker als in Buchenwald in der kleinen KZ-Außenstelle Leipzig-Mochau bewußt wird, die sie als erste betrat und photographierte. Hier waren Leiden und Elend in einzelnen Schicksalen faßbar, die mehr sagten als die großen Zahlen. Im übrigen war, was sie sah, nur die Wirklichkeit der reichsdeutschen Lager. Von Auschwitz war noch nicht einmal die Rede.

Die Reaktion der Amerikanerin war verständlich und typisch. Die Deut­schen hatten Hitler groß gemacht. Sie mußten das alles gewußt und gebilligt haben. Wer dies abstritt, der log. Die Szene in Buchenwald, die sie schildert, schien es zu beweisen. »Wir haben es nicht gewußt!« riefen die Bürger von Weimar, die die Amerikaner gezwungen hatten, die Leichenhaufen anzusehen.

»Ihr habt es gewußt!« schrien die Ex-Häftlinge zurück. »Wir haben neben euch gearbeitet und es euch gesagt!« (S. 91). Aber was war dieses »es«, das man gewußt und nicht gewußt haben wollte und sollte? Wie hätte sich die Journali­stin eines freien Landes vorstellen können, wieviel oder wie wenig man in einem Land mit einer vollkommen gelenkten Presse wissen konnte? Gewiß gab es nur ganz wenige Erwachsene, die niemals von Konzentrationslagern, Zwangsarbeit und SS-Terror gehört hatten. Aber von solchen Nachrichten und Gerüchten zur Wirklichkeit der Lager war ein weiter Weg, und für viele Deutsche war die Wirklichkeit, als sie dann aufgedeckt wurde, nicht weniger unfaßbar als für die alliierten Soldaten.

Dies wiederum war den Alliierten unbegreiflich. Die Deutschen mußten es gewußt haben oder sie mußten es wenigstens jetzt, als sie es vor Augen geführt bekamen, zugestehen und ihre Mitschuld und Mitverantwortung anerkennen. Mit einer wütenden Beharrlichkeit bestanden gerade die Amerikaner darauf, daß die Deutschen endlich alles zugeben und eingestehen sollten. Und sie waren fassungslos und empört, als ihre Fragen ohne ernsthaftes Echo und ohne ernsthafte Antwort blieben. Margaret Bourke-White schildert diese Situation immer wieder.

Tatsächlich waren dabei wohl weniger Lüge, Verstellung oder gar fortdau­ernde Überzeugungen im Spiel, als sie vermutete. Die Wahrheit war, daß die Deutschen 1945 weder die Kraft noch die Zeit noch den Willen besaßen, sich diesen Fragen zu stellen. Wer ein Chaos zu überstehen versuchte, der mußte auf dieses eine Ziel hin alle seine Kräfte anspannen. Für Kriegsgefangene und Flüchtlinge, für getrennte und ausgebombte Familien, für die unzähligen Menschen ohne ausreichende Nahrung und Unterkunft war dies kein Thema.

Erst sehr viel später hat sich herausgestellt, daß die Deutschen jene erste Konfrontation mit den Verbrechen ihrer eigenen Regierung keineswegs ein­fach übersehen oder verdrängt hatten. Das vollkommene Verschwinden des gesamten nationalsozialistischen Systems in wenigen Wochen war ein Zeichen dafür, daß die Generation begriffen hatte, was der Nationalsozialismus wirklich gewesen war. Für die Alliierten war dieses Verschwinden ein so unglaublicher Vorgang, daß sie, wie die Autorin, einen nationalsozialistischen Untergrund befürchteten und über Jahrzehnte hinweg mißtrauisch blieben. Für die Deut­schen erschien dieses Verschwinden fast selbstverständlich. Es ist kein Zufall, daß weder unmittelbar nach dem Krieg noch später (wenn man die kurze

Episode der NPD einmal ausnimmt) ernstzunehmende Versuche unternom­men wurden, nationalsozialistische Ideen wieder zu beleben. Darin lag nicht zuletzt die stillschweigende Anerkennung, daß man mit diesem Regime und seinen Verbrechen nichts mehr zu tun haben wollte.

Der Luftkrieg

Eine der wichtigsten Aufgaben, die Margaret Bourke-White in diesen Wochen übernahm, war eine Serie über die Folgen der alliierten Bombenan­griffe auf die deutschen Städte und die deutsche Industrie. Die Bilder, die sie in diesem Zusammenhang gemacht hat, gehören zu den besonders eindrucksvol­len Dokumenten aus jener Zeit. Sie zeigen in bedrückender Monotonie die endlosen Stadtwüsten, in die der alliierte Luftkrieg die deutschen Städte verwandelt hatte.

Gleich wohl wird man bei der Auswahl der Bilder stutzig. Denn die Serie rückt offensichtlich strategische Ziele in den Vordergrund. Die Hohenzollernbrücke in Köln, der Verschiebebahnhof in Nürnberg, der Hamburger Hafen, Großan­lagen der chemischen Industrie, Würzburg, das im Lauf der Kampfhandlungen zerstört wurde: immer erscheinen dem Betrachter die Verwüstungen offen­sichtlich militärisch notwendig und sinnvoll. Und der Text unterstützt diese Tendenz. Da geht es in Kassel um das Panzerwerk, in Schweinfurt um die Kugellagerfabriken, im Ruhrgebiet um die Stahlproduktion und in Leipzig um die Flugzeugindustrie. Konsequent vermeidet die Autorin hier auch, was sie sonst so meisterhaft beherrscht: die Folgen der Ereignisse in Einzelschicksalen zu erfassen und wiederzugeben. Es scheint fast, als scheue sie sich, der Wahrheit über den alliierten Luftkrieg ins Auge zu sehen.

Die Wahrheit war, daß sich vor allem unter dem Einfluß der britischen Bomber-Command der alliierte Luftkrieg in wachsendem Maße vor allem gegen die deutsche Zivilbevölkerung gerichtet hatte. Sein Ziel war in erster Linie Massenvernichtung von Häusern und Menschen durch Feuer und Bom­ben, um damit die deutsche Kriegsmoral zu zermürben. Die Zerstörung von Produktions- und Versorgungsschwerpunkten trat demgegenüber in den Hin­tergrund. Erst in den letzten Kriegsmonaten hat die alliierte Luftwaffe begon­nen, die deutsche Rüstungsproduktion wirklich entscheidend zu treffen. Noch im letzten Vierteljahr 1944 wurden mehr als fünfzig Prozent der gesamten Bombenlast bei Flächenangriffen auf Wohngebiete abgeworfen, während sich nur etwa vierzehn Prozent gegen Raffineriebetriebe und kaum mehr als zehn Prozent direkt gegen militärische Ziele richteten.

So wie die Kriegslage sich darstellte, war der Griff nach den deutschen Städten 1941 und 1942 eine verzweifelte Aktion, um die Deutschen wenigstens an einem Punkt treffen zu können. Aber mit fortschreitender Zeit verselbstän­digte sich auch der Luftkrieg, bis er mit der Zerstörung Dresdens im Februar 1945 durch eine kombinierte englisch-amerikanische Operation seinen schrecklichen Höhepunkt erreichte.

Dies alles ist längst bekannt, und es war spätestens seit dem Schlag gegen Dresden auch im alliierten Lager umstritten. Churchill selbst meinte damals in einem Memorandum, man müs­se die Frage prüfen, »ob deutsche Städte nur deshalb bombardiert werden sollen, um den Terror zu verstärken, auch wenn für die Angriffe andere Vorwände angegeben werden.« Gleichzeitig regte er eine stärkere Konzentration der Operationen auf militärische Ziele an, ohne sich freilich damit durchzusetzen.

Von dieser ganzen Problematik scheint Margaret Bourke-White überra­schenderweise völlig unberührt. Sie gönnt weder sich noch dem Leser auch nur den Schatten eines Zweifels an der Berechtigung des alliierten Luftkrieges gegen die deutschen Städte. Im Gegenteil: Die Bilder erwecken den Eindruck, als sei es doch vor allem um kriegswichtige Objekte gegangen; und kritische Bemerkungen wie die, daß die besseren Wohnviertel eher von den Bomben verschont geblieben waren (S. 63), verdecken geradezu, daß dies eine Folge der Angriffskonzeption war, die sich auf die dichtbesiedelten Innenstädte richtete. Einmal mehr zeigt sich hier, wie sehr die Sicht des Siegers auch diese Urteile bestimmt.

Die Rolle der deutschen Großindustrie

Einen besonderen Akzent erhält das Buch durch die Kritik an der deutschen Großindustrie, die in Darstellung und Bild einen breiten Raum einnimmt. Mit ätzendem Sarkasmus schildert die Verfasserin die Bereitwilligkeit der Indu­striellen an Rhein, Ruhr und Saar, Hitler zu dienen; ihre Rechtsfertigungsver­suche, mit denen sie ihre Mitverantwortung für die Katastrophe abstreiten; ihre Lebensgewohnheiten und ihren Lebensstandard, der selbst die Schrecken des Kriegsendes fast unversehrt überstand; und ihre optimistischen Zukunfts­pläne, die sich mitten im Zusammenbruch bereits auf neue Anleihen konzen­trierten. Man ist über die Vehemenz dieser Kritik zunächst etwas überrascht, zumal die amerikanischen Verhältnisse in manchen Punkten hier den deut­schen nicht so unähnlich waren. Tatsächlich entsprach jedoch diese Stimmung der außerordentlichen Bedeutung, die man speziell der deutschen Industrie für die Entstehung und Entwicklung des Dritten Reiches und insbesondere für die Vorbereitung und Führung des Krieges beimaß.

Es war eine merkwürdige Mischung aus Verachtung und Respekt, Furcht und Anerkennung, mit der die westlichen Alliierten der deutschen Industrie nach dem Krieg begegneten. Sie schlägt sich auch in dieser Darstellung nieder. So registriert die Autorin einerseits die »Schlüsselrolle, die das KZ-System in Deutschlands industrieller Planung spielte«, (S. 92) und belegt damit die Verflochtenheit der Industrie mit den Untaten des Regimes. Die Industriellen mit denen sie sich unterhält, ihre Überlegungen, Gedanken, Sorgen und Pläne werden mit kaum verhohlener Verachtung dargestellt. Andererseits bemerkt sie bewundernd die Zähigkeit und den Einfallsreichtum der Deutschen und schildert in aller Offenheit den Wettlauf der Besatzungsmächte beim Zugriff auf die wissenschaftlichen und technischen Geheimnisse der deutschen Pro­duktion (S. 102). Diese Unsicherheit kennzeichnet offensichtlich auch die Diskussionen in den Expertengruppen, die in der Villa Hügel die finanziellen und wirtschaftlichen Verflechtungen der deutschen Industrie feststellen sollen.

Im Rückblick läßt sich heute sagen, daß die Bedeutung der Industrie für Hitlers Herrschaft damals erheblich überschätzt worden ist. So wissen wir inzwischen, daß das Geld der Schwerin­dustrie bei der Machtergreifung 1933 keine entscheidende Rolle gespielt hat und daß Hitler sich zu keiner Zeit von den besonderen Interessen der Großindustriellen leiten ließ.

Es ist wahr, daß sich die deutsche Wirtschaft und die deutsche Industrie sehr schnell auf Hitler eingestellt haben. Sie haben seine Pläne – nicht zuletzt auch die Wiederaufrüstung – nach Kräften unterstützt. Es liegt auf der Hand, daß ohne diese Unterstützung weder das Dritte Reich hätte überleben noch Hitler seinen Krieg führen können. Aber das Gleiche gilt für die Wehrmacht, für die Beamtenschaft, für die Deutschen überhaupt. Die Industrie spielt hier keines­wegs eine besondere oder gar einzigartige Rolle. Und ein grundsätzlicher Irrtum wäre es, anzunehmen, daß die Industrie im Dritten Reich jemals ein eigenes politisches Gewicht besessen hätte. Die politische Führung Deutsch­lands lag je länger je mehr allein bei Hitler, und niemand, auch der mächtigste Industrielle nicht, vermochte sie jemals ernsthaft zu beeinflussen.

Vergangenheit und Gegenwart

Für die Sieger des zweiten Weltkrieges waren die Deutschen 1945 ein Volk von Nazis. Wie hätten sie auch etwas anderes annehmen können, nachdem dieses Volk unter der Fahne des Hakenkreuzes fast ganz Europa unter seine Herrschaft gebracht und sich dann, trotz längst gebrochener Kraft, bis zur letzten Stunde noch ebenso sinnlos wie erbittert zur Wehr gesetzt hatte? Und dazu kam der Augenschein. Die Armeen, die in Deutschland einzogen, stießen – das Buch macht es deutlich – auf Schritt und Tritt auf die Spuren des Regimes: auf Parteibauten und Fahnen, Uniformen und Orden, Bilder und Straßenschil­der. Lag es nicht nahe, anzunehmen, daß nicht nur diese Fülle äußerer Zeichen übriggeblieben war, sondern daß auch tief im Innern des Volkes der Ungeist des Dritten Reiches fortlebt?

Nicht zufällig hat Margaret Bourke-White das Gespräch mit Hildegard Roselius, der unbelehrbaren Anhängerin Hitlers, an den Anfang ihres Buches gestellt. Es erschien ihr offenbar typisch nicht nur für diese einzelne Deutsche, sondern für das ganze Volk. Wer Nazi gewesen war, so schien dieses Gespräch zu beweisen, der würde es auch bleiben. Und dies war eine Einsicht, die sie zu Recht tief beunruhigte. Frauen und Männer wie diese würden die deutschen Kinder erziehen, die nächste Generation. Und niemand war da, der diese jungen Deutschen Demokratie lehren und mit ihnen einen neuen Anfang machen könnte (S. 182/3). Hier, so meinte sie bitter, hätten die Amerikaner ihre größte und wichtigste Aufgabe versäumt. Und so fürchtet sie, wie so viele, die Deutschen noch im Zustand tiefster Zerstörung und Verwirrung. Würde sich nicht, wenn die Sieger dieses Land unbeaufsichtigt ließen, aus dem Rauch der Hochöfen und Hüttenwerke an der Ruhr alsbald das Gewölk eines Dritten Weltkrieges zusammenballen?

Es war die größte, schlechthin unvorhersehbare Überraschung der Nach­kriegszeit, als sich herausstellte, daß der Nationalsozialismus mit dem Zusam­menbruch des Dritten Reiches nahezu vollständig verschwunden war. Nicht nur die Besatzungsmächte, sondern auch die Deutschen selbst standen dieser Tatsache fast ungläubig gegenüber. Natürlich waren es noch die gleichen Menschen, und natürlich veränderten sie sich nicht über Nacht. Natürlich blieben Reste, Erinnerungen, Hoffnungen zurück, und in manchen Hinterzim­mern beschworen Ehemalige noch einmal die flatternden Fahnen. Aber aufs Ganze gesehen blieb dies alles bedeutungslos. Statt Untergrund und Werwolf, statt Nun-gerade- und Wir-kommen-wieder-Parolen wandte sich ein ganzes Volk wortlos und entschlossen von seiner Vergangenheit ab und der Zukunft zu. Wenn man nach einer Erklärung für diese unerwartete und radikale Kehrtwendung sucht, so wird man möglicherweise darauf kommen, daß den Deutschen in ihrer überwältigenden Mehrheit schon in jenen ersten Wochen und Monaten die Augen aufgegangen waren für die betrügerische und verbre­cherische Wirklichkeit des Dritten Reiches. Der auch von Margaret Bourke- White unzählige Male gehörte und spöttisch als »deutsche Nationalme­lodie« bezeichnete Satz »Wir haben es nicht gewußt!« ist vielleicht nur ein Ausdruck dieser Tatsache: Man wollte mit dem, was man gewußt und nun auch begriffen hatte, nichts mehr zu tun haben.

Aber wie immer: Drei Jahre nach jenem Zusammenbruch begann mit der Gründung der Bundesrepublik die Phase des Wiederaufbaus. Und es stellte sich heraus, daß die Generation, die die Katastrophe überlebt hatte, nicht nur entschlossen, sondern auch fähig war, einen demokratischen Staat zu gründen und zu erhalten. Diese Entschlossenheit und Fähigkeit zu demokratischen Formen aber bedeutete tatsächlich zugleich eine überzeugende und wirkungs­volle Absage an das Dritte Reich. Es war eine Absage, die Bestand hatte – auch wenn sie viele Fragen offenließ. So hat eine ausdrückliche Auseinandersetzung über Schuld und Verantwortung der Deutschen bisher kaum stattgefunden. Vielleicht war das von der Generation der Betroffenen auch nicht zu erwarten. Aber wir sind aus dieser Frage nicht entlassen.

Heute, im Rückblick, erscheint die Entwicklung fast selbstverständlich. Es ist nicht die geringste Lehre, die wir aus dem Blick auf das Jahr 1945 ziehen können, daß von Selbstverständlichkeit keine Rede sein kann. Vielmehr ist das, was wir heute haben, das Ergebnis besonderer Umstände ebenso wie ganz außerordentlicher Anstrengungen. Auf die Umstände können wir nur teilweise einwirken. Aber in den Anstrengungen der Freiheit und dem Recht in diesem Lande weiterhin eine Heimstatt zu sichern, müssen wir unvermindert fort­fahren.

Einleitung zu Margaret Bourke-White, Deutschland, April 1945 = Dear Fatherland, Rest Quietly, aus dem Amerikanischen übersetzt von Ulrike von Puttkamer, München: Schirmer-Mosel, 1979, S. 9-20.

Hier der Text als pdf.

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