Reich Gottes und Kirche (1940)
Von Karl Barth
Herr J. Tscherner hat mir im Kirchenblatt (Nr. 13 vom 29. März 1940), anknüpfend an meinen Radiovortrag vom Karfreitag, die Frage gestellt: Warum die „neue Theologie“ dem Kirchlichen eine so überragende Bedeutung zumesse, während sie das kommende Reich Gottes in den Hintergrund geraten lasse.
Ich will mich nicht dabei aufhalten, mich darüber zu beklagen, dass diese Frage nun doch in keinem Verhältnis steht zu dem, was ich in jenem Vortrag (ob Herr Tscherner ihn nicht im Kirchenblatt für die reformierte Schweiz vom April noch einmal nachlesen will?) und sonst gesagt habe, oder in ihrer Zusammenfassung trifft, was ich in Wirklichkeit zu vertreten habe.
1. Die Kirche ist wirklich nur eine untergeordnete Bedeutung. Diese hat sie allerdings, so ist die Gemeinde die durch die Verkündigung des Reiches Gottes geschaffen, der diese übergeben, durch die sie auszurichten und in der sie zu vernehmen ist. Die Evangelien und Briefe des Neuen Testaments sind das Zeugnis derer, die Jesus Christus zuerst zu dieser Gemeinde berufen und denen er den Auftrag gegeben hat, durch ihr Wort diese Gemeinde zu begründen und zu erhalten. Nur in dieser Gemeinde kann man ihr Wort in seinem konkreten Sinn verstehen und auslegen. Wir müssen, um ihr Zeugnis vom Reiche Gottes zu hören, in den Raum kommen und in dem Raum sein, den Jesus Christus dazu geschaffen hat, und in dem seine Zeugen geredet haben und noch reden. Man darf sich, um in Sachen der übergeordneten Wahrheit des Reiches Gottes sicher zu gehen, auch in Sachen dieser untergeordneten Wahrheit der Kirche nicht irren. Es hätte keinen Sinn, für die Kirche gegen das Reich Gottes zu streiten. Es hat aber auch keinen Sinn, für das Reich Gottes gegen die Kirche streiten zu wollen.
2. Was in der Kirche und durch die Kirche zu geschehen hat, das kann nur sein: das kommende Reich Gottes gar sehr in den Vordergrund treten lassen. Herr Tscherner hat ganz recht, wenn er sagt, dass dazu auch das gehört, dass die Menschen in ihrer Not nach dem Reiche Gottes schreien, als kluge Jungfrauen ihre Vorbereitungen treffen, dass sie bereit und wach werden. Es muss aber sehr klar sein und bleiben, dass es sich dabei wirklich um die Erwartung des Reiches Gottes handelt. Nicht etwa um die Erwartung irgend eines (vielleicht in bester Absicht von ihm ersonnenen und doch auch von uns selbst herbeizuführenden) „Idealzustandes! Der „Gewaltglaube“, dessen Beseitigung Herr Tscherner offenbar besonders am Herzen liegt, ist gewiss eine wüste Sache. Aber die Pharisäer und Schriftgelehrten der Evangelien und die Leute, die in den neutestamentlichen Briefen als die Vertreter der Art erscheinen, die dem Kommen des Reiches Gottes im Wege zu stehen, waren (man lese etwa den Galater- oder den 1. Korintherbrief!) gewiss nicht ausgerechnet Gewaltgläubige. Was das Neue Testament als Sünde beschreibt, ist vielmehr der Glaube des Menschen an sich selbst – im Gegensatz zum Glauben an Jesus Christus – der wohl auch die Gestalt von Gewaltglauben haben kann, der aber nicht notwendig gerade Gewaltglaube sein muss und dessen übelste Form nicht notwendig der Gewaltglaube zu sein braucht: jene Selbstgerechtigkeit, in der der Mensch unter Umständen immer noch ein ganz brauchbarer Idealist sein kann. Denn das Reich Gottes ist nach dem Neuen Testament sehr schlicht eben Jesus Christus selber als die uns unverdient zugewendete Wohltat Gottes. Er kommt. Er macht alles neu. Er ist unsere Hoffnung. Und dass wir ihm dankbar entgegengehen, das ist unsere Zubereitung für ihn und also auf das kommende Reich Gottes. Dankbar: also Leute, die nicht mehr so stur auf sich selbst – darum dann gewiss auch nicht mehr auf ihr bisschen Gewalt – sondern immer noch ein wenig völliger auf ihn vertrauen.
KBA 10139 (2. Mai 1940)