Predigt über Jesaja 9,1-6 (Weihnachten 1938)
Von Helmut Gollwitzer
Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht; und über die, da wohnen im finstern Lande, scheint es hell. Du machst des Volkes viel; du machst groß seine Freude. Vor dir wird man sich freuen, wie man sich freut in der Ernte, wie man fröhlich ist, wenn man Beute austeilt. Denn du hast das Joch ihrer Last und die Rute ihrer Schulter und den Stecken ihres Treibers zerbrochen wie zur Zeit Midians. Denn alle Rüstung derer, die sich mit Ungestüm rüsten, und die blutigen Kleider werden verbrannt und mit Feuer verzehrt werden. Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter; und er heißt Wunderbar, Rat, Kraft, Held, Ewig-Vater, Friedefürst; auf daß seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Stuhl Davids und in seinem Königreich, daß er’s zurichte und stärke mit Gericht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit. Solches wird tun der Eifer des Herrn Zebaoth. (Jesaja 9,1-6)
Liebe Gemeinde!
Mit diesem „denn“ treten wir hinein in jenen Stall von Bethlehem, fassen einander am Arm und führen uns dorthin, knien nieder und beten an: „Denn uns ist ein Kind geboren!“ Uns – und neben uns sehen wir mit uns knien und anbeten armselige Viehhirten vom Feld bei Bethlehem, jene dem Stern folgenden Gelehrten mit der Weisheit des Ostens, Zöllner und Wucherer und Dirnen und Handwerker und Soldaten und Beamte und Theologen, zu allen Zeiten und aus aller Welt zusammengeströmt. Eine bunt zusammengewürfelte Schar, – wir alle knien an der Krippe und beten an: „Uns ist ein Kind geboren.“
Uns: wer sind wir? Was ist das für ein Kind? Ist es unser Kind? Feiern wir die Kinder unserer Familie, unseres Volkes? Es ist keine verwandtschaftliche Freude, kein völkischer Stolz, der uns hier jubeln läßt. Und wer fragt, ob dieses Kind Arier oder Jude gewesen sei, und es unbedingt zum Arier machen möchte, der zeigt, daß er sich keine andere Freude denken kann als die über sich selbst. Aber dies alles wird nun hier durchgestrichen. Es ist ein Kind aus einem anderen Volk, einer anderen Kultur, einer anderen Sprache und einem anderen Weltbild; mühsam müssen wir seine Worte erst in unsere Sprache übersetzen, und doch knien wir – Menschen verschiedenster Völker und Rassen, Heilige und Verbrecher, Fromme und Gottlose, – wir alle sind herzugeführt, rufen und freuen uns: „Uns, uns ist ein Kind geboren!“ Die Welt ist zwar sehr verändert seit jenen Tagen, aber sie ist wohl im Grunde nicht anders geworden; jedenfalls ist sie nicht besser geworden. Und das Leben eines jeden Einzelnen von uns ist nicht leichter geworden. Und dennoch knien und freuen wir uns: „Uns ist ein Kind geboren!“
Und die Welt – ja, nicht nur die Welt außer uns, auch die Welt in uns – wundert sich und fragt: „Was habt ihr denn da eigentlich? Warum starrt ihr so gebannt auf diese Krippe von damals hin? Warum tut ihr so, als sei es euer Kind und ein Freudengeschenk an euch? Woher denn eure merkwürdige Gewißheit, daß der unbekannte Gott uns gerade dort begegnet, daß das göttliche Leben, das uns so lange im Stich gelassen hat, auf einmal erschienen sei? Warum ist euer Glaube so eng, so beschränkt auf dieses eine Kind im Stall von Bethlehem?“ Und die Welt feiert ja auch und macht es uns vor, wie man sehr wohl auch ohne dieses Kind feiern kann. Unsere germanischen Vorväter haben sich auch ohne dieses Kind durchs Leben geschlagen. Sie haben auch gefeiert. Man kann ja Weihnachten feiern; denn es ist nun einmal so Sitte; denn es ist das Fest der Familie, der Kinder, der großen Gemeinschaft, der sich wendenden Sonne.
Jetzt aber reißen sich Menschen davon los und gehen hinweg von dieser Art zu feiern – und nicht wahr, so euch losreißend seid ihr doch alle heute hier hereingekommen, – und sagen: „Das mag wohl alles ein Anlaß zum Feiern und zum Schenken sein, das mag alles sehr schön sein, aber jetzt kann uns das nicht mehr bewegen; denn jetzt ist etwas viel Wichtigeres geschehen, jetzt, jetzt wollen wir etwas anderes feiern; denn: ein Kind ist uns geboren.“ Und so treten wir hierher zur Krippe, entschlossen, es zu wagen, uns dieses vor 1000 Jahren geborenen Kindes zu freuen in der Gewißheit, daß auch in 1000 Jahren, wenn Gott die Erde noch so lange stehen läßt, Menschen anbetend knien werden und sich dieses Kindes freuen und, wenn aller anderer Gesang längst verstummt ist, singen werden: „Uns ist ein Kind geboren.“
Im Leuchten, das von diesem Kind ausgeht, geschieht etwas Entscheidendes in unserem Leben: es fällt ein Licht auf unser bisheriges Leben und wir erkennen, wer wir sind: daß wir aus einer tiefen Nacht gekommen sind. Ein paar Verse vorher sagt der Prophet über den Zustand des Volkes, dem das Licht erscheint: daß es ein Volk sei, das im Finstern wandelt, – also nicht in der Dämmerung, nicht in der Halbwahrheit, sondern in der Lüge: „Und werden über sich gaffen und unter sich die Erde ansehen und nichts finden als Trübsal und Finsternis; denn sie sind im Dunkel der Angst und gehen irre im Finstern“ (Jes. 8, 22). Solange wir in der Nacht sind, mögen wir darüber streiten, ob es wirklich so nächtig um uns steht. Der eine mag Ja, der andere mag Nein zu dieser Schilderung sagen; aber im Augenblick, da wir zur Krippe treten und das Licht auf uns fällt, wird die Wirklichkeit offenbar, fassen wir uns ans Herz und erkennen klar: Um Gottes willen, aus welcher Nacht sind wir gekommen! Um Gottes willen, in welche Nacht müssen wir gehen, wenn nicht das Licht der Krippe uns leuchtet! Um Gottes willen, was sollten wir tun, wenn nicht auf wunderbare Weise Gott gekommen wäre, ohne uns zu verderben, wenn er nicht – o selige Überraschung! – käme, nicht zu richten, sondern selig zu machen! „… und nichts finden als Trübsal und Finsternis!“ Wenn jetzt an Weihnachten ein Erschrecken über uns käme über das, was uns zur Wahl steht, wenn wir von diesem Licht uns fern halten und vor diesem Kind nicht die Knie beugen, dann wäre etwas Großes geschehen.
„Ein Kind ist uns geboren.“ So wollen wir nun nicht draußen stehen, sondern drinnen und bei allen Fragen der Welt außer uns und der Welt in unserem eigenen Herzen immer auf das Kind deuten und mit großem Jubel dieses „Denn“ sprechen. Warum lacht ihr, warum freut ihr euch, warum feiert ihr, warum macht ihr euch Geschenke und singt Lieder? „Denn du hast das Joch ihrer Last und die Rute ihrer Schulter und den Stecken ihres Treibers zerbrochen wie zur Zeit Midians. Denn alle Rüstungen derer, die sich mit Ungestüm rüsten, und die blutigen Kleider werden verbrannt und mit Feuer verzehrt werden.“ Woher diese Gewißheit für die Zukunft? Auch für die Zukunft des Jahres 1939? Vielerlei kommt uns in den Sinn, wenn wir von solchen hören, die sich mit Ungestüm rüsten, von Mächten, die eine Last auf unsere Schultern legen, vielleicht sogar von dämonischen Mächten, wenn das Stichwort von den blutigen Kleidern fällt. Woher diese Gewißheit, daß die blutigen Kleider verbrannt werden und daß alle Macht der ungestümen Rüstungen uns nichts mehr tun können? Wie kann ein Mensch in das Jahr hineingehen wie ein spielendes Kind mit froher Gewißheit und wie kann er unbeschwert Weihnachten feiern? Wie kann er so, als sei schon alles überwunden, sprechen: „Du hast das Joch ihrer Last und die Rute ihrer Schulter und den Stecken ihres Treibers zerbrochen“? Spüren wir doch noch täglich Stecken und Rute auf vielfache Weise! Hören wir es doch: Im Blick auf die Krippe kann ein Mensch so sprechen: „denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben und die Herrschaft ist auf seiner Schulter.“
Das heißt doch: hier ist ein besonderes Kind; denn die Herrschaft ist auf seiner Schulter. Herren haben wir alle genug, menschliche Herren, die mehr oder minder große Ansprüche an uns erheben im Leben des Einzelnen oder im Leben der Gemeinschaften, – und jene vielen anderen unpersönlichen Herren, alle die Verhältnisse und Mächte, vor denen wir Angst haben; denn wen du fürchtest, der ist dein Herr. Und nun tritt hier noch ein neuer Herr hinzu. Also wieder einer, der uns ängstet und knechtet? Nein; denn es heißt nicht: eine Herrschaft liegt auf seiner Schulter, – sondern: „die Herrschaft liegt auf seiner Schulter“. Hat nun aber dieser eine die Herrschaft über uns, über diese unsere Gemeinde, über unser ganzes deutsches Volk, über die weite Welt an sich genommen, so sind alle anderen also keine eigentlichen Herren mehr. Ihre Macht reicht genau so weit, als sie geduldet oder verwendet ist von der Herrschaft dieses einen Herrn. Ihre Ansprüche gelten so weit, als sie legitimiert sind von dem Anspruch dieses einen Herrn. Ihre Gaben haben so viel Wert, sind so weit heilsam und nicht giftig, als sie Geschenk dieses einen Herrn sind. In seine Knechtschaft sind alle anderen Mächte genommen, – mögen sie nun auch Krankheit, Tod und Teufel heißen.
Wenn wir das hören und doch nur das Kind in der Krippe sehen, dann stehen wir in dem gleichen Widerspruch wie damals die Hirten. Sie hörten: „Euch ist heute der Heiland geboren.“ Und wie sieht er aus? „Ein kleines Kind, in Windeln gewickelt in einem Stall!“ Aber siehe, da konnten die Hirten auf einmal nichts anderes tun als „alsbald“ und „eilend“ nach Bethlehem zu gehen. Und unser Hören der Weihnachtsbotschaft in diesen Tagen ist nichts anderes als die dringliche Aufforderung: wir möchten uns von diesem Widerspruch zwischen Hören und Sehen nicht abschrecken, sondern einladen lassen, „eilend“ den Hirten uns anzuschließen, mit ihnen einzutreten und niederzuknien und ein Gespräch mit dem Kind in der Krippe anzufangen. Mancher von uns sieht es ja in diesen Tagen an den Kindern, wie ihr Herz besonders innig mit dem Kinde spricht, – und wir sollten wohl darin alle bei den Kindern in die Schule gehen und von ihnen die Erkenntnis lernen, das Aufmerken auf all das, was uns über dieses Kind von den Engeln und Propheten gesagt ist, auf alle die Namen, die ihm in den Weissagungen gegeben sind.
So knien wir und fragen dieses Kind im armseligen Stall: „Wie heißt du und wo ist die Herrschaft, die du über uns ausüben willst!“
Das Kind antwortet: „Ich heiße Wunderbar“.
Wir fragen: „Was willst du damit sagen?“
Das Kind antwortet: „Daß ihr nun alles weglassen müßt, was ihr euch vorgestellt habt. Oder habt ihr euch die Gewalt Gottes so vorgestellt? Nun seht, seht sie hier, eine armselige und pflegebedürftige Gestalt Gottes in einem Viehstall.“
„Nein“, antworten wir, „so haben wir es uns nicht vorgestellt und was sollen wir mit einem solchen armen Gott anfangen?“
Und das Kind antwortet: „Das soll nun das Wunder sein: Ich will etwas mit euch anfangen.“
„Aber, liebes Kind, was bringst du denn mit, um mit uns etwas anfangen zu können, und ahnst du denn, wer wir eigentlich sind? Unschuldiges Kind, was willst du denn von uns schuldigen Menschen?“
Das Kind aber lächelt, als wüßte es mehr von uns als wir alle: „Ich bringe einen Rat mit.“
Uns fällt bei diesem Wort unsere ganze Ratlosigkeit ein. Auf einmal sehen wir, daß unsere Religionen und Weltanschauungen, unsere Verbrechen und unsere Tugenden nur Ausdruck unserer großen Ratlosigkeit sind, und wir fragen das Kind, welchen Rat es denn bringe.
Es antwortet uns mit der Einladung, bei ihm zu bleiben, oder vielmehr, es bei uns bleiben zu lassen und seinen Weg durch diese unsere Welt mitzugehen; dann werde sich der Rat uns enthüllen; damit beginne es aber, daß die göttliche Weisheit so armselig und ratlos wie nur irgendeiner von uns, hier mitten unter uns liegen müsse.
Wir fragen: „So besteht dein Rat darin, daß du der Bruder unserer Ratlosigkeit werden willst und alles auf dich nehmen?“
„Ja, alles auf mich nehmen, was euch bestimmt ist.“
„Aber, liebes Kind, Hunger und Durst, Anfechtung und Angst, Gottverlassenheit und Tod?“
„Noch mehr“, sagt das Kind, „wie ein Schild, der abhält, was eigentlich euch treffen sollte.“
„Kind, so siehst du noch mehr Gefahren für uns als wir selbst sie sehen, – und woher willst du die Kraft haben, sie zu bestehen?“
Das Kind antwortet: „Eure Herren brauchen eure Kraft. Darum saugen sie euch auch aus, und je kräftiger sie sich darstellen, desto schwächer werden die Knechte. In meiner Armseligkeit seht ihr, daß ich eure Kraft nicht brauche. Euer Gott ist nur in den Starken mächtig; aber mein Gott ist in den Schwachen mächtig, – und das sollt ihr jetzt sehen!“
Wir sind erschrocken: „Es tritt keiner ungestraft an unsere Stelle! Siehst du nicht, wie unsere Ohnmacht mächtiger ist als Gottes Macht?“
„Darum wird dies auch nun so gehen, daß ich jetzt schon zum Tod verurteilt bin und das Kreuz hinter der Krippe aufgerichtet steht. Ihr werdet mich bestaunen und bewundern und dann bekämpfen, und schließlich mich ganz zugrunde richten mit eurer Ratlosigkeit und eurer eigenen Kraft und mich totschlagen.“
„Was bist du für ein Held, daß du dies auf dich nimmst?“
„Es ist ein anderes Heldentum, als es euch bekannt ist: ich lasse mich ausliefern der größten Furcht, die jetzt in eure Herzen kommen kann; das ist meine Zukunft: die Tränen und der blutige Schweiß, das Schreien und Stöhnen eines, der zur Erde geworfen ist im Garten Gethsemane, Todesangst und äußerste Verlassenheit von Gott, alle Tode der Welt, aller Niederlagen der Sünden, alle Bitternisse der Schuld stürzen auf mich und jeder von euch ist mir wie eine große Last – und du – und du – ihr alle seid meine Mörder.“
Dann fragen wir: „Was ist das für ein rätselhafter Rat: daß du uns retten willst, indem du uns zu Mördern an deiner Unschuld werden läßt?“
Wieder antwortet das Kind: „Gottes Licht siegt in der Finsternis. So wunderbar ist seine Gewalt, daß Haß und Bosheit, die euer Verderben sind, nun zu einem Mittel eurer Rettung werden müssen. Sterbe ich durch euch, so sterbe ich für euch. Mein Tod wird zur Auferstehung; denn das Licht des väterlichen Angesichts kommt in der Finsternis meines Todes zu euch: Gott ist Ewigvater von väterlicher Güte über seine Feinde und Mörder.“
Und wir beugen uns, küssen die Hand des Kindes, das uns nun wieder hinausweist in unser Leben.
„Ach, liebes Kind“, sagen wir, „es ist zu finster um uns her. Warum ist nicht alle Tage Weihnachten? Warum ist nicht alle Tage Licht, warum immer neu die Angst und das Dunkel?“
„Geht dennoch hin“, sagt das Kind, „denn das ist nun anders geworden: ihr geht nicht allein, ich komme mit. Wo ich bin, ist Friede; denn ich bin ein Fürst.“
Und wie wir uns erheben und im Gehorsam den Weg hinaus in das Dunkel des neuen Jahres gehen wollen, da sehen wir neben uns die Apostel und die Märtyrer: Petrus, den sie gekreuzigt haben, Paulus, der enthauptet worden ist, Stephanus, den man gesteinigt hat, und alle die vielen Märtyrer, „gesteinigt, zerhackt, zerstochen, durchs Schwert getötet; sie sind umhergegangen in Schafpelzen und Ziegenfellen, mit Mangel, mit Trübsal, mit Ungemach, im Elend umher geirrt in den Wüsten und auf den Bergen und in den Klüften und Löchern der Erde“ (Hebräer 11,37-38). In Gefängnissen einsam gestorben, auf den Galeeren elend zugrunde gegangen, – die ungeheure Zahl der russischen Christen, die erfroren, erschossen, erhängt sind, – viel kleines und großes Leid der Zeugen des Kindes – und wir wenden uns noch einmal um und fragen: „Um Gottes willen, Kind, was hast du gemacht?! Heil und Friede wolltest du bringen in die Welt, – und nun hast du nur den Unfrieden noch vermehrt.“
Und das Kind antwortet, als ob es das Wort eines anderen spräche: „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert, und ihr müßt gehaßt werden um meines Namens willen von allen Völkern.“
Und wir können es nicht verstehen: „Um Gottes willen, Kind, so bist du also kein Friedefürst und willst uns nur noch friedloser machen?“
Und das Kind antwortet, als hätte es unsere Frage nicht recht gehört: „Von euch will ich, daß ihr unter keinen Umständen den Unfrieden der Welt vermehrt, daß ihr unter keinen Umständen Menschen des Hasses und der Bitterkeit werdet, daß ihr unter allen Umständen das Schwert in die Scheide steckt und Menschen der Liebe werdet.“
„Aber um Gottes willen, liebes Kind, was mutest du uns zu? Du siehst doch, wie durch dich die Welt zerrissen wird, wie der Unfriede der Welt sich an uns entzündet, wie wir kämpfen müssen. Wo bleibt dein Friede?“
„Tragen sollt ihr das alles, aber nicht tun“, sagt das Kind, „damit deutlich wird: der Friede bin Ich!“
„Was heißt das?“ fragen wir mit mühsamem Verständnis.
„Das heißt, daß die ganze Friedlosigkeit und aller Haß der verlorenen Menschen sich auf mich richten, weil sie in meinem Frieden aufgedeckt wird. Wo ihr bei mir bleibet, seid ihr in einen Frieden gekommen, der als einziger kein Schein ist. Denn es ist ein Frieden, der sein Dasein nicht der Duldung verdankt, sondern der herrscht.“
„Wie sollen wir das verstehen, liebes Kind, da wir eben dich aller Anfeindung ausgesetzt sehen?“
„Seht auf meinen Weg, der ein Angriff ist auf friedlose Feinde! Das ist die große Ruhe in diesem Kampf: daß sie mir alle schon gegeben sind, wie der Prophet von mir sagt: ‚und gab sie seinem Schwert wie Staub und seinem Bogen wie zerstreute Stoppeln, daß er ihnen nachjagte und zog durch mit Frieden und ward des Weges noch nie müde!‘ (Jesaja 41,2-3). Wer zu mir gehört, wird in einen Kampf gerissen wie Schafe, die in ein Wolfsrudel geraten sind, – und ist doch unüberwindlich verankert in den Sieg des Friedens Gottes: den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch, nicht gebe ich euch wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht“ (Johannes 14,27).
„Aber was hast du für eine Hoffnung für die Armen, die dich haben? Soll dein Friede ihnen zum Gericht dienen?“
„Es ist eine Frage an euch“, sagt das Kind, „wo ihr Menschen seid, die in meinem Frieden leben, da wird euer Leiden und Tod der Welt, die euch haßt, die Botschaft des Friedens predigen. Daß mein Friede den Haß der Welt schon überwunden hat, bevor er begann, ist ihre einzige Hoffnung. Darum laßt das Fragen der Angst. Solches habe ich mit euch geredet, daß ihr in mir Frieden habet“ (Johannes 16,33).
So bleibt nur noch eine Frage: „Dürfen wir das glauben, Kind, da wir nichts sehen als dich in deiner Krippe und an einem Kreuz?“
„Ich bin nicht allein; denn der Vater ist bei mir“ (Johannes 16,32).
Und nun stehen wir auf und gehen hinaus; es ist finster. Die Zukunft ist undurchdringliche Nacht, „wir schauen zum Himmel und gaffen zur Erde und finden nichts als Trübsal und Finsternis; denn wir sind im Dunkel der Angst und gehen irre im Finstern.“ Wir haben zwar noch ein bißchen Kraft, aber wir wissen, wie wenig sie ausreicht und wie viel kommen kann, sie uns zu nehmen. Doch unsichtbar geht nun voran das schwache Kind und in dem Kind die Kraft Gottes. Es bahnt den Weg, es drängt alles Versperrende auf die Seite. Und wir folgen ihm nach, Schritt für Schritt, und sehen doch vor uns keinen Weg, den wir auf weit hinaus überblicken könnten. Nur das tägliche Brot haben wir für einen Tag nach dem andern: jetzt ein Stück Friede und wieder ein Stück Friede, nie mehr als wir brauchen, aber auch nie weniger, – das Kind ist immer noch da, auch wenn wir es einmal entschwunden oder gestorben wähnen. Und so geht es weiter Schritt für Schritt auf dem Weg bis zum Tod, wo die Tür aufgeht und es sich zeigen wird, daß das Kind uns gut geführt hat: mitten hindurch durch das Dunkel, durch die Friedlosigkeit der Welt mit ihren Niederlagen und Erfolgen, durch ihre Ausweglosigkeit und ihre falschen Auswege, durch ihre Ratlosigkeit und ihre falschen Ratschläge hindurch in ein Reich des ewigen Friedens.
„… Und des Friedens kein Ende“ steht darüber. Das Kind ist auf einmal verwandelt, hat seine Schwachheit wie einen Mantel abgeworfen und ist ein Herr geworden, vor dem alle Welt zu Boden stürzt: Herr aller Herren, König aller Könige. Die Engel kündigen es uns im Lobgesang an:
„Nicht braucht euch nun zu schrecken
sein klein gering Gestalt,
was tut er drunter decken?
Sein mächtig groß Gewalt.
Er liegt wohl in der Krippen
in Elend, Jammer groß,
ist doch Herr aller Dinge,
sein Herrschaft hat kein Maß.
Tod, Teufel, Sünd und Hölle
die han den Sieg verlorn.
Das Kindlein tut sie fällen,
nicht viel gilt jetzt ihr Zorn.“
Und wir stimmen ein in den Gesang, gehen hinaus in das neue Jahr und singen weiter:
Wir fürchten nicht ihr Pochen,
ihr Macht ist abgetan:
das Kind hat sie zerbrochen.
Da ist kein Zweifel dran.
Amen.
Quelle: Helmut Gollwitzer, „Wir dürfen hören …“ Predigten, TEH 66, München: Chr. Kaiser, 1939, S. 3-12.