Hermann Diem, Die Geburt der Gemeinde in der Predigt (1948): „Meine Gemeinde verlässt sich also in ihrem Dasein auch lieber auf den volkskirchlichen Rahmen, als darauf, dass sich in der Predigt die großen Taten Gottes ereignen. Über den Heiligen Geist kann man nicht verfügen und seine voraussichtlichen Wirkungen kann man nicht in den Etat einsetzen. Darum erhebt man lieber die Besteuerungsgrundlagen beim Finanzamt und garantiert den äußeren Bestand der Gemein­de durch die Einrichtung der Kirchensteuer.“

Die Geburt der Gemeinde in der Predigt

Von Hermann Diem

1. Die Gemeinde von gestern

Wenn ich am nächsten Sonntag zur Kirche komme, finde ich die Ge­meinde schon vor. Ich habe also nicht neu anzufangen und sie erst zu­sammenzurufen. Es sind dieser Predigt schon viele vorausgegangen und es werden voraussichtlich noch viele nachfolgen, wie komme ich dazu, gerade meiner Predigt am nächsten Sonntag ein solches Gewicht bei­zulegen, wie es in unserem Thema zum Ausdruck kommt: „Die Geburt der Gemeinde in der Predigt“? Was berechtigt mich, gerade diesmal so etwas Entscheidendes zu erwarten wie den Vorgang einer „Geburt“, also ein Ereignis, durch das ein Mensch, der vorher noch nicht gelebt hat, jetzt zum Leben kommt? Aber es geht ja noch um etwas Anderes, Um­fassenderes: Nicht nur der einzelne Zuhörer, sondern die Gemeinde als solche soll durch diese Predigt zum Leben kommen. Aus diesen mehr oder weniger zufällig versammelten Gottesdienstbesuchern soll durch meine Predigt am nächsten Sonntag eine lebendige Gemeinde werden.

Noch einmal: was berechtigt mich dazu, diesmal so Großes zu er­warten? Ich kenne doch meine Gemeindeglieder einigermaßen; und mich selbst kenne ich auch, wir kommen im allgemeinen gut miteinander aus. Manchmal machen sie mir Freude und bisweilen ärgern sie mich auch. Umgekehrt wird es ebenso sein. Aber wir haben uns in 14 Jahren an­einander gewöhnt und erwarten voneinander keine großen Überraschun­gen mehr. Manche schätzen meine Predigten und kommen darum immer mit einer gewissen Erwartung zum Gottesdienst. Manche haben auch allerlei an mir auszusetzen und kommen deshalb schon kaum mehr, und wenn sie kommen, hören sie nur mit einem gewissen Vorbehalt zu. Und gewiß denken manche, wenn die Gemeinde wieder einmal einen anderen Pfarrer hätte, oder wenigstens zwischen hinein einmal eine Evangeli­sation oder sonst eine etwas aufreizende Veranstaltung, welche die ge­wohnte Gleichmäßigkeit des kirchlichen Lebens durchbricht, so könnte das dazu beitragen, neues Leben in die Gemeinde zu bringen. Von einer normalen Sonntagspredigt erwartet das freilich niemand. Und ich selbst ertappe mich hin und wieder bei dem Gedanken, ob ich mich nicht weg­melden soll, um irgendwo anders ohne alle diese Belastungen und Vor­urteile neu anzufangen.

Jedenfalls bin ich heute noch da und die Gemeinde und ich sind auf­einander angewiesen. Ich predige am nächsten Sonntag. Aber ich habe in vielen Jahren schon oft gepredigt, und wenn ich mich zurückschauend frage, was dabei herausgekommen ist, so weiß ich nicht recht, was ich sagen soll. Eine ausfallende Wirkung davon ist jedenfalls nicht sichtbar­geworden. Im Blick auf die Gemeinde als solche gesehen ist in dem 14 Jahren nicht viel passiert. Sie ist streckenweise während des Kirchenkampfes überraschend tapfer gewesen. Das war schon etwas. Gewiß. Aber wenn ich daran denke, wie sie seit 1945 auseinandergefallen ist, wie zwar die Zahl der Gottesdienstbesucher, vor allem der Männer seither zugenommen bat, wie aber die Kirchengemeinde als solche einfach auf- und untergegangen ist in der Problematik der politischen Gemeinde, innerhalb derer sie lebt, dann ist die Frage nicht fernzuhalten, ob am Ende jenes Sichtbarwerden der Kirchengemeinde in der Zeit des Kirchen­kampfes mehr eine Wirkung des Druckes von außen war als eine Wir­kung meiner Predigt. Und wenn in so vielen Jahren durch die Predigt anscheinend nichts Entscheidendes passiert ist, wie komme ich dazu, gerade am nächsten Sonntag, wo doch gar kein besonderer Sonntag ist, nicht einmal ein Festtag, und wo nicht etwa ich seit meiner letzten Predigt etwas entscheidend Neues dazu gelernt habe, so Entscheidendes zu er­warten?

Gestehen wir es uns ruhig ein: Ich bin von mir aus auch gar nicht geneigt, so etwas Besonders zu erwarten. Ebenso wie meiner Gemeinde, so liegt es auch mir überaus nahe, mich mit der Predigt als einer mir gewohnten Aufgabe recht und schlecht eben abzufinden.

2. Der Pfarrer als Unmensch

Daß ich von mir aus auch nicht geneigt bin, von meiner Predigt am nächsten Sonntag etwas Besonderes zu erwarten, soll nicht heißen, daß ich im Lauf der Jahre ein routinierter Prediger geworden wäre. Als ich meine ersten Predigten als Vikar hielt, da hat mich plötzlich ein Schrecken befallen, als ich merkte, wie leicht man in Gefahr gerät, sich von der von dem wirklichen Leben abstrahierten Situation des Gottes­dienstes und von der durch dieselbe Abstraktion zustandegekommenen Stimmung der Gottesdienstbesucher auch als Prediger bestimmen und tragen zu lassen, wie leicht hat man sich etwas anempfunden, wie leicht hat man sich in etwas hineingeglaubt, wie leicht hat man sich die dazu­gehörige fromme Umgangssprache angeeignet, wenn der Beruf als Pfar­rer und die Erwartungen der Gemeindeglieder das einem nahelegen? Das habe ich nicht nur an mir selbst mit Schrecken bemerkt, sondern auch an meinen Kollegen. Ich fand, daß sie dieser Gefahr weithin kritiklos erlegen waren. Sie schienen mir in ihrer Amtstätigkeit und vor allem in ihrem Predigen nur noch die Resultante aus den durch die Situation ihres Berufes gegebenen Komponenten zu sein, wer sie dabei selbst waren, sie als dieser bestimmte Mensch mit dem bürgerlichen Namen XY, von was dieser Mensch lebte, wo er sich unter diesem Reden selbst be­fand, das konnte man sie eigentlich gar nicht mehr fragen, weil nur noch der Pfarrer XY da war, der den Menschen XY in sich aufgezehrt hatte, und den man deshalb nach diesem Menschen nicht mehr fragen konnte. Der Mensch XY war offenbar ein Opfer seines Berufes geworden.

Ich fand auch solche, die daneben noch so etwas wie ein Privatleben hatten, in dem sich der Mensch XY gelegentlich von dem Pfarrer XY zu distanzieren und zu erholen suchte. Aber an der Unmenschlichkeit des Pfarrers XY konnte das nichts ändern, sondern machte diese nur noch unheimlicher.

Es ist also nicht die Routine des geübten Predigers, welche mich ge­neigt machen würde, von meiner Predigt am nächsten Sonntag selbst nichts Besonderes zu erwarten. An dieser Klippe, aus die jeder Prediger stößt, meine ich durch jenen heilsamen Schrecken einigermaßen glücklich vorbeigekommen zu sein.

Ich habe dann freilich bald gemerkt, daß man an dieser Klippe der Routine nicht ein für allemal vorbeigekommen ist, sondern daß sie einem an jedem Sonntag wieder neu im Wege steht. Und es ist mir dann auch deutlich geworden, daß man schließlich doch unweigerlich an ihr scheitern müßte, wenn der Mensch XY im Kampf mit dem Pfarrer und Un­mensch XY mit sich selbst allein gelassen wäre.

3. Die Rettung des Pfarrers durch den Predigttext

Von dieser Gefahr kann den Pfarrer nur retten, daß er über einen ihm gegebenen Text predigen muß. Ich meine das nicht deshalb, weil der Text jedesmal ein anderer ist und so der Prediger daran gehindert würde, einfach seine Lieblingsgedanken und diejenigen seiner Gemeinde zu predigen, wer das zu tun pflegt, läßt sich auch durch die verschieden­artigsten Texte nicht daran hindern, sondern liest seine Lieblingsgedanken in jeden Text hinein. Vor der Gefahr, ein Unmensch zu werden, schützt der Text den Prediger vielmehr dadurch, daß dieser erst im Hören auf ihn zu einem wahren Menschen wird, wie wir noch sehen werden.

Machen wir uns klar, was damit geschieht, daß mir ein Text der Heiligen Schrift zum Predi­gen gegeben ist. Es kommen mir mit meiner Perikope nicht einfach ein Brief oder eine theologische Abhandlung oder ein paar Lebensregeln oder etwas Ähnliches vor Augen, durch die ich meine eigenen Gedanken anregen zu lassen und so den Text wiederum zu entfalten und zu umschreiben und seinen Inhalt darzustellen hätte. Damit wäre noch nichts geschehen. Zwischen einem Buch und mir kann nichts geschehen, und wenn das Buch noch so anregend und erschütternd oder auch belehrend und erbauend wäre. Es ließe mich trotzdem immer noch mit mir selbst allein.

Mit diesem Predigttext ist es aber etwas anderes. Zwischen ihm und mir will tatsächlich etwas geschehen. Hier will sich etwas ereignen, was mich nicht mehr mit mir selber allein läßt. Hier redet ein Zeuge zu mir. was in meinem Text steht, ist ein Zeugnis, ein Kerygma, eine Prokla­mation. Dabei ist nicht der Zeuge, der Apostel das wichtigste. Ihn sehe ich und kenne ich gar nicht. Mitunter erfahre ich wohl etwas von ihm selbst. Aber auch sogar da, wo er von sich selbst, von seinen Erfahrungen und Erlebnissen und sogar von seinem Glauben spricht, da ist er sich selbst nicht wichtig, sondern nur das, daß ihm in all dem Gott selbst begegnet ist. Von diesem großen Ereignis will er Zeugnis geben. Er ist also nicht ein „Glaubenszeuge“, wie man so gern und so gefährlich sagt. Nicht seinen eigenen Glauben will der Apostel bezeugen — was würde mir das helfen? —, sondern er bezeugt mit allem, was er sagt, die „großen Taten Gottes“.

Aber das ist noch nicht das entscheidend wichtige, daß diese größeren Taten Gottes damals geschehen sind. Das würde mir wiederum gar nichts helfen, wichtig ist vielmehr, daß die Apostel hinzufügen, sie feiern von Gott beauftragt, mir mitzuteilen, daß das, was ihnen damals wider­fahren ist, auch mir heute widerfahren soll. Dieser Auftrag sei ihnen durch den auferstandenen Christus erteilt worden und dieser habe ihnen zugleich verheißen, daß er als der in den Himmel erhöhte Herr ihr Zeugnis durch den Heiligen Geist an ihren Hörern selbst wahrmachen und beglaubigen wolle.

Wenn das in meinem Text steht, dann ist das freilich eine so aufregende Sache, wie sie sonst in keinem Buch steht. Dann habe ich aller¬dings zu erwarten, daß ich nicht mehr mit mir selbst allein gelassen bin, wenn ich den Text aufschlage. Aber eben weil dieses Ereignis, daß ich meinen Text für die nächste Sonntagspredigt aufschlage, von so großem Erwartungen umge-ben ist, muß ich zuerst fragen, wer mir denn dafür einsteht, daß das alles auch stimmt.

4. Die Frage nach der Autorität der Verkündigung

Die Apostel kenne ich, wie schon gesagt, nicht, und ihre Glaubwürdigkeit kann ich nicht nachprüfen. Sie begegnen mir nur in dem literarischen Dokument der Vergangenheit, das man die Heilige Schrift nennt. Ich bin wohl persönlich geneigt, sie für glaubwürdig zu halten, weil ich meine, daß das, was sie verheißen, mir tatsächlich hin und wieder schon im Glauben widerfahren sei. Ader auf diese Meinung kann ich aus ver­schiedenen Gründen nicht allzuviel bauen. Ich könnte mich ja auch getäuscht haben und bei meinem früheren Lesen der Bibel doch mit mir selbst allein gewesen sein. Und was ich für meinen Glauben hielt, wäre dann nur eine aus mir selbst stammende fromme Regung gewesen, zu der ich mich durch die Bibel anregen ließ. Dieser Gedanke legt sich auch dar­um nahe, weil diese Regung, wenn ich ehrlich sein will, eigentlich nie beständig war und stets aufs Neue solcher Anregungen bedurfte. Sie will sich auch bei meinem jetzigen Lesen des Textes nicht ohne weiteres wieder einstellen, worüber ich vielleicht betrübt bin, was ich aber nicht erzwingen kann. Ich lese und lese meinen Text immer wieder, aber es will da einfach kein Funke überspringen. Und dabei denke ich daran, daß ich ja am Sonntag über diesen Text predigen soll; und wenn es schon bei mir selbst nicht recht zünden will, wie soll dann jener Funke vom Text über mich auf die Gemeinde überspringen?

Aber was der Text von mir will, ist ja gar kein solches überspringen des Funkens. Der Apostel will nicht seinen Glauben bezeugen und durch sein Zeugnis vermitteln — sonst wäre er seinerseits auch nur mit sich selber allein gewesen —, sondern er will die großen Taten Gottes be­zeugen, die ihm widerfahren sind und auch mir widerfahren sollen. Dieses Kerygma soll ich in dem Text hören. Das steht aber nicht so geradezu drin, daß ich es einfach ablesen könnte. Ich muß es vielmehr durch die Auslegung des Leytes erst suchen, bis es mich anspricht.

Wer versichert mir aber, daß es überhaupt drin ist und darum meine Bemühungen um den vielleicht sehr spröden Text überhaupt sinnvoll sind? Jenen Funken zum Überspringen bringen, das kann ich freilich nicht. Aber den Text auf das in ihm enthaltene Kerygma befragen, das kann ich. Das ist eine Sache der rechten Auslegung, die man lernen, um die man beten und die man unter Anstrengung seines Verstandes und mit Hilfe des nötigen Wissens und Könnens ausführen kann — immer unter der Voraussetzung, daß die Perikope das Kerygma tatsächlich enthält.

5. Die Anfechtung in der Begegnung mit der Kirche als „Landeskirche“

Dafür, daß die Voraussetzung, unter der ich den Text lese, tatsächlich zutrifft, kann mir niemand anders einstehen als die Kirche, welche mir diesen Text der Heiligen Schrift als Kanon ihrer Verkündigung mit dem Auftrag gegeben hat, ihr dieses Kerygma weiter zu verkündigen, wer ist aber diese „Kirche“ und wo begegnet sie mir? Darunter kann nicht die Kirche der ersten Jahrhunderte zu verstehen sein, welche diese Kanonisierung vollzogen hat, und die ich ebenso wie die Apostel nur als eine Größe der Vergangenheit auf Grund der historischen Quellen kenne, die mir aber nirgends begegnet und darum für nichts einstehen kann. Soll diese Kirche aber die württembergische Landeskirche sein, vertreten durch den Oberkirchenrat in Stuttgart? Von dieser habe ich, kirchenrecht­lich gesehen, zunächst meinen Predigtauftrag als von der Behörde, von der ich angestellt bin. Nun weiß ich aber gar nicht, ob die württembergi­sche Landeskirche mit der apostolischen Kirche identisch zu sein glaubt. Sie behauptet es mitunter. Aber mitunter bestreitet sie es auch wieder und sagt, sie hätte im Lauf der Geschichte etwas anderes werden müssen. Aber ob sie es behauptet oder bestreitet, das ist nicht so wesentlich, wesentlich wäre für mich, daß sie für diese Behauptung auch einstehen würde. Das könnte sie nur dadurch tun, daß sie von dem, was sie zu glauben behauptet, auch lebt, und d. h. praktisch, daß sie sich in ihrem Da­sein als Kirche darauf verläßt, daß der Text der Schrift dieses Kerygma enthält und dieses sich im Ereignis seiner Verkündigung dadurch als wahr erweist, daß die großen Taten Gottes heute geschehen.

Sollte die Landeskirche dafür einstehen können, so müßte sie mir zu­nächst einmal überhaupt konkret begegnen, wie begegnet sie mir aber? Sie begegnet mir in ihren Organen, Ordnungen, Kundgebungen und Ge­setzen, sowie in einzelnen ihrer Vertreter als Personen. Sehen wir zu­nächst von den Personen ab. was mir so von der Kirche sichtbar wird, kann mir den Dienst, für die Wahrheit des Kerygmas einzustehen, schon darum nicht leisten, weil ich unmöglich den Eindruck bekommen kann, daß diese Kirche sich aus diese Wahrheit verläßt. Im Gegenteil: ich sehe, daß ihre ganze Praxis, ihre Ordnung, ihr Rechtsgefüge, ihr Gesetzes- und Anordnungsapparat, ihr Aufsichtssystem, die Art ihrer Geldbeschaf­fung, ihre Stellung zum Staat usw. — daß das alles darauf abgestellt ist, daß jene großen Taten Gottes durch die Verkündigung heute gerade nicht eintreten. Vermutlich möchte sie, daß sie eintreten. Aber sie meint offenbar, damit nicht rechnen zu können, und sie tut deshalb alles, daß die Kirche und ihre Ordnung auch ohne das Eintreten dieses Ereignisses be­stehen kann, wie will sie auf diese Weise dafür einstehen, daß ich mich auf das Kerygma des Textes verlassen darf, den sie mir zum Predigen gegeben und dazu den Auftrag zur Predigt erteilt hat? Anstatt mir bei meiner Tätigkeit zu helfen, bereitet sie mir umgekehrt die denkbar größte Anfechtung, die für mich ganz ungleich gefährlicher ist, als es sämtliche sog. „Gottlosen“ je werden können.

6. Die Begegnung mit den Personen der Landeskirche

Ich könnte mir in dieser Lage dadurch zu helfen versuchen, daß ich mich an die Vertreter der Landeskirche als einzelne Person halte. Si e begegnen mir zwar im allgemeinen nicht, höchstens in einem gelegentliche Besuch des Visitators. Sonst begegnen sie mir in meinem Dienst nur als Verfasser und Exekutoren von Gesetzen und Anordnungen, als Unter­zeichner oder Beförderer von Erlassen, als anonyme Mitwirkende bei Kollegialbeschlüssen, also gerade nicht als Personen, sondern nur als Funktionäre jenes Systems, das eben dazu erfunden wurde, um die Kirche nicht auf das Eintreten jener großen Taten Gottes angewiesen sein zu lassen.

Aber mitunter habe ich doch die Möglichkeit, eine Begegnung mit jenen Personen herbeizuführen. Ich trage ihnen dann meine Not vor, daß ich predigen soll und die Kirche nicht finde, die mir für die Wahrheit des Kerygmas in meinem Text einsteht. Im günstigsten Fall, d. h. sofern sie mich überhaupt verstehen und nicht meinen, ich sei bloß gekommen, um ihnen Schwierigkeiten zu machen, versichern sie mir, daß das auch ihre eigene Not sei und daß sie außerordentlich darunter leiden, daß man das nicht ändern könne, warum man das nicht ändern kann, verstehe ich frei­lich nicht. Sie sagen, in der Theorie sei das leicht, aber praktisch gehe es eben nicht. Aber was heißt hier „Theorie und Praxis“? Die Theorie, wenn man es so nennen will, ist, daß das Kerygma uns ver­heißt, daß in der Verkündigung der Kirche heute die großen Taten Got­tes geschehen. Und die Praxis kann doch nur darin bestehen, daß man sich darauf verläßt, und d. h. glaubt, daß diese Theorie wahr ist und es im Handeln der Kirche darauf ankommen läßt, daß sie sich als wahr er­weist. Ich wüßte nicht, was die Kirche hindern könnte, das sofort heute noch zu tun und auf was sie dazu eigentlich noch warten will.

Oder wendet man mir ein, was ich von der Kirche sage, sei ein Ideal, dem leider die Wirklichkeit nicht entspreche. Aber was heißt hier „Ideal und Wirklichkeit“? wenn das, was das Kerygma in meinem Text verheißt und was ich wieder verkündigen soll, wahr ist, dann ist das gar kein Ideal, sondern es hat überhaupt nur dann einen Sinn, wenn ich damit als mit einer Wirklichkeit rechnen kann. Ich kann mir nicht helfen: wer es zwar als Ideal gelten lassen will, das vielleicht auch ein­mal Wirklichkeit war und vielleicht sogar irgendwann und irgendwo auch wieder Wirklichkeit werden konnte, nur eben gerade jetzt und hier nicht, der hat seine Wahrheit auf die eleganteste und darum allergefähr­lichste weise verleugnet.

Dabei muß ich bemerken, dass diese Leute persönlich mir meist als durchaus aufrichtige, lautere und auch fromme Menschen Vorkommen. Ich habe keinen Grund, zu bezweifeln, daß sie persönlich wirklich von dem Glauben an die Verkündigung der Kirche leben wollen. Aber in Be­zug auf die Kirche selbst leben sie jedenfalls in schwärzestem Unglauben und tiefster Resignation. Sie mögen den 1. und 2. Artikel zu glauben meinen. Den 3. Artikel glauben sie aber nicht. Dafür glauben sie dann wieder einen 4. Artikel, des Inhalts, daß die Landeskirche oder das Lu­thertum oder irgend ein solches Kirchentum doch eine rechte Sache sei und kraft der Leitung durch bewährte Männer und durch den bewährten Sinn des Kirchenvolkes vorderhand noch bestehen bleiben werde. Für den Glauben an diesen Artikel sind sie bereit, sich in ihrer Arbeit auf­zuopfern und sogar zu Märtyrern zu werden. Und sie werden das ge­gebenenfalls auch tun.

Aber mir ist bei meiner Predigtaufgabe immer noch nicht geholfen. Ich habe die Kirche gesucht, die mir für die Wahrheit des Kerygmas ein­stehen kann, um predigen zu können. Diese Männer sagen mir zwar, daß sie mitunter selbst auch predigen. Aber wie sie das machen, ohne in die­selbe Verlegenheit zu kommen wie ich, weiß ich nicht. Ich kann es mir nur so denken, daß sie dabei vor ihrem Text sitzen und auf jenen zünden­den Funken warten. Vielleicht zündet es bei ihnen auch. Aber das war es ja nicht, was ich wissen wollte.

7. Der vergebliche Versuch, der Landeskirche als Kirche zu begegnen

Solange die Vertreter der Landeskirche mir entweder als solche be­gegnen, die meine Verlegenheit gar nicht verstehen, oder aber als solche, die selbst unter diesem System leiden, aber in Bezug auf die Möglichkeit, es zu ändern, bereits resigniert haben, solange ist das keine Begegnung innerhalb der Kirche. Sie werden mir freilich sagen, die „Kirchlichkeit“ unserer Begegnung liege gerade darin, daß wir hier nicht einfach als Behördenvertreter und Behördenangestellter uns gegenüberstehen, sondern in dieser, wie sie es nennen, „brüderlichen“ oder auch „seelsorgerlichen“ weise miteinander reden könnten. Dann müßte sich aber in unserem Ge­spräch die mutua consolatio fratrum ereignen können. Der Trost könnte für mich aber immer nur darin bestehen, daß der andere mir die Kirche zeigen würde, die durch ihr Dasein und ihr Handeln für die Wahrheit des Kerygmas einsteht. Die „Brüderlichkeit“ ist in der Kirche ja nicht eine Sache des Umgangstons, und wäre dieser noch so herzlich und auf­geschlossen. Solange mich der andere nicht auf die Kirche Hinweisen kann, in der er steht, sondern mir nur seine eigene Verlegenheit und seinen eigenen Unglauben zeigen kann, ist unser Gespräch keine „seelsorgerliche“, sondern eine eigentlich recht seelenmordende Angelegenheit.

Das wäre in dem Augenblick anders, wo die beiderseitige Verlegenheit, in der wir uns befinden, uns veranlassen würde, miteinander nach der Kirche zu fragen, und zwar als einer konkreten Gemeinde, in der wir stehen und die uns darum durch ihr Dasein und Handeln als Zeugnis für die Wahrheit des Evangeliums gegen unseren Unglauben einstehen könnte. Dazu müßte er mich auf meine Gemeinde in Ebersbach verwei­sen. Aber worauf soll ich ihn verweisen? Die Landeskirche ist als solche keine konkrete Gemeinde. Sie kann es nur je und je da­durch werden, daß die für sie verantwortlich Handelnden zusammentreten, um in diesem Handeln eine Gemeinde zu bilden. Ich müßte ihn also auf das Kollegium des Oberkirchenrates oder auf den Landeskirchentag als auf seine Ge­meinde verweisen.

Das könnten durchaus Gemeinden sein, und wenn sie in rechter Weise beieinander wären, dürften sie sogar gar nichts anderes sein. Aber ob das der Fall ist, hängt nicht, wie man fälschlicherweise meint, ab von der dort üblichen Geschäftsordnung und Verfahrensweise, von der per­sönlichen Integrität und dem Glauben ihrer Mitglieder oder von der Stimmung, die über dem Ganzen liegt, etwa auch seiner gottesdienstlich-kultischen Umrahmung. All das kann so ordentlich oder auch so frag­würdig sein wie es will, wobei es wohl der Gipfel der Fragwürdigkeit sein dürfte, wenn man solche Verkehrsregeln sogar in der Verfassung festzulegen für notwendig und möglich hält, wie in der neuen Grund­ordnung der EKD, wo es in Artikel 5 heißt: „Die Ordnung des Ver­hältnisses der Gliedkirchen zueinander und zur EKD ist eine Ordnung der Brüderlichkeit. Verhandlungen und Auseinandersetzungen sowie die Geltendmachung von Rechten und Pflichten zwischen ihnen sollen in die­sem Geiste stattfinden.“ Ob eine solche Synode oder irgend ein kirchen­leitendes Kollegium als Kirche zusammentritt und handelt, das hängt ganz allein davon ab, ob diese Gemeinde durch ihr Dasein und durch ihr Handeln die Antwort auf die Verkündigung des Evangeliums gibt, durch welche sie dessen Wahrheit bezeugt. In unserer Frage heißt da§, ob ihre Glieder bereit sind, darin, wie sie handeln und was sie beraten und beschließen, es darf ankommen zu lassen, daß die großen Taten Got­tes sich in dem Dasein der Kirche heute als wahr und wirklich erweisen Solange die für die Landeskirche verantwortlich Handelnden das nicht wollen — und solange sie an jenem System festhalten, können sie es ob­jektiv gar nicht wollen —, solange wüßte ich nicht, wo und wie mir die Landeskirche als Kirche begegnen könnte.

8. Die Anfechtung in der Begegnung mit der Kirche in der Gemeinde des Predigers

Ich fahre also wieder heim nach Ebersbach und frage, ob mir hier in dem Dasein meiner Gemeinde die Kirche begegnet, oder ob ich auch hier wieder nur eine neue Anfechtung zu erwar­ten habe?

Meine Gemeinde ist nicht nur rechtlich ein Glied der Landeskirche, sondern sie ist auch in ihrem Dasein ein getreues Spiegelbild derselben im Kleinen. Sie glaubt auch lieber an jenen 4. Artikel als an den 3. Ar­tikel vom Heiligen Geist. Sie verläßt sich also in ihrem Dasein auch lieber auf den volkskirchlichen Rahmen, der dafür sorgt, daß jedermann, ohne darüber befragt zu werden, zur Gemeinde gehört, sofern er sich das nicht ausdrücklich verbittet, sowie auf die kirchliche Sitte und auf die landeskirchlichen Vorschriften als darauf, daß sich in der Predigt die großen Taten Gottes ereignen. Über den Heiligen Geist kann man nicht verfügen und seine voraussichtlichen Wirkungen kann man nicht in den Etat einsetzen. Darum erhebt man lieber die Besteuerungsgrundlagen beim Finanzamt und garantiert den äußeren Bestand der Gemein­de durch die Einrichtung der Kirchensteuer. Obwohl ich einen ausgezeich­neten Kirchenpfleger habe, ist schon allein durch die Einrichtung der Kir­chenpflege, die man den oberkirchenrätlichen „Pfahl im Fleisch“ der Ge­meinde nennen könnte, dafür gesorgt, daß meine Gemeinde nichts anderes ist und nichts anderes werden soll als eine Landeskirche im Kleinen.

Und wenn ich zwischenhinein wieder einmal von mir selbst reden darf, so muß ich gestehen, daß ich das alles zwar in keiner Weise billige, mich aber trotzdem immer wieder geneigt fin­de, mich praktisch damit abzu­finden und damit eben auch vom Glauben an jenen 4. Artikel zu leben. Daß die Kirche mich zu dieser Resignation verleitet und, anstatt mir zum Glauben an den 3. Artikel zu verhelfen, mit welchem ich durch den Heili­gen Geist die Kirche glauben soll, mich in meinem Unglauben bestärkt, ist allerdings schlimm.

Aber damit ist die Sache nicht aus, sondern nun fängt sie erst eigentlich an. Ich muß ja am nächsten Sonntag predigen. Mit dieser Resignation in Bezug auf die Kirche, mit diesem Unglauben, der schließlich alles, bloß nicht den 3. Artikel glaubt, kann ich zwar weiterhin Glied dieser Kirche sein, die das ja nach allen ihren Äußerungen auch nicht glaubt, kann ich weiterhin mein Gehalt als Pfarrer beziehen von einer Landeskirche, deren Vertreter ja alle auch in derselben Lage zu sein scheinen wie ich, kann ich Pfarrer der Gemeinde Ebersbach bleiben, die sich nur dadurch von mir unterscheidet, daß ihr die Resignation, in der sie sich befindet, in ihrer für den Glauben tödlichen Bedeutung gar nicht zum Bewußtsein kommt — das kann ich alles trotz Resignation und Unglauben. Aber was ich unter gar keinen Umständen tun kann, das ist, daß ich mit dieser Resignation am nächsten Sonntag auf die Kanzel gehe. Dabei will meine Gemeinde, daß ich predige, und sie kann auch verlangen, daß ich es tue.

9. Was der Predigthörer dazu sagt

Ich könnte in dieser Lage meinen Kirchengemeinderat einberufen und ihm sagen, in welcher Verlegenheit ich bin. Vermutlich ginge es mir hier genau so wie beim Oberkirchenrat: Die einen würden überhaupt nicht verstehen, von was ich rede, weil sie bisher mit dem Glauben an jenen 4. Artikel völlig ausgekommen sind. Die anderen aber würden mir vielleicht sagen: Ihre Verlegenheit als Prediger ist genau so die unsere als Predigthörer. So wie Sie die Kirche zum Predigen brauchen, so brauchen wir sie zum rechten Hören, und zwar aus verschiedenen Grün­den. Wir hören nicht nur ihre Predigt, sondern lesen auch allerlei christ­liche Blätter. In der Zeitung steht auch manchmal etwas von der Kirche. Im Radio kommen Predigten; der Herr Landesbischof richtet ab und zu ein Wort an die Gemeinde. Manchmal kommt auch ein auswärtiger Pfarrer hierher. In der Gemeinschaftsstunde am Sonntag abend reden allerlei Leute, wir haben immer wieder einen anderen Vikar, der hier auchpredigt. Und nun merken wir auch, daß das keineswegs immer das­selbe ist. Da sollten wir doch wissen, was das Richtige ist. So großes Zutrauen wir auch zu Ihnen haben, daß Sie uns die Schrift recht aus­legen, aber wir können Ihnen ja nicht bloß deshalb glauben, weil Sie nun einmal unser Pfarrer sind und mehr davon verstehen als wir. Sie gehen wieder einmal weg und Ihr Nachfolger sagt vielleicht genau das Gegenteil wie Sie. Und schon weil es dann wieder etwas Anderes und Neues ist, werden dann sicher viele auf ihn schwören und hinterher das, was Sie uns predigten, dagegen für mangelhaft halten, wenn es sogar dem Apostel Paulus in Korinth schon so gegangen ist, werden Sie auch nichts anderes erwarten dürfen. Aber es geht jetzt gar nicht in erster Linie um Sie. wir müssen von dem, was Sie predigen, leben und sterben können und darum brauchen wir die Kirche, die uns dafür einsteht, daß das auch wahr ist. Die Landeskirche aber — und eine andere Kirche sehen wir nicht, abgesehen von den Sekten, die sogar die einzig richtige Kirche zu sein behaupten — die Landeskirche also kann oder will uns das offen­bar nicht sagen, was denn nun in all diesen Fragen wahr ist. Sie ist vielmehr ein Sprechsaal für allerlei religiöse Meinungen; aber damit ist uns als Predigthörern nicht geholfen.

Das ist das Eine — könnte mein Kirchengemeinderat fortfahren —, wozu wir die Kirche brauchen, und nun das Ändere: Sie erzählten von jenem Besuch bei den Vertretern der Landeskirche, warum haben Sie denn von den Herren in Stuttgart etwas anderes erwartet als von uns. Die sind doch in der gleichen Lage wie wir, die wir durch das Dasein unserer Gemeinde auch nicht dafür einstehen können, daß man sich auf die Wahrheit der Verkündigung verlassen darf. Sie sind höchstens inso­fern noch schlimmer daran als wir, als man von ihnen als den Vertretern der Landeskirche erwartet, daß sie von dieser Kirche etwas vorzuzeigen haben. Und wenn man gar nichts anderes von ihnen erwarten würde, dann würden mindestens soundsoviele Pfarrer von ihnen erwarten, daß sie ihr Gehalt ausbezahlt bekommen und soundsoviele Gemeinden, daß sie von ihnen bei der Bezahlung ihrer Gemeindehelferinnen und Kinder­gärtnerinnen, mit deren Anstellung sie sich übernommen haben, unter­stützt werden, was bleibt da diesem armen Oberkirchenrat, der es mit lauter Pfarrern und Gemeinden zu tun hat, die selbst nicht davon leben wollen, daß jene Verkündigung sich als wahr erweist, anders übrig, als es selbst auch nicht auf jenen geistlichen Wahrheitsbeweis ankommen zu lassen, sondern recht und schlecht und mit allen in der Welt sonst üblichen Mitteln eben dafür so sorgen, daß die Kirche ihren Bestand erhalt?

Sind wir nicht verpflichtet, schon weil wir in einer besseren Lage sind und als Gemeinde nur für unseren eigenen Unglauben einstehen müssen und nicht auch noch den von anderen Leuten finanzieren müssen, der Lan­deskirche hier zu Helsen? Und das könnte nur dadurch geschehen, daß wir als Gemeinde in Ebersbach das wagen, was die Landeskirche als solche offenbar nicht wagen zu können meint, daß wir uns nämlich darauf ver­lassen, daß die großen Taten Gottes in der Verkündigung tatsächlich eintreten, und das Dasein und die Ordnung unserer Gemeinde auf dieses Wagnis des Glaubens stellen. Es müßte freilich umgekehrt sein, daß unsere Kirchenleitung uns dazu ermahnen würde, das zu tun — denn dazu haben wir sie schließlich —, aber weil es in der Kirche nach dem. Wort Jesu keine „gnädigen Herren“ gibt, die zum Befehlen da sind, sondern alle einander zu dienen haben, können wir es auch einmal um­gekehrt machen und damit der Landeskirche dienen, daß wir mit diesem Wagnis des Glaubens vorangehen.

Wir müßten dazu freilich bereit sein, dieses Wagnis des Glaubens auch auf die Beschaffung der für die Kirche nötigen finanziellen Mittel auszudehnen. Das wäre sogar vielleicht der entscheidende Punkt, denn auf dieser Welt ist es nun einmal so, daß es sich zuletzt immer am Geld entscheidet, wieviel der Glaube vermag. Aber warum sollten wir das nicht wagen können? Das „Scherflein der Witwe“ ist auch eine jener großen Taten Gottes, die im Evangelium verkündigt werden, und wenn wir schon glauben, daß Tote auferstehen, dann wird es nicht schwerer zu glauben sein, daß Menschen durch das Evangelium die Freiheit be­kommen, ihr Geld zu opfern.

Damit, daß wir das wagen, dürfte auch Ihnen, Herr Pfarrer — so könnte mein Kirchengemeinderat fortfahren —, in ihrer Verlegenheit als Prediger geholfen sein. Anders können wir Ihnen für die Wahrheit Ihrer Verkündigung nicht einstehen, als daß wir bereit sind, es darauf ankommen zu lassen, daß die Verkündigung selbst „den Beweis des Gei­stes und der Kraft führt“, wie Paulus in 1.Kor. 2,4 sagt, wie es aus­gehen wird, das können wir Ihnen freilich nicht im Voraus sagen. Gott hat uns in seinem Wort zwar verheißen, daß er uns durch die Verkün­digung den Glauben geben wolle. Aber er ist uns diesen Glauben nicht schuldig, wir können Ihnen darum kein bestimmtes Maß dieses Glau­bens bei uns versprechen, wir können Ihnen auch nicht versprechen, wieviele Opfer dieser Glaube tragen kann. Vielleicht können wir Ihnen nicht so viel zahlen, wie Sie mit Ihrer Familie brauchen, und Sie müssten u. U. ein paar Tage in der Woche mit uns in die Fabrik gehen, um durch­zukommen. Aber Paulus hat das auch getan und ist dabei sogar ein großer Apostel geworden. So schlimm könnte das also auch nicht sein. Jeden­falls meinen wir, daß Sie unter diesen Umständen uns am nächsten Sonn­tag trotz all Ihrer Anfechtungen wieder predigen könnten und predigen müßten.

10. Die Überwindung der Anfechtung im Ereignis der Verkündigung

Was soll ich darauf sagen? Selbst wenn ich keinen Kirchengemeinderat hätte, der so verständig zu mir reden würde, selbst wenn ich ihm dieses Reden bloß suggeriert hätte, dann könnte ich doch nicht umhin, am näch­sten Sonntag wieder zu predigen in der Erwartung, daß meine Gemeinde, wenn sie meine Predigt hört, tatsächlich so reden müßte. Gewiß werden alle jene Anfechtungen durch meinen eigenen Unglauben, durch den meiner Gemeinde und den der Landeskirche immer wiederkehren. Aber ich weiß jetzt, daß ich eben darum predigen muß, um gegen diesen Unglauben tapfer anzukämpfen, zuerst wieder bei mir selbst und dann bei meiner Gemeinde und der Landeskirche. Ich mag jedesmal noch so müde und resigniert, und d. b. ungläubig sein, wenn ich an meine Predigtaufgabe herangehe. Aber wenn ich mich schon entschließe, meinen Predigttext aufzuschlagen und nach seinem Kerygma zu fragen, dann ist damit eine völlig neue Lage gegeben, in der das Wort gilt: „Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt zum Reiche Gottes“ (Luk. 9,62). Jetzt kann ich nur noch vorausblicken und von der Erwartung leben, mit der dieses Ereignis der Verkündigung umgeben ist. Nur in der jeweils neuen Vorfreude dieser Erwartung kann man predigen und anders nicht. Ich darf am Sonntag auf die Kanzel treten und der Gemeinde zurufen: „Das Alte ist vergangen, sieb es ist alles neu geworden. Aber das alles von Gott, der uns mit ihm selbst versöhnt hat und das Amt gegeben, das die Versöhnung predigt“ (1.Kor. 5,17f). Ich darf meiner Gemeinde sagen: Ihr müßt das ganz wörtlich nehmen, daß alles neu geworden ist und davon gar nichts ausgeschlossen ist, nichts von diesem ganzen ungläubigen Menschen, als der wir hierher­gekommen sind. Vergangen ist diese ganze trostlose Gemeinde, die wir bis heute miteinander gebildet haben, und nun hat ein ganz neues Zusam­menleben unter uns angefangen. Das ist dadurch geschehen, daß Gott dieses Vergangene durchgestrichen und alles neu gemacht hat. Und es ist damit wahr und gültig, daß Gott es euch jetzt durch mich sagen und ver­kündigen läßt, so wie etwa eine neue Ordnung im Staat dadurch gültig wird und in Kraft tritt, daß sie öffentlich verkündigt wird. Wir sind jetzt die neuen Menschen; wir sind die neue Gemeinde, wir dürfen es bloß glauben und im Glauben festhalten, damit das Alte und Vergangene nicht wieder über uns Herr werden kann.

So darf ich am nächsten Sonntag predigen, ganz gleich, welcher Text mir zum Predigen gegeben ist. Das ist das eine Kerygma, welches die ganze Bibel in allen Variationen wiederholt. Und ich darf meinen Text solange nicht loslassen, bis ich dieses Kerygma herausgehört habe und es nun in dieser bestimmten Konkretion weiterverkündigen kann, die es gerade in der heutigen Perikope angenommen hat.

11. Der neue Mensch in der neuen Gemeinde

Wie sieht dieser neue Mensch aus, den wir verkündigen? was sind seine besonderen Kennzei­chen? wodurch unterscheidet er sich von den anderen Menschen um uns der? Bedenken wir: mit dem Ereignis der Verkündigung, die wir im Glauben hören, ist die Verbindung zwi­schen Gott und Adam, die durch dessen Sünde abgerissen ist, wieder her­gestellt. In unserem Dasein als Gemeinde dieser von Gott durch die Ver­kündigung seiner großen Taten neugeschaffenen Menschen wird es sicht­bar, daß jetzt der Kreis zwischen Gott und Adam wieder geschloffen ist.

Darum kann dieser neue Mensch, den wir verkündigen, nichts anderes sein als eben der Mensch schlechthin, Adam, vor dem Fall, Adam, ehe er im Übermut sich nicht mehr damit begnügte, ein Mensch zu sein und Gott gleich werden wollte, und der deshalb dazu verdammt wurde, Gott gleich sein zu müssen und es doch nicht zu können. Der von dem Krampf des eritis sicut Deus befreite Adam, das ist der neue Mensch, den wir verkündigen. Um ihn wieder herzustellen und aller frommen und gott­losen Halbgötterei ein Ende zu machen, dazu ist Gott in Jesus Christus Mensch geworden. Es kann darum keine besonderen Kennzeichen des neuen Menschen geben, sondern wir verkündigen einfach die Menschwerdung des Menschen.

Dasselbe gilt für die Kennzeichen der neuen Gemeinde. Sie wird gebildet von Menschen, die nicht nur jeder für sich dem Krampf des Gottgleichseinwollens entsagt haben, sondern die auch in ihrem Zu­sammenleben den Traum aufgegeben haben, das Reich Gottes verwirk­lichen zu können und verwirklichen zu müssen. Dieser Traum ist immer mit jenem Krampf parallel gegangen, weil man das eritis sicut Deus in der Welt nicht verwirklichen konnte, hat man in ihr einen besonderen, dem Göttlichen vorbehaltenen Bezirk ausgespart, irgend ein témenos, in dem man das Reich Gottes wenigstens annäherungs- und anfangs­weise verwirklichen wollte, um von da aus die ganze Welt zum Reich Gottes zu machen. Auch das hat man bald auf fromme, bald auf gott­lose Weise zu tun versucht.

Der fromme weg führt von der internen Selbstdarstellung der Ge­meinde im kultischen Gottesdienst über die Klerikalisierung der Gesell­schaft zu der Kirche als politischem Machtfaktor mit eigenen politischen und sozialen Grundsätzen und Programmen. Der gottlose weg führt von einem bestimmten Menschenbild über die entsprechenden politischen und sozialen Ideologien zum Kampf um einen utopischen Zukunftsstaat. Dabei brauchen beide Wege durchaus nicht getrennt zu sein oder sich gar zu bekämpfen. Der Klerikalismus hat sich je und je mit der und jener dieser Ideologien verbündet und umgekehrt, um gemeinsam sich gegen andere Ideologien zu wehren.

Aber das Ziel der neuen Gemeinde ist nicht das Reich Gottes neben und über und jenseits dieser Welt, sondern die vom Himmel auf diese alte Erde mit Christi Wiederkunft herabkommende neue Polis, das „neue Jerusalem“. Darum verkündigen wir das Dasein der neuen Ge­meinde als das menschliche Zusammenleben der durch Christus zu Menschen gewordenen Menschen und da­mit die große Verheißung für die politischen Be­mühungen des Menschen.

Das ist es, worauf der Prediger vorausblickt, wenn er an seine Predigtaufgabe geht. Das ist das Ereignis, von dessen Eintreten er in der Vorfreude der Erwartung lebt, mit der er allein predigen kann.

12. Der Rückblick auf die überwundene Anfechtung

Nun kann der Prediger aber bei seiner Verkündigung nicht nur auf den neuen Menschen in der neuen Gemeinde vorausblicken, sondern er muß auch auf das Vergangene zurückblicken, das er und seine Gemeinde hinter sich gelassen haben, weil dieses Alte sie ja stets wieder einzuholen und über das Neue Herr zu werden droht. Aber es wird nun alles darauf ankommen, daß er nicht so zurückblickt, wie Lots Weib auf Sodom und Gomorrha und darüber zur Salzsäule erstarrt.

Von dieser Erstarrung wird ihn wiederum nur die Verkündigung selbst retten können, die ihm bezeugt, damit er es wiederum seiner Gemeinde bezeuge, daß diese Vergangenheit durch Christus überwunden ist und daß wir darum die aus ihr entspringenden Anfechtungen nur noch so an uns heranlassen dürfen, daß wir sie nur noch als im Glauben immer schon überwundene Anfechtungen zur Kenntnis nehmen, die darum jene Vorfreude nicht mehr stören können.

Als solche im Glauben immer schon überwundene Anfechtungen muß sie jedenfalls der Prediger immer in mente haben. Das wird neben der Konkretion des Kerygmas in diesem bestimmten Text und in Antwort auf dieselbe die Konkretion seiner Predigt zu bestimmen haben. Es ist, wenn man so will, die „Anknüpfung“ bei der jeweiligen und jeweils anderen Situation, in der die Verkündigung sich ereignet, und die not­wendig ist, damit die Predigt nicht über Kopf und Herz und Situation des Hörers hinweggeht. Aber es muß dann eben eine Anknüpfung bei dieser Situation als einer durch die Verkündigung immer schon über­wundenen sein, die nur noch dazu bedacht werden muß, um aus ihr die „listigen Anläufe“ des Widersachers kennen zu lernen. Als solche muß sie der Prediger dann bei seiner Verkündigung nicht nur für sich selbst in mente haben, sondern er wird je und je auch explizit in seiner Predigt von ihr sprechen müssen, wenn er für sich selbst bei seinem Predigen davon lebt, daß sie schon überwunden ist, dann wird er davor geschützt sein, sie in falscher weise zu Wort kommen zu lassen und durch sie die Gül­tigkeit seiner Verkündigung in Frage stellen zu lassen oder sie auch nur anders als eine immer schon überwundene Möglichkeit zu diskutieren.

Welche Möglichkeiten werden von dem Prediger in dieser Weise gerade heute besonders zu bedenken sein? wir brauchen zur Beantwortung dieser Frage nur noch einmal zurücksehen auf das, was uns bei der Erfüllung unserer Predigtaufgabe eine besondere Anfechtung bereitet hat.

Da war zunächst jener Mensch XY, der seinem Beruf zum Opfer ge­fallen und von dem Pfarrer und Unmensch XY aufgezehrt worden war und für den ich mich zu wehren versuchte, wir haben nun gesehen, wie das Kerygma des Textes selbst sich für ihn wehrt, denn wenn die Ver­kündigung uns von dem Krampf des eritis sicut Deus befreit, dann muß das doch wohl für den Pfarrer ebenso gelten wie für jeden anderen ihrer Hörer. Es ist sogar beim Pfarrer ganz besonders wichtig, daß er dieser Anfechtung, welche ihn zum Unmenschen, d. h. zu einem auf halber Höhe zwischen Gott und den Menschen wandelnden Wesen machen will, kräftig widersteht. Er darf hier den Erwartungen seiner Gemeinde auf keinen Fall entgegenkommen. Diese hat zwar im allgemeinen gar nicht die Ab­sicht, ihm selbst aus jene Höhe nachzufolgen. Sie möchte ihn aber darum dort sehen, um selbst von diesem Dasein und damit von der ganzen christ­lichen Existenz als einer für sie nicht zumutbaren Unmenschlichkeit dis­pensiert zu sein. Gibt der Pfarrer hier nach, so wird er selbst das stärkste Hindernis für die Wirkung seiner Predigt sein, und zwar um so mehr, je mehr es ihm gelingt, sich tatsächlich auf jene halbe Höhe hinaufzuglauben; denn dann bestärkt er die Gemeinde in dem Aberglauben, daß eben jenes unmenschliche Dasein von Halbgöttern die eigentliche christ­liche Existenz sei.

13. Die überwundene Anfechtung des Sakramentalismus

Man wird sagen können, daß diese Versuchung zur Halbgötterei in der Person des Predigers das Einfallstor für alle weiteren Anfechtungen ist, welche das Predigen bedrohen, ob es nun die Anfechtung durch den Unglauben der Landeskirche oder den Unglauben der Gemeinde oder durch den eigenen Unglauben des Predigers ist. Diese Anfechtung kommt letzt­lich, wie wir gesehen haben, immer daher, daß man auf Grund seiner Erfahrungen mit sich selbst und mit der Gemeinde nicht zu glauben wagt, daß sich die großen Taten Gottes in der Verkündi­gung tatsächlich er­eignen, und daß man deshalb versucht ist, das Dasein der Kirche auf eine andere Wirklichkeit zu bauen, die uns zugänglich ist, über die wir ver­fügen zu können meinen und die wir mit unseren eigenen Mitteln her­beiführen und sicherstellen können. Diese Wirklichkeit, auf die wir uns verlassen, wenn wir uns auf die großen Taten Gottes im Ereignis der Verkündigung nicht verlassen, das ist die Wirklichkeit des from­men Menschen und die Kirche als die sichtbare und als solche ausweisbare Vereinigung dieser frommen Menschen.

Dieser fromme Mensch und seine Kirche leben nicht von dem Ereignis der Verkündigung, auch wenn sie natürlich die Predigt noch nicht direkt abschaffen wollen. Sie leben vielmehr davon, daß dieser fromme Mensch durch die Veranstaltungen der Kirche gepflegt, angeregt, gefördert oder wie man sagt „erbaut“ wird. Das soll dadurch geschehen, daß jener Funke, durch welchen sich das persönliche fromme Leben entzündet, von einem zum andern überspringt. Die Predigt hat nur noch die Bedeutung, das Überspringen dieses Funkens zu vermitteln, wobei dem Pfarrer als dem Prototyp des frommen Menschen die entscheidende Bedeutung zukommt. Damit ist der Pfarrer natürlich überfordert, denn wenn er versagt, d. h. wenn es bei ihm selbst nicht „zündet“, dann ist alles aus. Für diesen Fall muss man Vorsorge treffen und tut das, indem man das Versagen der Predigt durch eine erhöhte Feierlichkeit in der liturgischen Ausgestaltung des Gottesdienstes und in einer stärkeren Betonung der objektiven Gültig­keit der Sakramente auszugleichen sucht. Der Pfarrer wird aus dem Zeugen für die großen Taten Gottes mehr und mehr zum Liturgen, der den Gottesdienst als eine Manifestation des frommen Menschen zelebriert. So bekommt er dann wiederum seine große Bedeutung als der Vermittler zwischen Gott und der frommen Gemeinde. Es ist dann nicht mehr bloß seine persönliche Frömmigkeit, welche jenen Funken zum Überspringen bringt, sondern er tut das jetzt kraft seines Amtes und durch den Vollzug der objektiv wirkenden göttlichen Handlungen. Der Prediger wird zum Priester; und daß er nicht auch vollends die Priesterweihe erhalt und damit unabhängig von seiner persönlichen Frömmigkeit von Amts wegen zum Halbgott gemacht wird, ist nur eine jener Halbheiten der evange­lischen Kirche. Die unter uns immer stärker werdenden Bestrebungen, der Ordination immer mehr den Charakter der katholischen Priesterweihe zu geben, sind von-da aus nur folgerichtig und nicht mehr aufzuhalten. Auf diesem Weg muß dann die Bedeutung der Predigt mehr und mehr zurücktreten, und schließlich kann sie durchaus folgerichtig, auch ganz aus­fallen, so wie ja in der katholischen Kirche die Predigt nicht wesensnot­wendig zum Gottesdienst gehört.

Es ist deutlich, daß dieser ganze Weg der Pflege des frommen Menschen durch solche Veranstaltungen der Kirche von der Resignation auf die Predigt lebt. Daß dieser weg, wie man sagt, heute einem Bedürfnis von Pfarrern und Gemeindegliedern entgegenkommt, ist klar, was bleibt dem Pfarrer, der nicht mehr weiß, was Predigen heißt, von dem man verlangt, daß bei ihm jener Funke zünde, damit er die Gemeinde wieder entzünden kann und dem man damit Unmögliches und Unmenschliches zumutet — was bleibt diesem armen Mann anderes übrig, als sich auf jene halbe Höhe zwischen Gott und Mensch zu flüchten, um von ihr herab als priesterlicher Halbgott seine Gemeinde zu erbauen? Und was bleibt der armen Gemeinde, welche keinen Prediger mehr hat, der weiß, was seines Amtes ist, anderes übrig, als sich auf diese Weise „erbauen“ und zu derselben unmenschlichen Existenz verführen zu lassen? Gewiß handelt es sich hier um ein, und zwar gar nicht nur heute vorhandenes „Bedürf­nis“, nämlich um das Bedürfnis des natürlichen Menschen nach dem eritis sicut Deus, das immer dort auf- und ausbrechen muß, wo es nicht durch die Verkündigung der Menschwerdung des Menschen gerichtet und aus seinem Krampf befreit wird. Dieses Bedürfnis ist die eine Anfech­tung, welche der Prediger als die im Glauben überwundene Möglichkeit stets im Auge behalten muß.

14. Die überwundene Anfechtung des Klerikalismus

Mit jener Anfechtung vereint und als ihre Kehrseite tritt immer zu. gleich eine zweite Anfech­tung auf. Diese von dem Priester geführte und von ihm als dem Prototyp des frommen Menschen repräsentierte Kirche führt als solche dieselbe eigentümlich halbgöttliche Existenz wie ihre einzelnen Vertreter. Sie ist als Gemeinschaft ein Mittelding zwischen den politischen und sozialen Gemeinschaften der Welt und dem Reich Gottes.

Daraus erklärt sich wohl ihre politische und soziale Sterilität auf der einen Seite, als auch der politische Anspruch, den sie auf der anderen Seite erhebt. Sie ist politisch und sozial steril, weil ihr eigentliches Da. sein als jene Gemeinschaft der frommen Menschen sich fern von dem politischen und sozialen Leben der Menschen im gottesdienstlich-kultischen Raum, sozusagen unter Ausschluß der politischen Öffentlichkeit vollzieht. Sie erhebt aber zugleich den Anspruch, daß die politische Welt diesen Raum als etwas Sakrosanktes respektiert und seine Integrität mit politischen Mitteln schützt. Aber darüber hinaus erhebt sie auch noch den Anspruch, daß sie dieser politischen Welt für ihr Zusammenleben Gesetze geben kann, die mit einer höheren Dignität versehen sind, als jene sie aus sich selbst hat und die kraft göttlichen Rechtes gelten sollen. Zum Priester tritt als die ihm entsprechende politische Erscheinung die Theokratie.

Auch hier ahmt die evangelische Kirche das katholische Vorbild nach und bleibt zugleich bei dessen Durchführung in der üblichen Halbheit stecken. Innerhalb des Gottesdienstes will man eine möglichst unpolitisch« Predigt oder höchstens eine politische Moralpredigt. Die politischen In­teressen der Kirche dagegen werden unabhängig vom Gottesdienst mit politischen Mitteln durch politische Kräfte verfochten. Man verfügt dabei freilich nicht wie die katholische Kirche über ein bestimmtes kirchlich sanktioniertes politisches Programm mit bestimmten christlichen Grund­sätzen, sondern ist auch hier, genau so wie bei der evangelischen Abart des Priesters, auf die persönliche Frömmigkeit der Betreffenden ange­wiesen, die zugleich auch ihre politische Einsicht und Fähigkeit garantieren soll. Die Kirche selbst macht dabei keine Politik und legt sogar großen Wert auf ihren unpolitischen Charakter. Statt dessen verweist sie ihre Glieder an bestimmte politische Kräfte und Parteien als ihren politischen Arm, der die politische Verantwortung der Kirche in Form einer Klerikalisierung der Gesellschaft zu besorgen hat.

Auch dieser weg lebt von der Resignation in Bezug auf die Predigt. Denn würde man glauben, daß durch die Verkündigung die großen Taten Gottes eintreten, dann würde man die Aufgabe, die sich aus dem Zu­sammenleben der Christen als Glieder eines politischen Gemeinwesens ergeben, nicht von der Predigt ausnehmen und einem politischen Arm der Kirche zur Erledigung übergeben. Man würde vielmehr die Christen im Gottesdienst als Glieder dieses politischen Gemeinwesens, und d. h. eben in ihrem menschlichen Dasein anreden. Man würde ihnen sagen, wie sie in der Freiheit des Evangeliums, das sie zu wirklichen Menschen be­freit, mit ihren Nebenmenschen Zusammenleben können, so daß sie gar nicht auf den Irrweg verfallen könnten, eine christliche Gesellschaft neben der menschlichen einzurichten und auszubauen. Man würde sie also nicht in dem Wahn bestärken, jene Halbgötterei auch auf die politische Ebene ausdehnen zu können und zu sollen. Und sie von diesem Wahn zu befreien, das wäre die Aufgabe derPredigt als politische Predigt.

Auch von dieser klerikalen Halbgötterei ist zu sagen, daß sie einem tatsächlich vorhandenen Bedürfnis entspringt, was soll denn die arme Gemeinde machen, welche merkt, daß ihr Zusammenleben als solches keine Zeugniskraft besitzt, daß sie tatsächlich kein Licht und kein Salz für die Welt ist und darum politisch steril ist und keinerlei politische Bedeutung hat? Sie will doch davon Zeugnis geben, daß mit Christus das Reich Gottes herbeigekommen ist und darum die politischen Mächte nicht mehr sich selbst und ihrer eigenen Gesetzlichkeit überlassen sind, wenn sie nun keine politische Predigt im rechten Sinn des Wortes mehr hört, d. h. keine predigt, welche die Menschwerdung des Menschen verkündigt und ihr eben damit in der Freiheit des Glaubens den weg zu einem mensch­lichen Zusammenleben im politischen Gemeinwesen eröffnet, wenn sie immer nur die Forderung hört, eine Gesellschaft von frommen Unmen­schen abseits von der menschlichen Gesellschaft und zu deren Missionie­rung bilden zu müssen — kann diese Gemeinde gerade in ihren ernsten, ihren frommen und verantwortungsbewußten Gliedern denn einen an­deren als diesen klerikalen weg sehen?

Kann aber der verantwortungsbewußte Prediger in diesem Bedürfnis seiner Gemeinde nach der Möglichkeit einer direkten politischen Aktivi­tät abgesehen von der Zeugnisfähigkeit, welche sie durch die Kraft ihres eigenen Daseins innerhalb ihrer politischen Umwelt hat, und der er durch seine politische Predigt zu dienen sucht — kann er in dieser Versuchung etwas anderes sehen als die ihn bei seinem Predigen dauernd bedrohende, tödliche Anfechtung, deren er sich jeden Augenblick bewußt zu sein und die er auch immer wieder anzuvisieren und explizit auszusprechen hat?

15. Die Antwort auf die Verkündigung in der Selbst­bezeugung der Gemeinde

Zum Schluß wäre noch zu fragen, wovon es abhängt, daß so gepredigt werden kann. Bestimmte Voraussetzungen beim Pfarrer oder bei der Gemeinde, die erst erfüllt sein müßten, braucht es jedenfalls nicht. Nötig ist nur der Text, einer, der darüber predigen kann und mindestens einer, der ihm dabei zuhört. Alles weitere, das Versammeln der Gemeinde und den Raum in der Welt, den sie dazu braucht, besorgt sich die Verkündi­gung selbst.

Wenn das Ereignis der Predigt an keine Voraussetzung gebunden ist, so verlangt es aber jedenfalls eine Antwort von der Gemeinde. Ich meine nicht das so beliebte „Echo“, das der Prediger gerne hören möchte, und das zu den ihn bedrohenden Anfechtungen zu rechnen ist. Ein Echo ist keine Antwort. Die Antwort hat zu bestätigen, daß die Verkündigung als eine verbindliche Aufforderung zum Glauben gehört worden ist. Sie muß also im Gehorsam des Glaubens gegeben werden. Es sind immer die einzelnen Hörer, welche diese Antwort zu geben haben, mit der sie ihren Glauben bezeugen. Aber wenn es die Antwort auf die Verkündigung ist, die sie nie als Einzelne, sondern immer als Glieder der Gemeinde anredet, dann können sie auch nicht als isolierte Einzelne, sondern immer nur in ihrem Dasein als Glieder der Gemeinde antworten.

Aus welche Weise kann diese Antwort gegeben werden? Sie wird zu­nächst im Gottesdienst selbst erfolgen als das Amen auf die gehörte Verkündigung durch Gebet, Gesang und Bekenntnis des Glaubens der Gemeinde. Aber all das kann immer noch auch ein bloßes Echo sein. Zu einer echten Antwort gehört, daß die Gemeindeglieder einschließlich des Pfarrers, sich gegenseitig in ihrem ganzen Zusammenleben in und außerhalb des Gottesdienstes bei dieser Antwort behaften können. Diese Antwort muß also nicht nur von den Einzelnen in ihrem Dasein als Glieder der Gemeinde, sondern sie muß durch das Dasein der Gemeinde als solcher gegeben werden.

Durch ihre Ämter und Ordnungen, mit denen sie über die Lehre und das Leben in der Gemeinde wacht, durch den Dienst der Diakonie und die Aufbringung der notwendigen finanziellen Mittel als freies Opfer ihres Glaubens bezeugt die Gemeinde sich selbst als die von der Verkündigung lebende und für diese Verkündigung verantwortliche Kirche. Ob sie diese Verantwortung wahrnehmen will, ist nicht in ihr Belieben gestellt. Tut sie das nicht, dann macht sie die Verkündigung zwar äußerlich nicht unmöglich, aber sie macht sie innerlich unglaubwürdig, weil sie ihre Verbindlichkeit verleugnet. Dasselbe tut sie, wenn sie sich diese Verant­wortung zu ihrer Selbstbezeugung durch solche Ordnungen und Gesetze, seien es die der Landeskirche oder ihre eigenen, abnehmen läßt, die auch durchzuführen sind und durchgeführt werden sollen ohne Rücksicht auf den Glauben der Gemeinde, und die darum mit dem Eintreten der großen Taten Gottes in der Verkündigung nicht rechnen. Kann die Verkündigung eine solche, kraft Gesetzes in sich selbst ruhende Ordnung, wie sie trotz des Kirchenkampfes heute noch z. B. sämtliche Landeskirchen der EKD haben, nicht mehr in Frage stellen, um Raum für eine echte Verantwortung gegenüber dem Ereignis der Verkündigung zu schaffen, dann ist das Dasein der Kirche nicht mehr bloß eine stete Anfechtung für die Verkündigung, sondern die Kirche ist dann in ihrer Leitung und Ordnung der umfassendste und bis ins Letzte durchorganisierte Versuch, die Verkündigung unglaubwürdig zu machen und damit zu verhindern. Die Verkündigung kann dann nur noch in stetem Kampf gegen dieses Attentat auf die Freiheit der Gemeinde zu ihrer Verantwortung vor dem Evangelium geschehen.

Vortrag, gehalten bei der Jahrestagung der Kirchlich-theologischen Arbeitsgemeinschaft für Deutschland am 15. September 1948 und der Sitzung des Reichsbruderrates am 15. Oktober 1948 in Bad Boll.

Quelle: Evangelische Theologie 9, Heft 5 (1949), S. 193-211.

Hier der Text als pdf.

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