Martin Niemöller, Rede auf der Kirchenversammlung in Treysa 1945: „Es handelt sich ja eben nicht darum, dass wir als Kirche in der Vergangenheit dies und das falsch gemacht haben, es handelt sich nicht um Fehler, sondern wir haben grundsätzlich das uns aufgetragene Amt im Ungehorsam versäumt und sind damit schuldig geworden. Deshalb haben wir Buße zu tun und umzukehren im rechten Gehorsam, deshalb mit Ernst zu fragen, wie es nun anders, ganz anders werden kann und soll. – Wir sind eine Behördenkirche gewesen, und dieser Umstand hat es uns erleichtert, nur das traditionell Übliche zu tun und nicht weiter zu fragen, was denn eigentlich unsere Verantwortung war; die Kirche der Zukunft wird nie wieder Behördenkirche sein dürfen. Wir haben als Landeskirche in erster Linie unser Augenmerk darauf gerichtet, den Bestand zu wahren, und darüber haben wir den Blick für notwendige Entwicklungen und für die drängenden Aufgaben des Augenblicks verloren.“

Bericht im Auftrag des Reichsbruderrats. Rede auf der Kirchenversammlung in Treysa 1945

Von Martin Niemöller

Meine verehrten Herren und Brüder!

Zu den Ausführungen von Herrn Landesbischof D. Wurm darf ich im Auftrag des Reichsbruderrats in diesem Augenblick noch ein Wort hinzufügen, um Ihnen deutlich zu machen, in welchem Geist wir unsere vorbereitenden Verhandlungen in Frankfurt in der vergangenen Woche geführt haben und mit welchen Absichten wir hierher gekommen sind.

Gewiß geht es auch uns darum, daß wir in der Evangelischen Kirche in Deutschland zu einer Einigkeit über Führung und Weg kommen und hier nicht etwa wieder in lauter einzelne Landeskirchen und Gruppen auseinanderfallen; aber freilich wird diese Einigkeit nur möglich sein auf dem Boden einer gemeinsamen Einstellung und Haltung. Weithin sind neue Übergangsleitungen bereits geschaffen, und es ist uns eine Beruhigung und Freude, daß sie im allgemeinen auf der Linie der Barmer Erklärung von 1934 stehen und wirken wollen. Trotzdem wird die Bekennende Kirche sich nicht etwa auflösen, sondern ihr Wächteramt weiterführen, bis durch allgemeine Gemeindewahlen der Weg zu einer endgültigen und bekenntnismäßigen Leitung im ganzen Bereich der Kirche freigeworden ist.

Denn darüber darf in unserer Mitte allerdings kein Zweifel gehen, wie das ja Herr D. Wurm bereits betont hat, daß eine kirchliche Restauration auf der Grundlage der Zustände vor 1933 auf gar keinen Fall das Ergebnis sein darf, wenn nicht die ganzen Kämpfe, Leiden und Opfer der letzten zwölf Jahre umsonst sein sollen. Wir können nicht einfach weiter arbeiten, als ob nichts geschehen wäre, und wir können nicht einfach einen fröhlichen Schritt vorwärts tun, er könnte sonst der direkte Schritt in die Hölle werden. Ehe wir anfangen, haben wir umzukehren auf den rechten Weg.

Ich muß hier einen Ton anschlagen, der in allem, was wir bisher gehört haben, zweifellos zu kurz gekommen ist. Gewiß: wir stehen vor großen drückenden Nöten überall, wir stehen vor dem Chaos und vielfach schon mitten drin. Und wir haben zu fragen, was uns dahin gebracht hat? Die Not geht nicht zurück auf die Tatsache, daß wir den Krieg verloren haben; wer von uns möchte denn wünschen, wir hätten ihn gewonnen; wo würden wir erst stehen, wenn Hitler gesiegt hätte! Es ist ja gar nicht auszudenken, was das erst für eine Katastrophe und für ein Chaos geworden wäre. Unsere heutige Situation ist aber auch nicht in erster Linie die Schuld unseres Volkes und der Nazis; wie hätten sie denn den Weg gehen sollen, den sie nicht kannten; sie haben doch einfach geglaubt, auf dem rechten Weg zu sein! – Nein, die eigentliche Schuld liegt auf der Kirche; denn sie allein wußte, daß der eingeschlagene Weg ins Verderben führte, und sie hat unser Volk nicht gewarnt, sie hat das geschehene Unrecht nicht aufgedeckt oder erst, wenn es zu spät war. Und hier trägt die Bekennende Kirche ein besonders großes Maß von Schuld; denn sie sah am klarsten, was vor sich ging und was sich entwickelte; sie hat sogar dazu gesprochen und ist dann doch müde geworden und hat sich vor Menschen mehr gefürchtet als vor dem lebendigen Gott. So ist die Katastrophe über uns alle hereingebrochen und hat uns mit in ihren Strudel gezogen. Wir aber, die Kirche, haben an unsere Brust zu schlagen und zu bekennen: meine Schuld, meine Schuld, meine übergroße Schuld! – Das haben wir heute unserem Volk und der Christenheit zu sagen, daß wir nicht als die Frommen und Gerechten vor ihnen stehen und zu ihnen kommen, daß wir vielmehr schuldig sind und versuchen wollen, in Zukunft unsere Pflicht recht zu erkennen und treu zu erfüllen. Wir haben jetzt nicht die Nazis anzuklagen, die finden schon ihre Kläger und Richter, wir haben allein uns selber anzuklagen und daraus die Folgen zu ziehen. – Das ist der Ton, den ich hier und anderwärts bislang vermißt habe, und das ist der Ton, der in Frankfurt von Anbeginn durch unsere Verhandlungen als Reichsbruderrat hindurchgeklungen ist, und der auch der Grundton hier in Treysa sein muß, wenn wir zu einem wirklichen und bleibenden Ergebnis mit unseren Verhandlungen kommen wollen. Es handelt sich ja eben nicht darum, daß wir als Kirche in der Vergangenheit dies und das falsch gemacht haben, es handelt sich nicht um Fehler, sondern wir haben grundsätzlich das uns aufgetragene Amt im Ungehorsam versäumt und sind damit schuldig geworden.

Deshalb haben wir Buße zu tun und umzukehren im rechten Gehorsam, deshalb mit Ernst zu fragen, wie es nun anders, ganz anders werden kann und soll. – Wir sind eine Behördenkirche gewesen, und dieser Umstand hat es uns erleichtert, nur das traditionell Übliche zu tun und nicht weiter zu fragen, was denn eigentlich unsere Verantwortung war; die Kirche der Zukunft wird nie wieder Behördenkirche sein dürfen. Wir haben als Landeskirche in erster Linie unser Augenmerk darauf gerichtet, den Bestand zu wahren, und darüber haben wir den Blick für notwendige Entwicklungen und für die drängenden Aufgaben des Augenblicks verloren. Meine Brüder, wo steht denn geschrieben, daß die Landeskirchen bestehen bleiben müssen mit ihren z. T. unmöglichen Grenzen? – Und wer weiß, wie bald die Landeskirchen unter den gegenwärtigen Erschütterungen und in der hin- und herwogenden Menschen- und Flüchtlingsflut in unserem Vaterland untergehen und zerbrechen werden müssen? – Wir haben offen zu sein für das, was der Herr der Kirche uns als seine Aufgaben sendet, und brauchen dazu eine lebendige Kirche, die fragt und hört. – Wir müssen auch eine ganze Anzahl von Persönlichkeiten aus den Kirchenleitungen loswerden, die zur Führung der Kirche nicht geeignet gewesen sind. – Wenn heute jeder kleine Parteigenosse Amt und Brot verliert, dann ist es unmöglich, daß Männer in den Kirchenleitungen gehalten werden, die sich in Hirtenbriefen oder in gedruckten Äußerungen oder sonst irgendwie so über den Nationalsozialismus und seine Weltanschauung ausgesprochen haben, daß der kleine Mann dadurch das gute christliche Gewissen bekam, sich der Partei anzuschließen. Von den Männern, die selbst Parteigenossen waren, oder denen, die dazugehörten, brauche ich nichts zu sagen. Wenn wir sie halten wollten, würden wir ja damit die Kirche in unserem Volk von vornherein wieder unglaubwürdig machen, und zwar durch neue Schuld! – Wir müssen uns auch trennen von altgewohnten Moden und Methoden in unserer Verkündigung und Unterweisung. Ich sage nichts Neues, wenn ich daran erinnere, wie unglaubwürdig das gesprochene und geschriebene Wort überhaupt unter uns geworden ist; aber leider gilt das im besonderen auch von dem Wort unserer Verkündigung. Wir als Pfarrer wissen es ja, wie oft wir Predigten gehalten haben, bei denen wir uns hinterher ehrlicherweise fragen mußten: Was haben wir eigentlich gesagt? und bei denen die Hörer hinterher gefragt haben mögen: Was hat er eigentlich gesagt? Und um den Schaden Jakobs, um das, wozu wir hätten sprechen müssen, haben wir nichts zu sagen gewußt! – Wir dürfen nicht unter die Hecken säen, sondern haben ein wirklich Neues zu pflügen, wenn wir heute wieder ans Werk gehen wollen; wir fragen nach der Erneuerung der Kirche, nach einer echten und ernsten Reformation.

Damit, daß wir heute eine hierarchische, bischöfliche Leitung bekommen, wird es gewiß nicht anders. Wir wollen eine Kirche aus lebendigen Gemeinden, und daß die Kirche Gemeinde ist, soll auch in ihrem Aufbau und ihrer Organisation zum Ausdruck kommen. Wir wollen Personen in der Leitung der Kirche sehen, denen man es glauben kann, daß es anders und besser werden soll, Personen, denen man es in unserem Volk und in der Kirche glaubt, daß es ihnen um das Evangelium und um das Heil unseres ganzen Volkes zu tun ist. – Gewiß werden zunächst die verschiedensten Hilfswerke unsere Kraft in Anspruch nehmen, und wir müssen alle unsere Möglichkeiten ausschöpfen, um des Chaos Herr zu werden, das über uns hereingebrochen ist. Aber es geht zu gleicher Zeit um den neuen Aufbau, und darin muß es deutlich werden, daß wir von Grund auf ein Neues wollen. Hier muß ich sprechen von dem, was uns in Frankfurt in der letzten Woche besonders beschäftigt und umgetrieben hat, und das ist die öffentliche Verantwortung unserer Kirche. – Aus einem falsch verstandenen Luthertum heraus haben wir gemeint, dem Staat gegenüber keine andere Verantwortung zu tragen, als daß wir ihm gehorchen und die Christenheit zum Gehorsam ermahnen und erziehen, solange der Staat keine offenbare Sünde von uns fordert. Diese Haltung ist falsch, und wir haben uns hier neu auf unseren Auftrag zu besinnen. Was bedeutet die Tatsache, daß das Kreuz Jesu Christi auf Golgatha mitten in dieser Welt gestanden hat? Was meint die Tatsache, daß es inmitten dieser Welt seitdem eine christliche Gemeinde und Kirche gibt, für das Leben der Gemeinschaft und der Völker? – Damit, daß wir den Staat einfach als Heiden betrachten, und damit, daß wir ihm die heiligen zehn Gebote als Richtschnur vorhalten, ist es jedenfalls nicht getan. Wir Christen wissen als einzige darum, daß nicht allein wir, sondern alle Menschen unter der Hülle der Sünde das schöpfungsgemäße Ebenbild Gottes tragen, wir allein wissen darum, daß der christliche und nichtchristliche Bruder an unserer Seite zur Gotteskindschaft berufen sind wie wir selbst. Wir haben deshalb eine andere Stellung zu unseren Mitmenschen; wir wissen, daß sie gleich uns einen Anspruch auf Recht und Freiheit haben, und daß sie darum niemals für uns und für andere zum Gegenstand der Ausbeutung werden sollten. Wenn in dieser Welt die christliche Kirche einen Platz hat und gehört wird, dann haben wir als Kirche ein Interesse und eine Aufgabe, daß den Menschen Recht und Freiheit auch im öffentlichen und staatlichen Leben gegeben werde. Deshalb ist uns aber die Staatsform und deshalb sind uns die Grundsätze, nach denen das öffentliche Leben gestaltet wird, nicht gleichgültig; und deshalb können uns Staatsform und Gesetze nicht einfach als gegebene Tatsachen erscheinen, mit denen wir uns stumm abzufinden haben. Die Demokratie, wie sie in der abendländischen Welt seit dem Eintritt des Christentums in die Geschichte gewachsen ist, hat nun einmal mehr mit dem Christentum zu tun als irgendeine autoritäre Form der Staatsführung, die das Recht und die Freiheit für den einzelnen verneint. Über diese Dinge haben wir uns klar zu werden und für das praktische Verhalten der Kirche wie für unser Reden als Kirche daraus die Folgerungen zu ziehen. Unser Volk wartet auf Wegweisung, die Völker warten auf die Stimme der Kirche in Deutschland, weil wir alle wissen: es geht nun darum, daß ein Neues werde und daß die Kirche, die allein noch etwas in dieser Richtung sagen und beginnen könnte, ihren Mund auftut.

Es geht uns um die Einheit der Evangelischen Kirche in Deutschland; werden wir hier in Treysa sie finden und gestalten können? Wir werden dazu neue Wege zu beschreiten haben, wir werden anders sprechen müssen, als die Kirche bisher gesprochen hat. Gott helfe uns zu einer entschlossenen Umkehr und lege uns das gemeinsam zu sprechende Wort durch seinen Heiligen Geist selber in den Mund!

Quelle: Fritz Söhlmann (Hrsg.), Treysa 1945. Die Konferenz der evangelischen Kirchenführer 27.-31. August 1945. Mit einem Bericht über die Synode der Bekennenden Kirche in Berlin-Spandau 29.-31. Juli 1945 und über die unmittelbar vorangegangenen Tagungen des Reichsbruderrates und des Lutherischen Rates, Lüneburg: Heliand Verlag, 1946, S. 22-27.

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