Über die Anrufung Gottes und das Gebet (De invocatione Dei seu de precatione)
Von Philipp Melanchthon
Obwohl über viele andere Tugenden – wie Mäßigung, Sanftmut und dergleichen – so viele und genaue Schriften existieren, ist es erstaunlich, dass über die höchste aller Tugenden, nämlich die Anrufung Gottes, nicht nur sehr wenig überliefert wurde, sondern sich auch Irrtümer eingeschlichen haben: etwa die Anrufung der Toten, die Vernachlässigung der Lehre vom Glauben – die doch gerade bei der Anrufung die größte Rolle spielen sollte –, sowie die Vernachlässigung der Unterscheidung zwischen der Verheißung der Gnade und der Verheißung irdischer Güter. Es ist jedoch von größtem Nutzen, dass die Kirche über die Anrufung Gottes richtig, sorgfältig und reichlich unterwiesen wird, denn sie ist ein Werk, das allein der Kirche zukommt.
Andere Tugenden wie Mäßigung und Sanftmut findet man auch bei Menschen, die Gott nicht kennen – wie bei Pomponius Atticus und ähnlichen –, aber die Anrufung ist ausschließlich die Schutzmauer der Kirche. Wie Salomo sagt (Spr 18,10): „Der Name des Herrn ist ein starker Turm“, das heißt: die wahre Anrufung Gottes.
Dabei sind Abstufungen zu beachten: Entweder bitten wir Gott um etwas – das nennt man eigentlich Bitte oder Gebet –, oder wir danken für eine empfangene Wohltat, das heißt: Wir bezeugen, dass wir von Gott wahrhaft Hilfe empfangen haben, und bringen ihm unseren Dank dar. Durch das Feiern dieser Wohltat rufen wir uns selbst und andere zur Gottesfurcht, zum Glauben und zur Anrufung auf. Paulus nennt diese Formen häufig, etwa in Phil 4,6: „Seid um nichts besorgt, sondern in allem lasst durch Gebet und Flehen mit Danksagung eure Anliegen vor Gott kundwerden.“ Unsere Anrufung soll also nicht leer und heidnisches Gemurmel sein. Wir trennen unsere Anrufung von der heidnischen, mohammedanischen und jüdischen und lernen, wie Gott richtig angerufen werden soll.
Als Erstes sollen wir beim Beten häufig darüber nachdenken, worin der Unterschied zwischen der wahren Anrufung, die die Kirche Gottes vollzieht, und der heidnischen, mohammedanischen oder jüdischen Anrufung besteht. Dabei ist besonders zweierlei zu unterscheiden: Zum einen geht es um das Wesen Gottes, zum anderen um seinen geoffenbarten Willen in den Verheißungen und im Sohn als Mittler. Was den ersten Punkt betrifft, so weichen Heiden, Mohammedaner und Juden – und alle, die Götzen oder Tote anrufen – vom wahren Gott ab, der sich durch sein gegebenes Wort und durch seinen gesandten Sohn offenbart hat. Die Türken rufen zwar, wie sie sagen, Gott, den Schöpfer von Himmel und Erde, an. Aber sie wollen nicht, dass dieser der wahre Gott ist – jener, der uns dieses Wort gegeben hat, das durch die Propheten und Apostel überliefert wurde, und sie bekennen nicht, dass Christus der Sohn Gottes ist. Daher weichen sie vom wahren Gott ab, wie Christus klar sagt (Joh 5,23): „Wer den Sohn nicht ehrt, ehrt auch den Vater nicht.“ Gott will auch gar nicht anders erkannt werden, als er sich durch sein Wort und durch den Sohn offenbart hat. Deshalb haben wir oft gesagt, dass man keine wahre Kirche der Auserwählten denken darf, es sei denn, sie ist eine versammelte Gemeinde, in der das Evangelium wirklich verkündet wird. Nur dort geschieht die wahre Anrufung, weil die Anrufung unbedingt an diesen Gott gerichtet sein muss, der sich durch dieses gegebene Wort und den gesandten Sohn Jesus Christus offenbart hat.
Das zweite Unterscheidungsmerkmal ist nicht weniger notwendig: Auch wenn die natürliche Vernunft zugibt, dass es einen Gott gibt – einen ewigen Geist von unermesslicher Macht, Weisheit, Gerechtigkeit und Güte, den Schöpfer der Welt, der die Schuldigen bestraft –, so wissen dennoch alle, die das Evangelium nicht kennen, nicht, ob Gott unsere Gebete überhaupt erhören will und warum er das tun sollte. Sie kennen den Mittler Christus und die Verheißungen nicht. Doch wo das nicht bekannt ist, gibt es auch keine wirkliche Anrufung. Es ist nur ein leeres Gemurmel, wie bei Vergil (Aen. IV, 208–210) in der Rede des barbarischen Königs:
„Wenn du, Vater, mit dem Blitz schleuderst,
Fürchten wir dich vergebens, und die blinden Feuer in den Wolken
Schrecken nur die Seelen und vermischen sich mit leerem Getöse?“
So wird erzählt, dass es auf Kreta eine Statue des Jupiter gab, die weder Augen noch Ohren hatte – ein Sinnbild dafür, dass es keine göttliche Vorsehung gibt und dass die Gebete der Menschen nicht erhört werden. Gegen dieses Übel müssen die Herzen unterrichtet werden: dass beim Beten der Glaube notwendig ist, dass Gott unsere Gebete wahrhaft erhört – und zwar um des Mittlers willen, gemäß seinen Verheißungen.
Deshalb soll beim Beten eine Form im Sinn behalten werden, die beide Unterscheidungen enthält – sowohl über die göttlichen Personen als auch über die Verheißung:
Allmächtiger, ewiger und lebendiger Gott, ewiger Vater unseres Herrn Jesus Christus, du hast dich durch unermessliche Güte offenbart und von deinem Sohn, unserem Herrn Jesus Christus, gerufen: „Auf ihn sollt ihr hören!“ Du bist der Schöpfer und Erhalter aller Dinge mit deinem ewigen Sohn, unserem Herrn Jesus Christus, und deinem heiligen Geist, der über die Apostel ausgegossen wurde – du weiser, guter, barmherziger, gerechter und starker Richter: Erbarme dich meiner um Jesu Christi willen, deines Sohnes, unseres Herrn, den du wolltest, dass er für uns das Opfer sei, in wunderbarem und unaussprechlichem Ratschluss, damit du deine gewaltige Zorn gegen die Sünde und deine unermessliche Barmherzigkeit gegenüber dem Menschengeschlecht offenbarst. Heilige und regiere mich durch den Heiligen Geist, erhalte und regiere deine Kirche und die Obrigkeiten, die Herbergen der Kirche sind. Unterstütze das Lernen der kirchlichen Lehre und anderer ehrenhafter Wissenschaften usw.
Diese Form erinnert den Beter auf gewisse Weise an die Personen Gottes, an den Mittler und an die Verheißungen. Denn wenn wir den Mittler nennen, kommen uns auch die Verheißungen in den Sinn, wie ich später noch erklären werde. Es ist nämlich zu bedenken, zu welchem Gott du deine Anrufung richtest, wo und warum er sich offenbart hat. Ein gewaltiges und unaussprechliches Geschenk Gottes ist es, dass er sich durch so glänzende und sichere Zeugnisse – durch sein Wort und durch seinen gesandten Sohn Jesus Christus – offenbart hat. Er will also so erkannt werden, wie er sich selbst offenbart hat, und nur die hört und erhört er, die diesen offenbarten Gott anrufen und den Mittler anerkennen.
Zwar gibt es bei Platon eine schöne und gelehrte Beschreibung: „Gott ist ein ewiger Geist, die Ursache des Guten in der Natur.“ Man könnte sagen: Was braucht es mehr? Hat Platon Gott nicht erkannt, wie er ist – ewig, weise, gut, Schöpfer aller guten Dinge? Aber das reicht noch nicht. Unser Geist muss zu dem Gott hingeführt werden, wie er sich offenbart hat, und die Lehre vom Sohn als Mittler muss festgehalten werden.
Nachdem diese Unterscheidungen dargelegt sind, will ich die Lehre von der Anrufung nun in fünf Punkte gliedern:
Erstens: Man soll bedenken, welchen Gott man anruft, auf welchen Gott der Sinn gerichtet ist. Unser Geist soll nicht umherschweifen wie der der Heiden, sondern – wie Christus sagt (Joh 14,6): „Niemand kommt zum Vater außer durch mich.“ Man muss daran denken, dass nur dieser der wahre Gott ist, der sich von Anfang an seiner Kirche offenbart hat, durch sein gegebenes Wort und durch diesen gesandten Sohn, unseren Herrn Jesus Christus, den Mittler. Deshalb habe ich oben eine Form angegeben, die die drei Personen und das Zeugnis der Offenbarung umfasst.
Zweitens: Man soll über das Wort nachdenken. Der Geist, der das Wort Gottes nicht kennt, zweifelt nämlich, ob Gott angerufen werden will, ob er unsere Seufzer beachtet und warum er sie erhören sollte. Es scheint kein leichteres Amt zu geben als die Anrufung – denn immer schon haben auch Heiden und Gottlose in der Kirche irgendwelche Gebete gesprochen. Wenn wir über diese nachdenken, beginnt unser Geist zu zweifeln: Kümmert sich Gott mehr um uns als um jene? Oft sind wir gefallen, wir haben Strafe verdient, wir sind der Wohltaten Gottes unwürdig. Gegen diese Einwände, durch die die Anrufung bei vielen geschwächt oder gar völlig ausgelöscht wird, wollen wir uns mit den folgenden Abschnitten wappnen.
Es ist also das zweite Gebot das Gebot des Betens.
Nicht nur Mord, Diebstahl und Ehebruch sind Sünden, sondern auch eine große Sünde ist es, Gott diesen Gottesdienst nicht zu erweisen, nicht zu bitten, nicht in Gefahren Hilfe von Gott zu erwarten, nicht für Wohltaten Dank zu sagen. Stellen wir daher den Geboten unseren Unglauben und unsere Unwürdigkeit entgegen. Wenn du zweifelst, ob Gott angerufen werden will, ob er unsere Seufzer, Tränen, Gelübde und Gebete beachtet, dann halte dir die Gebote vor Augen. Denn wenn er befiehlt, angerufen zu werden, ist das Gebet kein nutzloses Murmeln. Wenn dich deine Unwürdigkeit abschreckt, bedenke, wie töricht es wäre, bei den anderen Geboten zu argumentieren, dass wir uns deshalb nicht des Diebstahls oder Mordes enthalten wollen, weil wir es nicht wert seien, Gott zu gehorchen. Wenn ein Hausherr einem Knecht eine rechtmäßige Aufgabe überträgt, wird er keine Entschuldigung gelten lassen, wenn dieser sagt, er sei nicht würdig, ihm zu gehorchen.
Die Gebote sollen also immer vor Augen sein und beim Beten oft ins Gedächtnis gerufen werden.
Matthäus 7,7: „Bittet, und es wird euch gegeben.“
Und auch die universale Zusage in Vers 8: „Denn wer da bittet, der empfängt.“
Lukas 18,1: „Man muss allezeit beten und darf nicht nachlassen.“
Matthäus 26,41: „Wachet und betet, damit ihr nicht in Versuchung fallt.“
1. Timotheus 2,1: „Ich ermahne, dass man Bitten, Gebete und Fürbitten darbringe.“
1. Thessalonicher 5,16–18: „Freut euch allezeit, betet ohne Unterlass, seid dankbar in allen Dingen; denn das ist der Wille Gottes in Christus Jesus für euch.“
Psalm 50,15: „Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten.“
Ich habe vom Gebot gesprochen. Diese Aussagen gehören zum zweiten Gebot des Dekalogs. Und das Gebet ist das Werk dieses zweiten Gebots und der vornehmste Gottesdienst.
Drittens Punkt:
Nachdem die Gebote betrachtet wurden, fragt die fromme Seele sogleich nach den Verheißungen, um zu wissen, ob und warum Gott uns, die wir unwürdig und des Leidens würdig sind, erhört.
Und die Ordnung der Verheißungen soll bedacht werden:
Am Anfang stellen wir uns die Verheißung der Vergebung der Sünden vor Augen. Denn es ist ein wahres Wort: „Gott erhört Sünder nicht“, das heißt: Er erhört diejenigen nicht, die nicht Buße tun und nicht um Vergebung bitten. Daher soll bei jedem Gebet – auch wenn wir andere Dinge erbitten – zuerst an die Vergebung der Sünden gedacht werden, die um Christi willen verheißen ist.
Dabei sollen uns besonders klare Aussagen vor Augen stehen:
Apostelgeschichte 10,43: „Von diesem geben alle Propheten Zeugnis, dass jeder, der an ihn glaubt, durch seinen Namen Vergebung der Sünden empfängt.“
Römer 5,1: „Da wir nun gerecht geworden sind durch den Glauben, haben wir Frieden mit Gott.“
Und wir sollen viele Zeugnisse im Gedächtnis behalten – wie wir sie zuvor über Rechtfertigung und Buße gesammelt haben –, damit es fest im Herzen verwurzelt sei, dass dies wirklich die ewige Stimme des Evangeliums ist, seit der Verheißung an Adam: Dass uns sicher um Christi willen Vergebung geschenkt wird. Und dass man bei jedem Gebet mit Vertrauen auf Christus, den Mittler, zu Gott treten soll, wie es in Epheser 3,12 heißt:
„Durch ihn haben wir Freimut und Zugang in Zuversicht durch den Glauben an ihn.“
Nachdem wir also an die Versöhnung erinnert wurden, sollen wir danach die Verheißungen über geistliche und leibliche Güter sammeln:
Johannes 16,23: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr den Vater um etwas bittet in meinem Namen, wird er es euch geben.“
„In meinem Namen“ – das heißt, wenn ihr bittet mit dem genannten Mittler, dem Hohenpriester, der für euch eintritt. Denn er befiehlt uns, zu Gott im Vertrauen auf den Mittler zu kommen, wie schon oft gesagt wurde.
Johannes 14,6: „Niemand kommt zum Vater denn durch mich.“
Lukas 11,13: „Wie viel mehr wird euer Vater im Himmel den Heiligen Geist denen geben, die ihn bitten!“
Psalm 50,15: „Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten.“
Johannes 15,7: „Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren.“
Diese Worte binden die Verheißung an die Kirche, in der das Evangelium recht verkündet wird. Die Kirche Christi sei also gewiss, das heißt: die Versammlung, in der das Evangelium Gottes ertönt – denn sie wird wirklich erhört, solange sie das Evangelium bewahrt.
Ebenso heißt es über die Kirche in Matthäus 18,19:
„Wenn zwei von euch übereinkommen auf Erden über irgendeine Sache, für die sie bitten wollen, so wird sie ihnen zuteilwerden von meinem Vater im Himmel.“
Vers 20: „Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.“
Auch hier wird der Kirche eine süße Verheißung gegeben.
5. Mose 4,7: „Welche große Nation hat Götter, die ihr so nahe sind, wie der Herr, unser Gott, uns nahe ist, sooft wir zu ihm rufen?“
Er bestätigt also, dass die Kirche, in der das Wort Gottes ertönt, wirklich erhört wird.
Psalm 145,18: „Nahe ist der Herr allen, die ihn anrufen, allen, die ihn in Wahrheit anrufen. Den Willen derer, die ihn fürchten, wird er tun, und ihr Flehen wird er erhören.“
Jesaja 65,24: „Ehe sie rufen, will ich antworten; während sie noch reden, will ich hören.“
Jesus Sirach 35,21: „Das Gebet dessen, der sich demütigt, durchdringt die Wolken und wird nicht eher ablassen, bis der Höchste hinschaut.“
O unaussprechliche Güte und Barmherzigkeit Gottes gegenüber der Kirche, die das Evangelium verkündet!
Er befiehlt, dass wir um Güter bitten, und fügt die reichsten Verheißungen hinzu, um uns zum Gebet einzuladen. Doch der Mensch ist schwach und scheut Gott in seiner Verblendung.
Lasst uns also, erweckt durch diese vielen Gebote und Verheißungen, unseren Zweifel überwinden und anfangen, zu Gott zu treten – geführt durch Christus –, und nicht meinen, Gottes Verheißungen seien leere Worte, wie die Epikureer es meinen.
Nicht vergeblich hat sich Gott in so vielen klaren Zeugnissen offenbart, nicht vergeblich seinen Willen bekannt gemacht – er will mit seiner Stimme unsere Dunkelheit und Zweifel korrigieren.
Wie schön sagt daher Tauler:
„Der Mensch ist niemals so begierig zu empfangen, wie Gott begierig ist, zu geben. Denn Gott ist wahrhaftig und hält seine Verheißungen.“
Vierter Punkt:
Der Glaube muss im Gebet entzündet werden.
Deshalb sind die Verheißungen gegeben – um den Glauben zu entfachen. Wie ich schon zuvor über die Ordnung der Verheißungen gesagt habe, so muss man hier zuerst wissen:
Bei jedem Gebet – was auch immer erbeten wird – muss der Glaube vorangehen, der die Vergebung der Sünden annimmt und feststellt, dass wir Gott gefallen und dass unsere Gebete wirklich erhört werden um Christi willen, des Mittlers.
Darum umfassen auch die Zeugnisse über den Glauben, die Paulus zitiert – obwohl sie oft auch äußere Dinge betreffen – stets diesen Glauben.
Wer das nicht versteht, meint fälschlich, Paulus zitiere Genesis und die Propheten unzutreffend. Ich erinnere mich, solche Einwände gehört zu haben.
Aber David konnte nicht um Sieg bitten, ohne vorher gewiss zu sein, dass ihm die Sünden vergeben sind, dass er von Gott angenommen ist und dass Gott seine Gebete erhört.
Das habe ich bereits erwähnt, als ich von der Rechtfertigung sprach.
Ich habe über das Bitten um geistliche Güter gesprochen, nun will ich über die leiblichen Wohltaten sprechen. Auch hier, wie zuvor gesagt, soll der Glaube leuchten, der die Vergebung der Sünden empfängt und gewiss ist, dass wir Gott gefallen und dass unsere Gebete um Christi willen angenommen werden. Diesen Glauben sollen wir bei jeder Bitte zu Gott bringen.
Bezüglich der Dinge selbst aber müssen wir drei Dinge glauben:
Erstens, dass Gott wahrhaft der Geber dieser Wohltaten ist, dass sie nicht zufällig geschehen und nicht allein durch menschliche Anstrengung zustande kommen. Damit wir also erkennen, dass sie göttlich gegeben sind, will Gott, dass wir sie von ihm erbitten: Nahrung, Schutz, Ruhe, Frieden, Erfolg im Beruf, gute Gesundheit.
Zweitens müssen wir glauben, dass Gott, obwohl er will, dass die Kirche dem Kreuz unterworfen ist, sie doch nicht vernichten will, sondern ihr leibliche Güter geben will: mäßigen Wohlstand, Schutz, Unterstützung der Lehre, Schulen, Erfolg in der Regierung und andere notwendige Dinge.
Drittens ist zu glauben, dass Gott beim Bitten um leibliche Dinge den Glauben an die Versöhnung üben und wachsen lassen will.
All dies soll man bedenken, wenn man um leibliche Güter bittet. Und weil wir wissen, dass die Kirche dem Kreuz unterworfen sein muss, sollen wir diese Bitten immer so vorbringen, dass wir zugleich unsere Bereitschaft zur Gehorsam bekennen, falls Gott will, dass wir noch länger geprüft werden. So bittet David um die Rückkehr in sein Königtum, als er von seinem Sohn vertrieben wurde, bietet aber dennoch Gott seinen Gehorsam an, falls er ihn nicht zurückführen will. So sagt er in 2. Samuel 15,25:
„Wenn ich Gnade finde in den Augen des Herrn, wird er mich zurückbringen; wenn er aber spricht: Du gefällst mir nicht – hier bin ich, er tue, was ihm gut erscheint.“
Und Christus spricht in Matthäus 26,39:
„Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst.“
Und der Aussätzige sagt (Matthäus 8,2):
„Wenn du willst, kannst du mich reinigen.“
Und die drei Männer in Daniel 3,17:
„Unser Gott, dem wir dienen, kann uns retten; aber wenn er es nicht tut, sei dir, König, dennoch bekannt, dass wir deine Götter nicht anbeten.“
Und Paulus sagt (Römer 8,26):
„Wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie es sich gebührt“ – das heißt: Das Fleisch, bedrückt von der Last des Leids, bittet um Befreiung und fürchtet den Gehorsam; aber der Geist führt den Sinn zurück zum Gehorsam. Und obwohl er Befreiung erbittet und erwartet, widersetzt er sich doch nicht dem Willen Gottes, sondern will befreit werden, wenn es Gott gefällt.
Wenn wir also für die Kirche, den Staat, die Familie oder die Schule beten, soll jener allgemeine Glaube gegenwärtig sein, wie gesagt. Bezüglich der Dinge selbst sollen wir glauben, dass Gott uns entweder von den Katastrophen befreien wird, um derentwillen wir bitten, oder sie mildern wird. Denn da die Kirche in diesem Leben dem Kreuz unterworfen ist, bleiben einige Leiden bestehen – aber diese mildert Gott für die Frommen, die ihn anrufen.
So bitten die Propheten um Milderung. Jeremia (10,24):
„Züchtige mich, Herr, mit Maß, nicht in deinem Zorn.“
Habakuk (3,2):
„Im Zorn gedenke deiner Barmherzigkeit.“
Jesaja (64,9):
„Zürne nicht sehr, Herr!“
Und in solcher Fürbitte bitten die Einzelnen nicht nur für sich, sondern zunächst für den ganzen Leib der Kirche. Dafür sollen wir beten, auch wenn jedes einzelne Glied zur Gehorsam bereit sein soll, wenn etwas zu ertragen ist. So bittet David, wenn er für sein Heer um den Sieg fleht, damit die Kirche unversehrt bleibe. Zugleich weiß er, dass einige in Gefahr geraten oder getötet werden, und bietet seinen eigenen Gehorsam an. Und sein Gebet ist nicht vergeblich – es wird von Gott angenommen und bringt vielen Milderung des Übels.
Ebenso, wenn wir beten, dass die Pest gemildert wird, sorgen wir uns nicht nur um uns selbst, sondern umfassen die ganze Kirche an jenem Ort. Für diese wird das Gebet von Gott angenommen, und es bringt tatsächlich vielen Heil. Denn Gott will, dass wir durch Gebet für andere und die ganze Kirche Sorge tragen, wie es geschrieben steht (Psalm 122,6):
„Bittet für den Frieden Jerusalems!“
Bei Euripides (Supplices 768), als Theseus die Leichen der Argiver aus Theben zurückholt und später mit eigenen Händen wäscht – worüber sich andere wundern, warum er diese schreckliche Arbeit nicht den Dienern überlasse – antwortet jemand, dass es Hochmut oder unpassender Luxus sei, sich vor dem Elend zu scheuen, obwohl es unser Amt erfordert:
„Nicht ziemt es Menschen, sich vor dem Leid anderer zu ekeln.“
Das schönste Beispiel dieses ehrenhaften Satzes ist in Christus zu sehen: Er hielt es nicht für unwürdig, die Strafen unserer Sünden auf sich zu nehmen und von unserem Elend berührt zu werden. So sollen auch wir durch das Elend der Kirche, des Staates, der Eltern, der Kinder, der Freunde bewegt werden – und nicht nur für uns selbst, sondern auch für andere Hilfe erflehen.
Und was sagt der besondere Glaube, der ausdrücklich auf Befreiung oder Milderung hofft? Das sollen wir im Gebrauch selbst verstehen lernen – das heißt: Das Herz, das Gott in leiblicher Not anruft, soll lernen, im Glauben bei Gott zu ruhen. Je größer der Zweifel und das Misstrauen, desto mehr empfinden wir inneren Schmerz. Der Glaube ist aber bei manchen stärker, bei anderen schwächer. Stark und fest war der Glaube der Kanaanäerin, die für ihre Tochter bat, ebenso der des Hauptmanns. Schwächer war er im Vater, der seinen Sohn zuerst zu den Aposteln, dann zu Christus brachte (Markus 9,22):
„Wenn du etwas kannst, hilf uns.“
Und später, unter Tränen, erkennt er die Schwäche seines Glaubens und bittet um Stärkung (Vers 24):
„Ich glaube, Herr; hilf meinem Unglauben!“
Auch wir sollen lernen, die Ängste des Herzens zu erkennen, die Gott fliehen. Wenn der Glaube auch schwach ist, sollen wir dennoch das Wichtigste festhalten: Dass die Gebete nicht vergeblich sind, dass es kein unnützes Murmeln ist, wie es Epikureer und Akademiker meinen. Lasst uns unsere Herzen erheben im Nachdenken über die vielen Verheißungen und die Gefährdungen der Dinge bedenken. Wir sollen wissen, dass wir ausdrücklich um Versöhnung bitten sollen und glauben müssen, dass wir sie empfangen – ohne die Bedingung „wenn es Gott gefällt“ hinzuzufügen. Denn Gott hat seinen Willen deutlich gemacht und geboten, ausdrücklich um Versöhnung zu bitten. Und wir sollen uns nicht selbst mit Fragen zur Prädestination verwirren, die – wie zuvor gesagt – beiseitegelassen werden sollen; denn wir sollen über Gottes Willen aus seinem klaren Wort urteilen.
Dann sollen wir auch bezüglich leiblicher Leiden ausdrücklich entweder um Befreiung oder Milderung bitten. Denn hier ist unser Gehorsam nötig, wenn Gott ihn verlangt. Dennoch ist das Gebet nicht vergeblich – es erwirkt entweder anderen oder dir selbst Befreiung oder Milderung. Das Gebet des Laurentius auf dem Rost ist nicht vergeblich, obwohl er Gehorsam leistet; denn auch wenn er nicht befreit wird, erwirkt das Gebet doch größere Kraft. Auch Jonathan, der vom Feind getötet wird, als er den verworfenen Vater verteidigt, betet nicht vergeblich für das Heer und sich selbst. Am Ende siegt der Teil, den er selbst als überlegen erhofft, und er selbst wird durch verborgenen Trost gestärkt.
Wir sollen also nicht glauben, dass Bitten um leibliche Wohltaten vergeblich sind, weil sich die Ereignisse nicht immer so fügen, wie wir es wünschen. Denn oft fügen sie sich so: Hagar erlangt Wasser für ihren Sohn; Jakob erfleht Schutz auf der Reise, damit er nicht von seinem Bruder Esau überfallen wird; Mose erfleht durch Gebet den Sieg, während er mit erhobenen Armen auf dem Felsen steht; Hanna, die Unfruchtbare, erlangt durch Gebet Fruchtbarkeit und wird Mutter Samuels; Josaphat, Hiskia, Judas Makkabäus und viele andere erlangen durch Gebet Siege; die Niniviten erlangen, dass ihre Stadt nicht zerstört wird.
Zu diesen Geschichten wollen wir die täglichen Befreiungen fügen, die durch Gebete der Kirche zu allen Zeiten erlangt wurden. Wie oft hat Gott, auf dein oder mein oder irgendjemandes Bitten hin, großes Unheil abgewehrt oder gemildert – selbst wenn zitternd gebetet wurde? Wir sollen nicht glauben, dass die Befreiung zufällig geschah, wie es unter den Menschen üblich ist, die – undankbar nach empfangener Wohltat – ihre Helfer vernachlässigen. Ich weiß von mir selbst, dass mir durch Gottes Hilfe schon mehrfach große Katastrophen gemildert wurden.
Alle Befreiungen also – sei es die fremden, von denen wir lesen, sei es unsere eigenen, die wir selbst erleben – sollen wir als Beispiele göttlicher Verheißungen erkennen. Durch diese Verheißungen und Beispiele sollen wir lernen, Gott anzurufen, um Hilfe zu bitten und sie zu erwarten. Unser Glaube bzw. Vertrauen soll dadurch allmählich fester werden, das Herz in der Hoffnung und Erwartung göttlicher Hilfe ruhen. So lernen wir durch Erfahrung jenen Vers (Ps 55,23): „Wirf deine Sorge auf den Herrn, er wird dich erhalten und wird dem Gerechten niemals wanken lassen.“
Gott gibt auch leibliche Güter, wie dieses Leben, damit immer eine Kirche Gottes auf Erden verbleibt – damit es Lehrer und Schüler gibt, damit die Lehre nicht verloren gehe, damit die Schrift nicht untergehe. Wären die Apostel alle sofort getötet worden – wer hätte dann das Evangelium in der Welt verbreitet? Darum gibt Gott jedem Lehrer seine bestimmte Laufbahn und schützt dabei seinen Leib, gibt ihm Wohnung, staatliche Ordnung, Schule und Lebensunterhalt. So bewahrt er das Schiff des Paulus eine Zeitlang, bis Paulus in ihm den Hafen erreicht.
Lasst uns also über die wahren Gründe nachdenken, weshalb leibliche Güter gegeben werden, damit wir sie geordnet und ernsthaft als notwendige Wohltaten Gottes erbitten.
Zwei Umstände üben dabei den Glauben im Bitten: die Weise (wie) und die Zeit (wann). Mose denkt keineswegs daran, dass er mit einem solch großen Volk vierzig Jahre lang unter Mühsal in der Wüste umherziehen würde. Vielleicht hoffte er auf eine einmonatige Reise. So lehren viele Beispiele, dass Gott auf andere Weise und zu anderer Zeit befreit, als wir in unserer Schwachheit denken oder wünschen. Er übt uns, damit wir im Glauben an ihm hängen und uns nicht durch unsere eigenen Meinungen leiten lassen.
Darum heißt es im Psalm 4,4: „Wunderbar handelt der Herr an seinem Getreuen“, das heißt: Gott befreit nicht durch menschliche Ratschlüsse, sondern auf wunderbare Weise, die menschliche Vernunft nicht vorhersehen kann. Und Epheser 3,20 sagt, dass Gott mehr zu tun vermag als wir bitten oder verstehen. Und über die Verzögerung wird oft geklagt, doch auch darin liegt eine göttliche Erziehung.
Viele aber entzünden sich nicht zur Liebe Gottes, weil sie von ihm keine Wohltaten erbitten. Darum sei das Gebet um ein bestimmtes Gut, damit wir erkennen, dass Gott nicht nur für sich selbst gut ist, sondern auch zu uns gütig. Diese Ehre will er sich zuschreiben lassen. Es sollen jedoch nur Dinge erbeten werden, die nicht durch Gottes Gebote verboten sind: Saul soll nicht um Davids Tod bitten, David nicht um Urias’ Tod. Wie 1 Joh 5,14 sagt: „Das ist die Zuversicht, die wir zu Gott haben, dass er uns hört, wenn wir etwas nach seinem Willen bitten.“
Und über die Ordnung wurde oben oft gesprochen. Es ist notwendig, zuerst um Versöhnung zu bitten – ja, vergeblich hätte David den Sieg erbeten, wenn er nicht zugleich um Vergebung der Sünden gebetet hätte. Es soll also der Glaube der Bitte um Versöhnung vorangehen und uns auf die Annahme durch Christus stützen – dies sei Grundlage aller weiteren Bitten. Dann sollen wir unsere große Schwachheit an Seele und Leib bedenken, um zu verstehen, dass wir Gottes Hilfe nötig haben.
Ein großer Teil der Menschen lebt in so tiefer Finsternis, dass sie ihre eigenen Elenden nicht einmal bemerken. Menschen, betäubt durch Genüsse, Reichtum oder Schmerzlosigkeit, erfreuen sich an gegenwärtigem Vorteil und glauben nicht, dass sie Gottes Hilfe nötig hätten – sie glauben, sie bräuchten nur Ruhe. Doch diejenigen, die durch menschlichen Rat unlösbare Mühsale erdulden, gedrückt unter der Last der Dinge, sind gezwungen, Gottes Hilfe zu suchen – wie Jesaja 26,16 sagt: „In der Bedrängnis suchten sie dich, o Herr, in der Angst flüsterten sie ein Gebet: deine Züchtigung traf sie.“
Wir sollen also zuerst über die Gefahren in unseren Meinungen und Sitten nachdenken. Viele große Männer sind schrecklich gefallen: Adam, Aaron, David, Petrus – und viele andere, von denen manche nicht Buße taten, wie z. B. Sambatenus, Arius und andere. Dabei müssen wir nicht nur unsere eigene Schwäche erkennen, sondern auch die List des Teufels, der wie ein brüllender Löwe umhergeht und sucht, wen er verschlingen kann.
Der Teufel spinnt ein langes Netz: Er will nicht nur, dass David Ehebruch mit der Frau Urias begeht, sondern er strebt von diesem Anfang an eine lange Tragödie an, die David in ein unlösbares Elend stürzt – in der Hoffnung, dass David darin untergehen möge, wie Saul unterging.
Wirklich beklagenswert ist die Gleichgültigkeit der Menschen, die, obwohl sie täglich traurigste Beispiele sehen, die offensichtlich vom Teufel stammen, dennoch weder gegen diesen grausamen Feind noch gegen solche Gefahren mit ausreichender Wachsamkeit oder Anrufung Christi gewappnet sind.
Es war offenkundig der Wahn des Teufels, was in der anabaptistischen Aufruhr von Münster geschah – und das Ende war sehr traurig. Doch selbst diese Schande und Strafe hat viele nicht ausreichend erschüttert, um die Irrlehren der Anabaptisten zu meiden. Wie oft hat der Teufel ohne berechtigten Grund Kriege angezettelt? Wie oft hat er uns privat große Wunden geschlagen, indem er uns durch scheinbare Argumente in böse Gesellschaft verstrickte?
Die Größe der Übel, mit denen der Teufel Menschen – ja, die Kirche – umgarnt, lässt sich mit Worten nicht beschreiben. Doch sie wird irgendwie erkannt, wenn man die Geschichten aller Zeiten und die täglichen Beispiele des Lebens bedenkt – und durch unsere eigenen Fehler bestätigt.
So lesen wir in Lukas 18,7 im Beispiel vom ungerechten Richter und der Witwe, und in Habakuk 2,3: „Wenn er sich verspätet, warte auf ihn, denn er wird gewiss kommen und nicht ausbleiben.“
Wir dürfen also Gott weder Weise noch Zeit vorschreiben, sondern sollen beides seiner Weisheit anbefehlen, damit unsere Augen sich nicht auf die äußeren Umstände richten, sondern auf Gott selbst – und wir zum Gebet angespornt werden.
Ein leuchtendes Beispiel dieser Regel finden wir in der Geschichte der Judith, Kapitel 8: Als sie hörte, dass der Priester Gott eine Frist von fünf Tagen gesetzt hatte, tadelte sie ihn und sprach (V. 11): „Wer seid ihr, dass ihr Gott versuchen wollt?“ Und (V. 13): „Ihr setzt Gott eine Frist, zu helfen.“
Darum: Da wir Weise und Zeit nicht kennen, lasst uns auf Gott schauen und von ihm einen günstigen Ausgang erbitten, wie 2 Chronik 20,12 sagt: „Wir wissen nicht, was wir tun sollen – aber unsere Augen sehen auf dich.“ Dieser Ausspruch enthält den süßesten Trost und soll uns stets vor Augen stehen in allen ungewissen Lagen, aus denen kein menschlicher Rat heraushelfen kann – und solche gibt es viele.
Ich will noch ein Verspaar von Joachim Camerarius anfügen, das diesen Spruch des Königs Josaphat wiedergibt und uns an dieses Gebot erinnert:
In der Dunkelheit unseres dicht umhüllten Sinnes,
Wenn in der Brust kein Rat mehr zu finden ist,
Erheben wir, o Gott, zu dir die Augen des Herzens –
Unser Glaube bittet nur von dir allein um Hilfe.
Und weiter:
Geleite, Vater, unseren Weg durch deinen Rat,
Dass unser Werk stets deiner Ehre diene.
Dasselbe lehrt Psalm 37,5: „Befiehl dem Herrn deinen Weg und hoffe auf ihn, so wird er es wohl machen.“ Und ein berühmtes Beispiel steht in Exodus 14: Als Pharao mit seinem Heer den Israeliten nahekam und sie zu erdrücken schien – die Israeliten aber unbewaffnet und vom Meer und den Bergen eingeschlossen waren, sodass es keinen Ausweg gab – da rief Mose (V. 13): „Fürchtet euch nicht! Steht fest und schaut, was für ein Heil der Herr euch heute bringen wird.“ – Er gebietet, zu stehen: das heißt, Gott weder Weise noch Zeit vorzuschreiben, nicht nach menschlicher Hilfe zu rennen, sondern in Gehorsam auszuharren und die Hilfe von Gott zu erwarten – wie die oben genannten Worte sagen (Jes. 30,15): „In Stille und Vertrauen liegt eure Stärke.“ Und (Ps. 46,11): „Seid still und erkennt, dass ich Gott bin.“
Fünftens: Im Gebet soll man sich klar machen und benennen, was man erbittet. Denn das Gebet ist Gottesdienst, weil es Gott diese Ehre gibt: dass er in unserem Elend Hilfe gewährt und dass sein Name nicht leer ist – wie die Epikureer lästerten – und dass er nicht an die „zweiten Ursachen“ gebunden ist, wie die Stoiker sagten.
Eine bloße Wortwiederholung ohne Glauben, dass Gott hilft, und ohne Dank für empfangene Gaben, ist leerer Wortklang. Selbst die Teufel, Feinde Gottes, wissen mit Gewissheit, dass Gott ein ewiger Geist ist von unendlicher Macht, Weisheit, Gerechtigkeit, Güte und Barmherzigkeit – doch hilft ihnen dieses Wissen nicht.
Die Gefahren unseres Leibes, durch Hunger, Entbehrung, Krieg, und die Not unserer Kirchen und Länder, die uns und unseren Studien Gastfreundschaft gewähren, sind zahlreicher und größer, als dass sie sich mit dem Verstand fassen ließen. Immer lebt der Fromme wie Daniel unter Löwen. Immer stellt der Teufel uns nach, stürzt unsere Vorhaben, bedroht die Kirche. Immer müssen wir traurige Ereignisse ansehen. Viele Ruinen kommen plötzlich – ganz wie es bei Ovid heißt (Ep. IV, 3,35f):
Alles Menschliche hängt an dünnem Faden,
Was einst stark war, fällt oft durch plötzlichen Zufall.
Die Jugend, noch unerfahren, meint, der Mensch sei zum Genuss und zum Vergnügen geboren und sucht beides mit trägem Sinn. Doch die Alten, die die allgemeinen Leiden gekostet haben, urteilen ganz anders – sie erkennen, dass dieses ganze Leben voller Mühsal ist, wie eine Stadt, die von Feinden belagert wird. Von allen Seiten greifen Feinde an, entfachen Feuer, stürzen Gebäude ein – und mit Mühe werden sie abgewehrt.
Alle Weisen wundern sich, warum diese edle, aber doch so schwache Natur des Menschen mit solchen Leiden beladen ist, die sie aus eigener Kraft gar nicht ertragen kann.
„Ein jeder ist seines Glückes Schmied“ – dieser Spruch legt nahe, dass das Schicksal durch unsere eigenen Entscheidungen gelenkt werden könne und dass durch menschliche Umsicht allen Zufällen vorgebeugt werden könne. Doch dass dieses Wort nicht auf die gesamte Führung des menschlichen Lebens anwendbar ist, liegt klar auf der Hand.
Adam konnte nicht das Verbrechen seines Sohnes Kain vorhersehen und verhindern, noch konnte er sich mit eigener Kraft den großen Schmerzen entreißen, die der Brudermord nach sich zog. Ein gewisses Maß an Umsicht nützt im alltäglichen Leben, bei leichteren Dingen, die von unserem Willen abhängen. In diesem Sinn heißt es: „Er ist der Schmied seines Glücks“, insofern als er nicht durch Rachsucht einen Bürgerkrieg entfacht – wie es etwa Marius, Pompejus oder Caesar getan haben. Aber es steht außer Zweifel, dass viele bittere Übel den Menschen treffen, die entweder gar nicht voraussehbar sind oder, wenn sie es doch wären, inmitten der menschlichen Irrtümer dennoch nicht vermieden werden – denn oft täuschen wir uns selbst und nähren törichte Hoffnungen.
So hätte Pompejus den Bürgerkrieg vermeiden können, doch er war von Begierde und leerer Hoffnung entzündet und irrte sich in seinem Entschluss. Wie es heißt: „Der Mensch plant, Gott lenkt.“ – Und schließlich, nachdem der Würfel gefallen ist, geschehen oft solche Dinge, dass man sie ohne göttliche Hilfe nicht ertragen kann. Adam und David wären unter ihren Schmerzen zusammengebrochen, hätten sie nicht göttlichen Beistand erfahren.
Die Ursachen dieser großen Leiden habe ich bereits erwähnt. Die Philosophie kennt die wichtigsten darunter nicht – nämlich dass Gott durch solche Zeugnisse seinen Zorn über die allgemeine Verdorbenheit der Menschheit und über viele individuelle Verbrechen offenbart, derentwegen gemeinsame Strafen über alle verhängt werden.
Die menschliche Vernunft bringt dagegen ein Argument vor, das oft diskutiert wird und das ich hier erläutern möchte:
„Den Gerechten soll es gut gehen. Die Kirche ist gerecht. Also soll es der Kirche gut gehen.“
Zunächst ist auf den zweiten Satz zu antworten: Die Kirche ist gerecht – ja, durch die Anrechnung der Gerechtigkeit und im Anfangsstadium des neuen Lebens in dieser sterblichen Welt. Doch in ihr haftet noch viel Dunkelheit, viele Zweifel an Gott, viele sündige Neigungen. Es gibt auch in der Kirche viele schwere Verfehlungen Einzelner – wie etwa die Aarons oder Davids –, die Gottes Zorn hervorrufen. Und wie ich bereits sagte, wird die Kirche oft mehr bedrängt als der Rest der Menschheit, der Gott nicht recht anruft. Denn Gott will gerade in seiner Kirche seinen Zorn über die Sünde erkennen lassen.
Tiberius und viele andere verachten Gott; obwohl sie nach diesem Leben bestraft werden, sind sie in diesem Leben weniger bedrückt als die Kirche. Denn Gott will, dass sein Gericht in der Kirche sichtbar und gefürchtet wird, wie geschrieben steht (1. Petrus 4,17): „Das Gericht beginnt am Hause Gottes.“ Weitere Gründe habe ich oben aufgeführt.
Nun zum ersten Satz: Dass es den Gerechten gut gehen soll, entspricht der göttlichen Ordnung, wie es das Gesetz bestätigt (Levitikus 18,5): „Wer sie tut, soll durch sie leben“, und ebenso (Deuteronomium 4,1): „Tu dies, und du wirst leben“ sowie in Deuteronomium 28: „Wenn du die Stimme des Herrn, deines Gottes, hörst und alle seine Gebote hältst, wirst du gesegnet sein beim Ausgehen und Eingehen“ – also in aller staatlichen und wirtschaftlichen Führung, in Krieg und Frieden, in der Kinderzeugung, -führung und -nachfolge, in der Wahrung der Reinheit der Kirche und der ehrbaren Ordnung.
Dies ist also die wahre Stimme des Gesetzes und die Regel der göttlichen Ordnung: Den Gerechten soll es gut gehen. Doch das Evangelium gibt die Auslegung dieser Regel: Den Gerechten wird es gut gehen – wenn die Kirche verherrlicht wird. Bis dahin verschiebt Gott die Belohnung. Denn die Kirche ist noch nicht ohne Sünde. Und da alle Güter und Übel dieses Lebens kurz und vergänglich sind, will Gott die Gerechten nicht mit flüchtigem Gut belohnen, noch die Ungerechten mit kurzen Strafen bestrafen, sondern seine Gerechtigkeit in ewigen Dingen zeigen.
Deshalb verschiebt er die wichtigsten Belohnungen und Strafen auf das ewige Leben. Dennoch straft er auch in diesem Leben in der Regel schwere Verbrechen mit sichtbaren körperlichen Strafen, um uns an seinen Zorn und das kommende Gericht zu erinnern – und auch zur Erhaltung des politischen Friedens.
Die Philosophen, erstaunt über diese scheinbare Verkehrung der Ordnung, wundern sich, wenn sie sehen, dass es den Guten – wie Palamedes oder Sokrates – schlecht geht, den Schlechten – wie Tiberius – hingegen gut, und versuchen, den Zusammenhang zwischen Tugend und Lohn zu klären. Daher die bekannten Fragen: Reicht Tugend zum Glück? War Sokrates glücklich, obwohl ihm keine Belohnung für seine Tugend zuteilwurde? Diese Fragen bleiben in der Philosophie unlösbar, werden aber in der Kirche klar erklärt:
Paulus ist glücklich, weil er Gott wohlgefällig ist, Gott als Beschützer und Führer hat. Und obwohl er weiß, dass er in diesem Leben wegen bestimmter Ursachen Leid erträgt, weiß er doch, dass die Kirche später mit unvergänglichem Gut geschmückt wird, nicht mit vergänglichem, das nur für eine kurze Zeit anhält. So wird also die Tugend zur rechten Zeit mit Lohn verbunden – und zwar mit ewigem, nicht mit vergänglichem wie das sterbliche Gut dieses Lebens.
Diese Auslegung des allgemein bekannten Arguments, dass es den Gerechten gut gehen müsse, habe ich dargestellt, nicht nur, um den Leser an eine bekannte philosophische Frage zu erinnern, sondern damit wir selbst aufmerksamer über unser Elend, dessen Ursachen und die Heilmittel nachdenken.
Wenn du also erkennst, dass du wie in einer belagerten Stadt lebst, die von allen Seiten hart bedrängt wird, und wenn du Not leidest, dann zeigen dir die Tatsachen selbst, dass du Hilfe suchen musst. Deshalb sollen die Anliegen, wie ich oben sagte, im Gebet vorgebracht und ihre Ordnung verstanden werden:
Zuerst soll um Vergebung der Sünden und um Versöhnung mit Gott gebeten werden – und damit verbunden um das Licht des Heiligen Geistes, das in uns die Erkenntnis Gottes, den Glauben, die Gottesfurcht, Geduld, Liebe entzündet und stärkt – und uns schließlich in unserer Berufung, in allen Entscheidungen, im Lehren und in der Leitung des Staates führt.
Zweitens sollen auch leibliche Güter erbeten werden, sowohl allgemeine als auch private: der Friede in den Regionen, die der Kirche und frommen Studien Schutz bieten, eine gerechte staatliche Ordnung, fruchtbares Land, günstige Wetterbedingungen, Gesundheit, Nahrung, Erfolg in der staatlichen und wirtschaftlichen Verwaltung, Schutz der Kinder, der Ehre, des Besitzes.
Die Torheit der Faulenzer und Heuchler, die sagen, es sei unwürdig, leibliche Güter von Gott zu erbitten, soll völlig verworfen werden. Diese Einwände sind voller Gottlosigkeit. Im Gegenteil, Gott befiehlt das Bitten – wie ich oben aus drei gewichtigen Gründen sagte:
- Damit wir erkennen und fest glauben, dass leibliche Güter nicht zufällig unter den Menschen verteilt werden, sondern dass Gott wahrhaft ihr Geber ist und sie seiner Kirche nach seinem wunderbaren Ratschluss zuteilt und bewahrt. Gott bewahrt das Leben Abrahams, Elias, des Paulus und versorgt sie mit Unterkunft, während sie unter großen Gefahren durch viele Länder wandern – wie Christus deutlich sagt (Matthäus 6,32): „Euer Vater weiß, dass ihr dessen bedürft.“
- Weil wir wissen sollen, dass Gott seine Kirche auch in diesem Leben erhalten will. Wie hätte Paulus lehren können, wenn er sofort getötet worden wäre? Damit er also eine Zeit lang lehren konnte, bat er um Leben, Nahrung, Unterkunft. Wie könnten wir der Kirche dienen, wenn unsere Körper vom Schmerz zerschlagen sind? Bitten wir also um Ruhe oder Linderung des Elends, damit wir der Kirche dienen können – und erkennen, dass Gott aus diesem Grund diese Güter geben will, wie oft bezeugt wird, etwa wenn Christus sagt (Matthäus 6,33): „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes, dann wird euch alles andere hinzugegeben.“
- Weil Gott will, dass durch diese Bitten um leibliche Güter unser Glaube an die Versöhnung mit Gott gestärkt wird. Denn bei all diesen Bitten soll immer der Glaube an die Versöhnung leuchten.
Ich wiederhole diese Gründe, damit sie stets vor Augen stehen und uns zur Anrufung Gottes anregen. Chrysostomus und viele andere legen das Gebet, das Christus gelehrt hat, falsch aus, wenn sie nicht wollen, dass mit dem „täglichen Brot“ das leibliche Brot gemeint ist. Wir sollen aber wissen: Diese Dinge, die den Leib betreffen – Leben, Nahrung, Schutz, Ordnung – sind große und wunderbare Werke Gottes. Sie werden nicht zufällig oder willkürlich unter den Menschen verteilt, sondern Gott selbst teilt sie in seiner Fürsorge bewusst zu und erhält sie.
Auch auf die sogenannten Stoiker soll man nicht hören, die behaupten, man solle Gott kostenlos dienen, weshalb man die leiblichen Güter nicht erbitten dürfe. Das ist Unsinn und stammt aus tiefster Finsternis. Diese Stoiker beachten nämlich nicht, wie schwach und zerbrechlich das menschliche Leben ist. Man erbittet diese Güter nicht als Belohnung oder Ausgleich – obwohl sie auch in geordneter Weise so erbeten werden können – sondern als notwendige Hilfsmittel in unserer Berufung. Mose hätte das Volk nicht führen können, wenn er seelisch oder körperlich zusammengebrochen wäre. Deshalb bittet er um Leben, Trost und Nahrung, um in seiner Berufung dienen zu können – und doch dient er mit freiem, willigem Geist. Er murrt nicht gegen Gott, selbst wenn er abberufen wird oder wenn er schwere Leiden ertragen muss, die er zuvor in seinen Gebeten zu vermeiden suchte.
Wenn wir diese Güter in rechter Ordnung erbitten – das heißt: die ewigen Güter voranstellen und Gott nicht den Rücken kehren, wenn er uns leibliche Güter vorenthält oder verzögert –, dann gefällt ihm diese Bitte, und er bekennt sich geehrt. Eine lange Diskussion ist dazu nicht nötig: Die Gebote sind bekannt, die Verheißungen auch, ebenso die Beispiele großer Väter und Propheten. Diese haben jene stoische oder besser gesagt kynische Philosophie beiseitegelassen und erkannt, dass alle guten Gaben von Gott in wunderbarer Ordnung geschaffen sind. Sie haben diese Güter nicht gering geschätzt, sondern Gott als den Urheber anerkannt und bei ihm Leben, Lebensunterhalt und Schutz erbeten.
Als Jakob den Herrn auf der Himmelsleiter stehen sah, vernahm er sowohl Verheißungen ewiger Güter als auch leiblicher Segnungen. Er wurde ja deshalb berufen – samt seinen Nachkommen –, um die Kirche zu gründen. Doch diese kann in diesem Leben nicht ohne Unterkunft, Leben und Lebensunterhalt ihrer Lehrer bestehen. Von den ewigen Gütern sagt er: „In deinem Samen sollen alle Völker der Erde gesegnet werden.“ Von leiblichem Schutz sagt er: „Ich werde dein Hüter sein, wohin du auch gehst.“ So dürfen auch wir immer, wenn die göttliche Stimme verheißt, dass die Kirche Christi bestehen bleibt – und das wird oft und deutlich verheißen –, daraus ableiten, dass zugleich auch Nahrung und Unterkunft der Kirche verheißen sind.
Es ist also Gottlosigkeit und Wahnsinn, die Herzen vom Gebet um leibliche Güter abzuwenden, wo Gott doch gerade durch diese Bitten seine Ehre empfangen und unseren Glauben stärken will.
Lasst uns daher, wie gesagt, in rechter Ordnung sowohl um die ewigen als auch um die leiblichen Güter bitten. Und obwohl ein Gebet auch im kurzen Seufzer geschehen kann, ist es doch für Jüngere wie Ältere nützlich, eine verständig und fromm verfasste Gebetsformel ohne Aberglauben zu verwenden – eine Formel, die den wahren Gott anspricht, unsere Anrufung von der heidnischen, muslimischen und jüdischen unterscheidet und uns an die göttliche Verheißung erinnert, sodass wir konkrete Dinge bitten.
Solche Gebete finden sich zahlreich bei den ersten Vätern und im Volk Israel. Sie unterscheiden in der Anrede genau zwischen dem wahren Gott und den Götzen, und sie erwähnen das Zeugnis, durch das Gott sich offenbart hat. Manchmal zitieren sie auch die Verheißung, um den inneren Kampf im Gebet auszudrücken – so wie Jakob in Genesis 32 (V. 9–12): „Gott meines Vaters Abraham und Gott meines Vaters Isaak, Herr, der du zu mir gesagt hast: Kehre zurück in dein Land, und ich will dir Gutes tun. Ich bin zu gering für alle deine Wohltaten. Rette mich aus der Hand meines Bruders Esau, damit er nicht Mütter mit ihren Kindern erschlägt. Du hast doch gesagt, dass du mir Gutes tun willst…“ So viele ähnliche Gebetsformen finden sich in den prophetischen Schriften. Es ist sehr nützlich, diese aufmerksam in ihren Teilen zu betrachten.
Die Anrede lautet: „Dich, den wahren Gott, der dich meinen Vätern Abraham und Isaak offenbart hat, rufe ich an und flüchte mich zu dir, nicht auf meine Würdigkeit vertrauend, sondern auf deine süßesten Verheißungen; denn ich erkenne, dass ich deiner Barmherzigkeit ganz und gar unwürdig bin – aber du hast gesagt, du willst mir helfen.“ Schau, wie er sich durch das Nachdenken über die Verheißung stützt und darin ruht. Dann folgt das Anliegen mit dem Grund: „damit die Kirche nicht untergeht; beschütze mich, damit die Mütter und Kinder nicht umkommen.“
Oft beten Väter und Propheten so: „Gott unserer Väter, Abraham, Isaak, Jakob“, das heißt: der Gott, der sich unseren Vätern Abraham, Isaak und Jakob mit sicheren Zeugnissen offenbart und ihnen Verheißungen gegeben hat. Später verwenden sie auch die Formulierung aus dem Dekalog (Ex 20,2): „Gott, der du Israel aus Ägypten geführt hast.“ Diese Formeln werden besonders häufig in den Psalmen wiederholt. Schließlich fügen Väter und Nachkommen dem allgemeinen Gottesnamen (Elohim – den auch Heiden verwendeten) den besonderen Namen „Jehova“ hinzu, den nur die Kirche der Väter und Israeliten verwendete. So spricht Jakob hier. Und im Psalm 20,8 heißt es: „Wir rufen den Namen des Herrn, unseres Gottes (Jehova) an.“ Solche Beispiele finden sich überall; darum halte ich es für eine verbreitete, fromme Gewohnheit, dass diese beiden Namen von Thomas in Joh 20,28 ausgesprochen wurden, als er sagte: „Mein Herr und mein Gott.“
Lasst uns also daran gewöhnen, ein Gebet laut zu sprechen und eine fromm und klug gestaltete Gebetsform zu verwenden – ohne Aberglauben, ohne magischen Gedanken. Wir sollen nicht Hymnen von Orpheus, Homer oder Kallimachus sprechen, sondern uns mit wahrem Herzensgefühl an den offenbarten Christus-Gott wenden. Unser Gebet richte sich an jenen Gott, den Schöpfer, der sich durch seinen gesandten Sohn Christus und durch das Evangelium offenbart hat.
Viele Träge, Trunkenbolde und Gleichgültige verachten das Sprechen eines Gebets. Aber die Frommen sind zu ermutigen, sich an eine bestimmte Gebetsweise zu gewöhnen – wie gesagt –, denn es gibt viele, sehr gewichtige Gründe dafür: Schon das Beten selbst ist ein Bekenntnis, durch das sich die Kirche, öffentlich wie privat, von den Götzen trennt. Jeder wird dadurch geschult und an den wahren Gott und an den rechten Gottesdienst erinnert. Außerdem entzündet das Nachdenken über Gottes Offenbarung und Verheißungen unsere Herzen: Der Glaube wird brennender, wenn man erkennt, wie groß die Güte Gottes ist, dass er sich offenbart hat, dass er gezeigt hat, wie er angebetet werden will, dass er einen Mittler aufgestellt hat und so viele Beispiele gegeben hat – dass er die Betenden wirklich erhört. Diese Herzensregungen und diesen Glauben soll das Gebet entzünden – und ein gebildetes Gebet hilft dabei. Denn der Glaube kommt aus dem Hören, das Hören aus dem Wort Gottes. Deshalb ist es notwendig, dass das Nachdenken über Gottes Wort den Glauben entfacht.
Ein Einsiedler sagte einmal, es gäbe kein schwierigeres Werk, als ein Gebet zu Gott zu sprechen. Aber man sollte nicht denken, dass es ein leichtes oder gewöhnliches Werk sei. Denn da Christus sagt (Joh 4,23), dass die wahren Anbeter den Vater im Geist und in der Wahrheit anbeten, lässt sich die Schwierigkeit gut verstehen. Es soll also ein Gebet im Geist sein – nicht heuchlerisch, sondern mit frommem Herzensdrang – und in der Wahrheit, das heißt mit wahrer Gotteserkenntnis, gerichtet an den wahren Gott und an den Mittler. Es müssen also echte Gedanken über Gott und Herzensregungen zusammentreffen. Deshalb hat Gott sich durch das Wort, durch den gesandten Sohn offenbart, damit man ihn im Fleisch sehen konnte. Auf diesen Sohn sollen wir im Gebet blicken und an den Vater erinnert werden. Verachte nicht das sichtbare Leben des Sohnes Gottes unter uns und glaube nicht, es sei vergeblich gewesen. Gott hat unserer Schwäche Rechnung getragen – so wollte er erkannt werden. Wir sollen auf diesen offenbarten Sohn schauen, und wie sein Leben sichtbar war, so will er, dass unsere Gebete und Anrufungen sich an jenen Gott richten, der diesen Sohn gesandt hat – den viele mit eigenen Augen sahen, der am Kreuz hing, der vom Tod auferstanden ist.
Weil es aber schwer ist, beim Rezitieren aufmerksam zu sein, meiden die Faulen das Rezitieren. Doch die Kirche hat es immer gefordert – sowohl öffentlich als auch privat. Deshalb wurden die Psalmen mit höchster Weisheit überliefert. Auch Christus selbst hat eine Gebetsform gegeben und gesagt (Lk 11,2): „Wenn ihr betet, sprecht.“ Er schreibt also Worte und eine feste Gebetsform vor – wie schon Johannes es zuvor getan hatte. Halten wir also fest und sprechen wir diese von göttlicher Weisheit überlieferte Form:
Vater unser, der du bist im Himmel …
„Das heißt: Du, der Du überall gegenwärtig bist, überall hinblickst und erhörst – allmächtiger Schöpfer der Dinge. Doch nach dieser Anrufung lenke deinen Sinn besonders auf die Bezeichnung ‚Vater‘. Wen nennst du Gott Vater? Und warum nennst du ihn so? Welcher Zugang wurde dir zu ihm eröffnet?“
Hier sollen die Worte Christi aus Johannes 14 in Erinnerung gerufen werden: „Niemand kommt zum Vater außer durch mich.“ Und im selben Kapitel: „Wer mich sieht, sieht den Vater.“ Und Johannes 16 (wohl gemeint, statt 18): „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Was auch immer ihr den Vater in meinem Namen bitten werdet, wird er euch geben.“
Diesen Gott also nennst du Vater, der sich selbst durch die Sendung seines Sohnes Christus offenbart hat – durch seine Auferstehung und durch das gegebene Evangelium.
Und du nennst ihn darum „unseren Vater“, weil er durch den Sohn versöhnt ist, und durch diesen Priester (Christus) unsere Gebete entgegennimmt. Damit ich mich selbst daran erinnere, füge ich diese Worte hinzu:
„Allmächtiger, ewiger und lebendiger Gott, ewiger Vater unseres Herrn Jesus Christus, der du dich selbst durch unermessliche Güte offenbart hast und durch deinen Sohn, unseren Herrn Jesus Christus, gerufen hast: Diesen hört! – Schöpfer aller Dinge, Erhalter und Helfer – der du mit deinem ewigen Sohn, unserem Herrn Jesus Christus, regierst, offenbart in Jerusalem, und durch deinen Heiligen Geist, ausgegossen über die Apostel, weise, gütig, ein Richter der Barmherzigen und der Reuevollen – unser Vater, der du bist im Himmel.“
So unterscheidet sich das christliche Gebet vom heidnischen, türkischen (muslimischen) und jüdischen – und mahnt mich an die göttlichen Verheißungen.
Geheiligt werde dein Name.
Das heißt: Bewirke, dass du wahrhaft erkannt wirst, dass wahre Lehren verbreitet werden, durch die deine Herrlichkeit wirklich offenbar wird, dass Menschen dich recht anrufen und verehren. Denn der Name bedeutet die Erkenntnis, das Wissen, die Feier des Namens Gottes und die Anrufung.
Das also, was hier anfangs erbeten wird, ist das höchste und erste Gut, auf das sich das erste und zweite Gebot beziehen: Dass Gott recht erkannt werde, dass die wahre Lehre von Gott – nämlich die Stimme des Evangeliums – weit und breit verbreitet und richtig aufgenommen werde, und dass viele Menschen Gott mit wahrer Anrufung und Gehorsam ehren.
Dein Reich komme.
Dies spricht besonders vom Wirken der ersten Bitte: Lass die Stimme des Evangeliums verbreitet werden, regiere auch uns durch deinen Heiligen Geist, bewirke, dass wir deinem Wort glauben, beginne in uns dein Reich, damit wir Erben deines Reiches werden und das Reich des Teufels zerstört werde, das im Menschengeschlecht grässlich wütet und die Menschen zu epikureischer Gottverachtung oder Götzendienst, Mord, Ausschweifung, Lügen und anderen Wahnsinnstaten verführt.
Gegen all dieses Übel beschütze uns, ewiger Vater unseres Herrn Jesus Christus, und regiere uns durch deinen Heiligen Geist, wie du gesagt hast: „Ich werde meinen Geist ausgießen.“
Dein Wille geschehe.
Das heißt: Gib, dass alle dir auf Erden gehorchen; gib, dass die Hirten der Kirche, Könige, Amtsträger, Lehrer, Schüler, Bürger – jeder an seinem Platz – seine Aufgabe richtig und erfolgreich erfüllt, und dass alle dir gehorchen, wie die Engel im Himmel dir gehorchen und dir gefallen.
Es ist dein Werk, zu bewirken, dass wir Elenden, Toren und Schwachen gute und heilsame Werke tun, Werkzeuge nicht des Zorns, sondern der Barmherzigkeit sind, der Kirche nützlich sind und keine verderblichen Pestbringer.
Die Herrschaft Ezechias ist erfolgreich mit deiner Hilfe; die Herrschaft Zedekias ist unglücklich, weil er dich als Helfer zurückweist. Wir weisen dich nicht zurück, sondern bitten mit aufrichtigem Herzen und wahren Tränen, dass du unsere Kirchen, Lehrer, Schulen, Fürsten, Regenten, das Volk regierst, damit etwas geschieht, das dir gefällt, wie Paulus sagt: „Gott, der bewirkt, dass ihr wollt, wird auch bewirken, dass ihr vollbringt – damit etwas geschieht, das ihm gefällt.“
Denn der Teufel und gottlose Menschen streben mit großer Wut danach, Gott Missfallen zu tun, bestärken epikureische Irrtümer, Götzenbilder, Ausschweifungen, entfachen ungerechte Kriege, richten schlimmste Verwüstungen an. Doch damit das ganze Menschengeschlecht nicht vergeblich geschaffen wurde, und nicht alle Gott Missfallen, hat Gott die Kirche berufen und zieht durch seinen Heiligen Geist, damit sie Gott wohlgefällige Werke tut, die wahre Lehre über Gott erkennt, hört, Gott recht anruft, ihm dankt, ihm gehorcht, viele aus dem Machtbereich des Teufels herauszieht, andere mit frommen und heilsamen Ratschlägen leitet, den Frieden und ehrbare Ordnung bewahrt.
Bisher also umfassen diese Bitten die höchsten Güter und solche, die mehr den Geist als den Körper betreffen – sowohl allgemeine als auch persönliche – und die Ordnung ist weise festgelegt: Erst wird um die rechte Erkenntnis Gottes gebeten, dann um die Wirkung dieser Erkenntnis – dass wir vom Heiligen Geist regiert werden –, drittens, dass jeder in seinem Beruf oder Amt seine Aufgabe ordentlich und erfolgreich erfüllt. Nun folgt die Bitte um leibliche Dinge:
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Das heißt: Nahrung, Frieden, Schutz, gute Gesundheit, damit wir die Mühen unseres Berufs ertragen können, Erfolg im Handeln entsprechend unserer Berufung, Erziehung der Kinder, maßvolle Ruhe, Obdach, gerechte Ordnung, Erhaltung von Disziplin, Recht, Gerichtswesen – bewahrt vor Aufständen, Auflösung der Ordnung oder Kriegen.
Und vergib uns unsere Schuld.
So oft ist bereits gesagt worden, dass in jedem Gebet zuerst die Vergebung der Sünden erbeten werden muss und dass der Glaube an die Versöhnung mit Gott stets den übrigen Bitten vorangehen soll. Wir sollen am Anfang immer den Mittler Christus betrachten und darum bitten und glauben, dass wir um seinetwillen angenommen und erhört werden. Wir sollen wissen, dass dieser Priester für uns eintritt und mit diesem Vertrauen zu Gott kommen, wie oft gesagt wurde: „Gerechtfertigt durch den Glauben haben wir Frieden und Zugang zu Gott.“ (Röm 5,1) Und: „Da wir einen Hohenpriester Jesus haben, lasst uns mit Zuversicht zum Thron der Gnade treten.“ (Hebr 4,14.16)
Da also in jedem Gebet unsere Unwürdigkeit uns entgegensteht und uns abschreckt, zu Gott zu kommen, sodass ängstliche Herzen Gott meiden, gebietet Christus hier gleichzeitig, dass wir um Versöhnung bitten – und er würde nicht gebieten, zu bitten, wenn er sie nicht wirklich geben wollte.
Darum soll der aufmerksame Geist hier sorgfältig über die Vergebung der Sünden und über Christus als Mittler nachdenken. Es ist dies ein herrliches Bekenntnis der Kirche in diesen Worten, mit denen sie ihre Sündenlast und ihre vielfache Schwäche anerkennt. Aber zugleich wird hier Trost geboten: Denn da Christus selbst gebietet, um Vergebung zu bitten, wird er sie zweifellos gewähren.
Und beim Aufsagen dieser Worte soll man sich auch der ausdrücklichen Verheißungen erinnern, z. B. 1 Joh 1: „Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, betrügen wir uns selbst. Wenn wir unsere Sünden bekennen, ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt.“
Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.
Dies erinnert uns an die Buße, dass wir nicht in Sünden gegen das Gewissen verharren. Denn wenn der Geist in der Verachtung Gottes verharrt, wird er nicht erhört – gemäß dem Wort: „Gott erhört die Sünder nicht“, das heißt: die, die in Gewissenssünden verharren. Und 1 Joh 3,21: „Wenn unser Herz uns nicht verurteilt, haben wir Zuversicht zu Gott und erhalten, was wir bitten.“ Das heißt, wenn wir nicht in Sünden gegen das Gewissen verharren.
Darauf zielt auch Mt 5,23: „Wenn du deine Gabe zum Altar bringst und dich erinnerst, dass dein Bruder etwas gegen dich hat …“
Und überall in den Propheten wird diese Lehre eingeschärft: Dass Gebete und Zeremonien Gott nichts gelten, wenn man in Sünden gegen das Gewissen verharrt – siehe Jesaja 1 und 58.
Lass uns also bedenken, wie überaus elend es ist, nicht zu Gott fliehen zu können, keinen Beschützer, keinen Lenker, keinen Helfer in Gott zu haben – von Teufel oder menschlichen Irrtümern überwältigt unterzugehen.
In all diesem Elend und in all diesen Gefahren befinden sich alle Menschen, die in Sünden gegen ihr Gewissen verharren – sie können Gott nicht anrufen.
Darum wecken wir uns zur Buße und bessern unser Leben.
Und das sollen wir wissen: Wer wirklich Buße tut, dem wird die Schuld um Christi willen aus reiner Gnade vergeben – wie oft oben gesagt wurde.
Und führe uns nicht in Versuchung.
Das heißt: Lass nicht zu, dass wir vom Teufel zur Gottlosigkeit und zu anderen Verbrechen verleitet werden. Schütze uns vor den Listigkeiten des Teufels. Leite uns mit deinem Licht und deinen Ratschlägen. Lass nicht zu, dass wir durch unsere Irrtümer oder durch die Schwäche unseres Fleisches zu Fall kommen.
David war ein Mann von großer Weisheit und Tugend – und doch sehen wir, dass er mehrfach zum Sündigen gebracht wurde, sei es durch den Teufel oder durch menschliche Verblendung, wie etwa, als er die Volkszählung anordnete. Weil also die Schwachheit aller Menschen groß ist, bitten wir dich, ewiger Gott, Vater unseres Herrn Jesus Christus: Lenke uns und zeige uns heilsame Ratschläge – im privaten wie im öffentlichen Leben. Stärke unsere Herzen durch deinen Heiligen Geist, damit sie dir gehorsam sind, damit wir Werkzeuge der Barmherzigkeit sind – und nicht Werkzeuge des Zorns – und nützlich für die Kirche.
Erlöse uns von dem Bösen.
Dies ist ein allgemeines Gebet, in dem um Erlösung von allem Leid und allen Mühen dieses Lebens gebeten wird – von Sünden, von der Tyrannei des Teufels, von Ärgernissen, von öffentlichen wie privaten Katastrophen. Es ist das Gebet, dass wir mit der ganzen Kirche aus dem gegenwärtigen Elend gerettet werden und beschenkt werden mit Licht, Gerechtigkeit und ewigem Leben. Dass wir schließlich die süße Gemeinschaft mit dem ewigen Gott und unserem Herrn Jesus Christus genießen. Amen.
Du siehst also: Christus hat in dieser Gebetsform in bester Ordnung zusammengefasst, worum gebeten werden soll. Er sagt ausdrücklich: „So sollt ihr beten“, und nennt darin ewige, geistliche, körperliche, gegenwärtige und zukünftige Güter. Er will, dass du über das ganze Leben nachdenkst – ja, über die ganze Ewigkeit, über gegenwärtige und zukünftige Gefahren. Solches Nachdenken soll unsere Seelen zur Anrufung Gottes antreiben.
Was ich am Anfang betont habe: Man soll sorgfältig bedenken, wen man da anruft, wo sich dieser Gott offenbart hat, und warum er uns erhört. Das soll man sorgsam erwägen, damit unser Herz beim Gebet nicht umherschweift, wie das bei den Heiden geschieht. Deshalb hat der ewige Sohn Gottes die menschliche Natur angenommen und unter uns gewohnt, damit die Betenden wissen: Dieser ist wahrhaft Gott. Er hat sich selbst offenbart durch seinen Sohn, und der ewige Vater hat durch diesen Sohn bezeugt, dass er ihn gesandt hat. Deshalb habe ich oben die Gebetsform aufgezählt:
Allmächtiger, ewiger und lebendiger Gott, ewiger Vater unseres Herrn Jesus Christus, der du dich durch unendliche Güte offenbart und von deinem Sohn, unserem Herrn Jesus Christus, gerufen hast: „Den sollt ihr hören!“ Du, Schöpfer und Erhalter aller Dinge, du Helfer mit deinem Sohn, unserem Herrn Jesus Christus, der mit dir herrscht, der sich in Jerusalem offenbart hat, und mit deinem Heiligen Geist, der über die Apostel ausgegossen wurde – du bist weise, gut, barmherzig, Richter und mächtig. Du hast gesagt: „So wahr ich lebe, ich will nicht den Tod des Sünders, sondern dass er umkehrt und lebt.“ Und du hast auch gesagt: „Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten.“ Erbarme dich meiner um Jesu Christi willen, deines Sohnes, den du als Opfer für uns einsetzen wolltest – proptiatorem et hostiam –, und heilige und leite mich durch deinen Heiligen Geist. Regiere und schütze deine Kirche und die Staaten, die Herbergen der Kirche sind.
Auch diese Form der Anrede Christi, des Sohnes Gottes, ist fromm:
Ich rufe dich an, Jesus Christus, Sohn des lebendigen Gottes, der du für uns gekreuzigt und auferstanden bist, der du gesagt hast: „Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid – ich will euch erquicken.“ Erbarme dich meiner und tritt für mich beim ewigen Vater ein. Heilige und leite mich durch deinen Heiligen Geist. Schütze mich vor den Teufeln, den lügenhaften und mörderischen Geistern, deinen Feinden.
Diese Anrede Christi ist ein Bekenntnis zu seiner Allmacht; denn wer so betet, erkennt, dass Christus die innersten Bewegungen aller Menschenherzen sieht und dass er der allmächtige Helfer ist, der den Heiligen Geist schenkt und uns in den Gefahren von Leib und Seele beisteht.
Diese Gebetsform umfasst die drei Personen: Der Sohn wird angerufen als Fürsprecher beim ewigen Vater, und es wird bekannt, dass durch ihn der Heilige Geist gegeben wird.
So eine ausdrückliche Anrede Christi findet sich mehrfach in den prophetischen und apostolischen Schriften. Apostelgeschichte 7, Vers 59: „Herr Jesus, nimm meinen Geist auf.“ 1. Thessalonicher 3, Vers 11: „Er selbst aber, Gott unser Vater und unser Herr Jesus Christus, lenke unseren Weg zu euch.“ Und es besteht kein Zweifel, dass auch in Genesis Kapitel 48, Vers 16, Jakob von Christus spricht, wenn er sagt: „Der Engel, der mich erlöst hat von allem Übel, segne die Knaben.“ Und Psalm 72, Vers 15: „Und sie werden ihn allezeit anbeten.“
Diese Gebetsform ist ein deutliches Zeugnis dafür, dass Christus von Natur Gott und allmächtig ist. Zu diesen Anreden soll man aber nicht die Anrufung verstorbener Menschen hinzufügen. Denn das verfinstert und verdirbt das wahre Gebet. Vielmehr soll die Regel gelten: „Den Herrn, deinen Gott, sollst du anbeten und ihm allein dienen.“ Es ist kein geringes Verbrechen, die Anrufung Verstorbener einzuführen, da es keinerlei göttliche Zeugnisse dafür gibt, und weil es den Mittler Christus verdunkelt. Zudem schreibt es Unsichtbaren eine Kraft zu – nämlich die Gedanken des Herzens zu erkennen –, die allein Gott zusteht. So heißt es in 1. Chronik 28, Vers 9: „Der Herr erforscht alle Herzen und versteht alle Gedanken.“ Und in Jeremia 17, Vers 10: „Ich, der Herr, erforsche das Herz.“ Diese Ehre Gottes darf nicht auf Propheten, Apostel oder Maria übertragen werden. In Jesaja 63, Vers 16 steht klar: „Abraham weiß nichts von uns.“
Statt also Maria, die Propheten oder die Apostel anzurufen, kann man fromm, nützlich und edel von ihnen sprechen und Gott danken, dass er sich durch sie offenbart hat. Man kann dankbar für die Lehre sein, die sie verkündet haben, und die Art ihrer Verkündigung bedenken. Man kann Gott danken für die Wunder, die er durch sie gewirkt hat – durch Mose, Elia, Elisa. Dass er durch solche Menschen die Kirche immer wieder erneuert hat. Dass er Beispiele der Barmherzigkeit vor Augen stellte, wie David, Magdalena u.a. Dass er uns Beispiele zeigte, wie unsere Gebete erhört werden können – wie Hagar für ihren Sohn Wasser erhielt, Jakob, David, Hiskia Hilfe erfuhren.
Durch solche Vorbilder sollen wir zur Anrufung Gottes angeregt werden, indem wir ihre Buße und ihren Glauben nachahmen. Schließlich sollen wir sie auch loben, weil sie Gottes Ruf gehorcht haben und sich bemühten, seine Gaben treu zu bewahren.
Ein langes, aber frommes Gebet kann also über diese Leuchten der Kirche – über Propheten, Apostel und viele andere gottesfürchtige Menschen – gesprochen werden, wenn ihre Geschichte weise erzählt und uns zur Lehre und Nachahmung dargeboten wird.
Ich habe dies kurz hinzugefügt, damit fromme Leser wissen, dass die Anrufung verstorbener Menschen zu verwerfen und zu meiden ist. Sie stammt aus dem Heidentum, wo man viele Götter und auch Verstorbene mit besonderer Tapferkeit oder Berühmtheit – sogenannte „Helden“ wie Herkules, Quirinus und andere – anrief. Es ist kein Zweifel, dass dieser Wahnsinn vom Teufel kommt, der das Wissen um den wahren Gott zerstören will.
Lasst uns also die Beispiele der heidnischen Wilden meiden und richtig lernen, was über diese höchste Tugend – nämlich die Anrufung Gottes – in den Zeugnissen der Heiligen Schrift gelehrt ist. Damit wir aufrichtig und fromm den wahren, ewigen Gott, den Vater unseres Herrn Jesus Christus, und seinen Sohn, unseren Herrn Jesus Christus, der für uns gekreuzigt und auferstanden ist, und den Heiligen Geist, der auf die Apostel ausgegossen wurde, anrufen und mit echter Dankbarkeit feiern.
Nachdem also über das Gebet um Wohltaten und Hilfe gesprochen wurde, wollen wir uns auch an den Dank erinnern, wie Paulus es in 1. Thessalonicher im letzten Kapitel verbindet: „Dankt in allem!“ Aber hier müssen wir alle Menschen zur Einsicht bringen: Wir sind undankbar gegenüber Gott. Je besser es uns geht, desto nachlässiger denken wir an Gott. Viele vergessen ihn in guten Zeiten vollständig und lassen ihren Begierden freien Lauf – wie Beispiele großer Männer zeigen und wie die Erfahrung selbst solche Sprüche hervorgebracht hat:
„In guten Zeiten wird der Sinn leicht überheblich.
Es ist nicht leicht, Glück mit Gleichmut zu ertragen.“
– (Ovid, „Ars Amatoria“)
Als Sodom durch Abrahams Fürbitte vor den Chaldäern gerettet wurde, wie in Genesis berichtet, gaben sich die Städte nach dieser großartigen Befreiung bald wieder so sehr dem Luxus hin, dass sie wegen ihrer Schändlichkeit nach wenigen Jahren durch ein besonderes Strafgericht Gottes vernichtet wurden.
Die Undankbarkeit aller Menschen ist groß und schändlich. Wir empfangen von Gott das Leben, unsere Fähigkeiten, die Erziehung, Nahrung, Bildung, das Evangelium, die Kirche, die staatliche Ordnung; wir werden oft verteidigt und unterstützt, selbst dann, wenn wir nicht einmal um Hilfe bitten. Dennoch leben wir sorglos, spielen, suchen Vergnügen, behaupten, das Gute käme zufällig zu uns – und erkennen nicht an, dass Gott der Urheber all dessen ist. Wir bemühen uns nicht, seine Güte zu bewahren, sondern reizen durch unser freches Verhalten seinen Zorn.
Diese Übel sollen wir beklagen und uns bessern. Wenn wir Gottes Wohltaten erkannt haben, wollen wir bekennen, dass wir sie von Gott empfangen haben. Wir sollen Gott, unseren Hüter und Helfer, nicht verächtlich beiseiteschieben, sondern uns bemühen, ihm zu gefallen und unseren Dank durch wahre Werke im Leben und im Wort zum Ausdruck bringen.
Gott verlangt nämlich dieses Bekenntnis, damit er gepriesen werde. Zuerst sollen wir uns selbst daran erinnern, dass uns das Gute nicht zufällig zuteilwird, sondern dass wir Gott wirklich am Herzen liegen, dass unsere Gebete erhört werden und dass er uns hilft. Dann soll dieses unser Bekenntnis ein Zeugnis für andere Menschen sein, damit sie an die göttliche Vorsehung glauben und sich stärken lassen, dass Gott sich um menschliche Angelegenheiten kümmert und die Gebete der Kirche erhört.
Darum bringt David so oft in den Psalmen als Gegenleistung für empfangene Wohltaten dieses Werk dar: die Feier des Wohltuns, wie in Psalm 118,17: „Ich werde nicht sterben, sondern leben und die Werke des Herrn verkünden.“ Ich werde deine Wohltaten preisen und ein Zeuge der wahren Lehre sein.
Gott verlangt wirklich Dankbarkeit und macht sie groß. Darum sollen wir uns täglich daran gewöhnen, die empfangenen Wohltaten auch ausdrücklich im Wort zu nennen, auch wenn die Dankbarkeit schon den Gehorsam umfasst. Viele stehen morgens auf, gehen abends schlafen, setzen sich an den Tisch, stehen wieder auf – und denken dabei, wie das Vieh, nicht einmal an Gott, von dem all ihre täglichen Güter kommen.
Diese sehr schändliche Nachlässigkeit ist zu tadeln und zu bessern. Bevor du täglich um neue Güter bittest, bedenke die bereits empfangenen Wohltaten und danke Gott. Dann bringe deine Bitten vor, und gib öffentlich – sei es in Worten oder durch Beispiele – Zeugnis deines Dankes.
Du kannst folgende Form verwenden:
Ich danke dir, allmächtiger, ewiger und lebendiger Gott, ewiger Vater unseres Herrn Jesus Christus, Schöpfer aller Dinge, Erhalter und Helfer gemeinsam mit deinem ewigen Sohn, unserem Herrn Jesus Christus, der sich in Jerusalem offenbarte, und mit deinem Heiligen Geist, den du über die Apostel ausgegossen hast:
Dass du dich in unermesslicher Güte durch sichere und leuchtende Zeugnisse uns offenbart hast, dass du dir eine ewige Kirche gegründet und erwählt hast, dass du wolltest, dass dein Sohn, unser Herr Jesus Christus, für uns ein Opfer werde,
dass du uns dein Evangelium und den Heiligen Geist gegeben hast, uns die Sünden vergibst, uns von der Macht des Teufels und dem ewigen Tod befreist und uns das ewige Leben schenkst.
Dass du mich bisher in diesem Leben mit vielen großen Wohltaten überschüttet hast – du hast mir Leben, Nahrung, Lehre, Frieden in den Orten gegeben, wo ich lebte, und hast die Strafen gemildert, die ich verdient habe.
Ich danke dir auch, Herr Jesus Christus, Sohn des lebendigen Gottes, für uns gekreuzigt und auferstanden, Immanuel, dass du dir die menschliche Natur verbunden hast, für uns gelitten und auferstanden bist, uns erlöst hast, die Kirche erhältst und gegen die Teufel, deine Feinde, verteidigst.
Du gibst und bewahrst oft den Frieden des Evangeliums, vergibst die Sünden und schenkst uns das ewige Leben. Du bist der Mittler und ständige Fürsprecher für uns und willst uns helfen, wie du gesagt hast:
„Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.“
Ich danke dir auch, Heiliger Geist, Lebensspender, der du in die Apostel kamst, dass du dein Licht in unserem Verstand entzündest, führst, lehrst, mahnst und mir in meinen Entscheidungen hilfst, meine Berufung und Arbeit leitest und mich zur ewigen Seligkeit heiligst.
Nach dem Dank folgt die Bitte, wie ich sie oben dargelegt habe. Auch sollen zu jeder Zeit namentlich für neue empfangene Wohltaten Dank gesagt werden. Diese Darlegung soll ein Bekenntnis der empfangenen Wohltat sein, das Gott gewiss fordert – und Wort und Herz sollen übereinstimmen.
Wir sollen wirklich empfinden, dass nicht zufällig Gefahr abgewendet wurde, sondern dass wir von Gott unterstützt und gerettet wurden, dass unsere Gebete erhört wurden, und Gott soll dafür gerühmt werden. Denn sein Name ist nicht leer, er vernachlässigt die Menschen nicht, sondern hört wirklich auf die, die ihn in der Kirche anrufen. Es besteht wirklich ein Unterschied zwischen der Kirche und den Heiden, die Christus verfluchen.
Gott sieht wirklich seine Kirche an, hilft ihr und hält seine Verheißung. Das sollen wir auch uns selbst einprägen und anderen weitersagen: wo wir Hilfe und Rettung erfahren haben, damit auch andere zur Erkenntnis Gottes geführt werden.
Dankbarkeit ist an sich schon ein Gott wohlgefälliges Opfer, aber sie wird auch um des Vorbilds willen gefordert. Deshalb ermahnt Paulus so freundlich, für ihn zu beten, damit viele später für das empfangene Gute danken, wie er in 2. Korinther 1 schreibt. Er macht deutlich, dass der Dank das höchste Opfer und Gott am wohlgefälligsten ist – und dass er von vielen dargebracht werden soll, weil Gott von vielen erkannt und gepriesen werden will. Wenn viele ein empfangenes Gut rühmen, wird es zu einem Beispiel, das viele andere zur Anrufung, zur Furcht und zum Glauben führt.
Die Undankbarkeit ist ein schrecklicher Zug der menschlichen Natur, wie die ständigen Klagen aller Zeiten bezeugen. Die Vernachlässigung dieser Pflicht ist durch göttliches und menschliches Urteil verurteilt – und doch ist es noch üblicher, Menschen zu danken als Gott.
Und die Undankbarkeit gegenüber Gott ist grausamer als die gegenüber Menschen. Selbst wenn jemand David undankbar ist, kann er doch nicht leugnen, dass David Gutes getan hat. Aber die Undankbaren gegenüber Gott leugnen, dass Gott der Urheber der Wohltaten ist; sie tun so, als seien Gefahren zufällig abgewendet worden.
Gegen diese Finsternis und diesen Wahnsinn sollen wir unsere Herzen mit göttlichen Zeugnissen stärken und lernen, dass wir wirklich von Gott angesehen, erhört und unterstützt werden. Wenn uns Hilfe zuteilwird, sollen wir sie erkennen, bekennen und uns selbst und anderen verkünden, dass Gott der Urheber der Wohltaten ist.
Wie ich oben einige Stellen zitiert habe, z.B.:
- Psalm 44,7: „Ich werde nicht auf meinen Bogen vertrauen, und mein Schwert wird mich nicht retten.“
- Johannes 15,5: „Ohne mich könnt ihr nichts tun.“
- Psalm 34,7: „Dieser Elende rief, und der Herr erhörte ihn.“
- Psalm 27,10: „Mein Vater und meine Mutter haben mich verlassen, aber der Herr nimmt mich auf.“
- Psalm 108,13: „Gib uns Hilfe in der Not, denn Menschenhilfe ist nichts nütze. Mit Gott werden wir Taten tun.“
- Psalm 127,1: „Wenn der Herr das Haus nicht baut …“
- Psalm 116,16ff.: „Du hast meine Fesseln zerrissen, dir will ich ein Opfer des Lobes bringen.“
- Jeremia 17,5.7: „Verflucht ist der Mensch, der auf Menschen vertraut … Gesegnet ist der Mann, der auf den Herrn vertraut.“
Es ist eine große Mühe für fromme Herzen, selbst nach empfangenen Wohltaten an dem Gedanken festzuhalten, dass wir wirklich von Gott geholfen und gerettet wurden. Aber wir sollen uns durch die oben genannten und jetzt wiederholten Zeugnisse darin stärken, dass uns nicht zufällig geholfen wurde, sondern durch Gott als unseren Helfer.
Lasst uns Gottes Wohltaten verkündigen, für uns und andere. Ich habe dies über das wichtigste Opfer – die Danksagung – kurz gesagt, um den frommen Leser daran zu erinnern. Ich bitte ihn, dass er darüber nachdenkt und entsprechende Aussagen aus den prophetischen und apostolischen Schriften sammelt, damit er seinen Geist zu wahrem Glauben, wahrer Anrufung und wahrer Dankbarkeit erhebt.
Denn es ist schwer, in unserer großen Schwachheit eine wahre Überzeugung von der Gegenwart Gottes zu bewahren, selbst wenn wir klare Zeugnisse sehen. Wie die Israeliten in der Wüste: obwohl sie viele Beweise für Gottes Gegenwart sahen, zweifelten sie doch oft daran, wer sie aus Ägypten geführt habe. Auch die Apostel hatten die Wunder Christi gesehen, die Auferweckung von Toten – und doch war ihr Glaube schwach.
Darum, wenn durch Gottes Wohltaten uns Gefahren abgewendet werden, wie so oft, sollen wir stets die Aussagen vor Augen haben, die uns stärken, damit wir erkennen, dass uns von Gott geholfen wurde. Und wir sollen diese Überzeugung nicht aus unseren Herzen verdrängen lassen. Dieses Ringen ist schwierig, wie die Erfahrung und die Beispiele der Israeliten zeigen. Deshalb sollten wir umso fleißiger über die Zeugnisse nachdenken, die uns in den prophetischen und apostolischen Schriften überliefert wurden, damit unser Glaube und die Erkenntnis der Gegenwart Gottes in uns gestärkt und gefestigt werde.
Beispielhaft sei das Bekenntnis Jakobs aus 1. Mose 48,15 genannt: dass Gott seiner Väter – Abrahams und Isaaks – ihn von seiner Jugend an ernährt und verteidigt habe. Und er fügt die Erwähnung des Engels hinzu – das heißt des Sohnes Gottes –, durch den er aus allem Übel errettet wurde.
Auch Davids Danksagung sei uns ein Beispiel (2. Samuel 22,18): „Er errettete mich von meinen Feinden, die mich hassten.“
Wir wollen anerkennen, dass durch menschliche Ratschlüsse und Hilfsmittel nicht alle Gefahren abgewendet werden können, wie es Jeremia klar sagt im Kapitel 10, Vers 23: ‚Ich weiß, Herr, dass des Menschen Weg nicht in seiner Macht steht.‘ Wie viele unlösbare Schwierigkeiten begegneten Mose, Samuel, David, Hiskia und letztlich allen Regierenden, die mit bloß menschlichem Rat nicht zu lösen waren! Deshalb wollen auch wir – wie jene – bitten, dass Gott uns leite und helfe. Und wenn die Ausgänge friedlich sind, dann wollen wir bekennen, was wahr ist: dass wir von Gott geholfen und verteidigt wurden.
Auch unser Zeitalter hat Beispiele davon gesehen, die es zu verkünden gilt, damit Gottes Wohltaten gerühmt werden. Gott hat unserer Kirche über so viele Jahre Frieden geschenkt. Und er hat nicht nur Frieden gegeben, sondern auch die Angriffe der Feinde größtenteils vereitelt. Auch viele schlimm entstandene Skandale hat er unterdrückt und in großem Maße das Streben und die Urteile derer, die in den Kirchen vorstehen, so gelenkt, dass die Lehre in unseren Kirchen allgemein rein überliefert wird.
Für diese gewaltigen Wohltaten danke ich dem ewigen Gott, dem Vater unseres Herrn Jesus Christus, und ich bete aus ganzem Herzen durch seinen Sohn, unseren Herrn Jesus Christus, der für uns gekreuzigt und auferstanden ist, dass er uns auch weiterhin und ewig durch seinen Heiligen Geist leite: Amen.
Philipp Melanchthon, Loci Praecipui Theologici (1543), Loc. XIX.