Karl Barth, Rudolf Bultmann. Ein Versuch, ihn zu verstehen (1952): „Kann ich irgendeinen anderen, irgendeinen (z. B. einen mythischen!) Text echt und recht verstehen, wenn ich mich von ihm nicht in der größtmöglichen Offenheit gefragt finde? Ich will den Mund nicht zu voll nehmen und also nicht von unbedingter, vorbehaltloser Offenheit reden, weil es dergleichen weder in unserem Verhältnis zum Worte Got­tes noch zu einem Menschenwort so bald geben dürfte. Aber geht es, wenn es ums Verstehen gehen soll, jemals und irgendwo ohne prinzipielle und also ohne die größte jeweils mögliche Offenheit? Ver­stehe ich irgendeinen anderen, wenn ich nicht bereit bin, mir von ihm auch etwas ganz Neues sagen zu lassen: etwas, was ich mir zuvor durchaus nicht selbst sagen zu ‚können‘ meinte, etwas wogegen ich zuvor ein Vorurteil oder viele und vielleicht sehr wohl begründete Vorurteile hatte?“

Rudolf Bultmann. Ein Versuch, ihn zu verstehen (1952)

Von Karl Barth

Der Name Rudolf Bultmann und der Begriff „Verstehen“ werden für Alle, die die theologische Bewegung der letzten Jahr­zehnte wachen Sinnes mitgemacht haben — und sie werden wohl auch für alle künftig zu schreibende Theologiegeschichte unserer Tage — unzertrennlich verbunden bleiben. Bultmann hat uns diesen Begriff oder vielmehr die durch ihn bezeichnete Frage mit einer Eindringlichkeit sondergleichen ins Gewissen geschrieben. Er hat sich aber auch über die von ihm gefundene Beantwortung die­ser Frage oft, mannigfaltig und folgerichtig genug ausgesprochen und hat es überdies auch an Vorlagen dessen, was „Verstehen“ ins­besondere des Neuen Testamentes nach seinem Sinn praktisch sein soll, nicht fehlen lassen. Für und wider und über ihn und seine Sache ist dann von Vielen von uns Vieles gesagt worden. Ich selbst habe mich ja gelegentlich auch schon an diesem Gespräch be­teiligt. Es hat mich aber immer wieder beunruhigt, wie sehr doch die Voraussetzung dieses Gesprächs da­durch bedroht ist, dass Bult­mann selbst ein so gar nicht leicht zu „verstehender“ Autor ist. Er so wenig — vielleicht noch weniger — als die Autoren des Neuen Testamentes! Die meint er es und wo will er eigentlich hinaus? Wie leicht kann es Einem bei ihm widerfahren, daß man sich ver­fehlt: hier indem man eine vorhandene Tiefendimension überstellt und dort, indem man eine wittert, wo keine ist, hier, indem man zu sicher, und dort, indem man zu unsicher zugreift, hier durch Unge­rechtigkeit und dort durch allzu grosse Gerechtigkeit, hier durch vermeintlich selbstverständliche Ergänzungen seiner Sätze und dort, indem man solche unterläßt! Nein, kein mir bekannter lebender theologischer Autor redet so viel vom Verstehen und keiner scheint so viel Anlaß zu haben, sich darüber beklagen zu müssen, selber mißverstanden zu werden. Mich befremdet bei nicht wenigen seiner Anhänger und Gegner die Sicherheit, mit der sie ihn offenbar verstanden zu haben und nun in einer bestimmten Auslegung be­jahen oder verneinen, oder auch — wie etwa die Verfasser des Tübinger Fakultätsgutachtens — überblicken zu können meinen, wo es mir vorkommt, dass man sich vor allen weiteren Streit- und Friedensworten über die Methode und die Ergebnisse seiner Ex­egese des Neuen Testamentes allererst über die Exegese verständigen sollte, die ihm, seinen eigenen Texten, zuzuwenden ist.

Was hier folgt, soll nur eben eine Rechenschaftsablage darüber sein, wie ich Bultmann bis jetzt verstehen zu können meinte, um dann von da aus, wie ich es praktisch wohl oder übel auch tun musste, zu ihm und seiner Sache vorläufig Stellung zu nehmen. Es soll hier also weder für noch gegen, noch eigentlich über ihn, sondern, wenn ich es so sagen darf, ihm entlang oder um ihn herum geredet werden, wobei ich betone: es gebt um meinen bis­herigen Versuch, ihn zu verstehen. Und ich muß sofort hinzu­fügen: um meinen bisher besten Falles in ersten Ansätzen gelun­genen, in der Hauptsache in Form von lauter Fragen und insofern unbefriedigend verlaufenen — um nicht zu sagen: gescheiterten — Versuch, das zu tun. Ich habe den Eindruck, dass Viele, die Mei­sten, in dieser Sache auch nicht mehr wissen als ich, sondern nur so tun, als ob sie es wussten. Aber wer es wirklich besser weiß, dem steht es ja frei, mir und Anderen, denen es ähnlich wie mir ergehen mag, dadurch weiter zu helfen, dass er seinen bessergelungenen Ver­such vorlegt. Nur die Behauptung, daß Bultmann ohne weiteres verständlich sei, könnte ich mir allerdings weder von fernen Freun­den noch von seinen Feinden gefallen lassen. Ist die Diskussion über ihn und sein Unternehmen in der letzten Zeit nicht merkwür­dig in Stocken gekommen, irgendwo festgefahren? Und ruft diese Tatsache nicht nach neuer Besinnung über den Ausgangspunkt?

I.

Darin hoffe ich mich zunächst nicht zu tauschen, wenn ich in der Mitte von Bultmanns Be­mühungen die Absicht sehe, das Neue Testament als Dokument einer Botschaft (Kerygma, Verkündi­gung, Predigt) zu verstehen. Als das und nur als das! Also nur, indem die üblichen trennenden Schranken zwischen Exegese, Dogmatik und Predigt grundsätzlich aufgehoben werden! Nur indem der Verstehende seine Botschaft als an sich selbst gerichtet ver­nimmt und nur indem er als Ausleger selbst zu deren Träger wird. Es wäre also das Neue Testament da weder verstanden noch aus­gelegt, wo man ihm irgendwelche allgemeine, theoretische Dar­legungen über Gott, Welt und Mensch, oder auch neutrale histo­rische Nachrichten über einst geschehene Geschichten, oder auch die Wiedergabe einst gemachter und heute wieder zu machender reli­giöser, mystischer, kontemplativer oder auch moralischer Erlebnisse und Erfahrungen entnehmen wollte. Alle Intentionen auf diesen Linien sind den neutestamentlichen Autoren nur beiläufig, aber ge­rade nicht eigentlich, nicht ursprünglich eigentümlich. Es würde, wer sie auf diesen Linien verstehen wollte, an dem, was sie mit ihren Aussagen wollten, meinten und tatsächlich gesagt haben, not­wendig, sofort, von Grund aus vorbei hören, vorbei denken und vorbei reden. Das Leben, in welchem ihre Aussagen ihren Sitz haben, ist das Leben der von ihnen ausgerichteten Botschaft als solcher. Und so kann ihr Verständnis nur in Teilnahme am Leben dieser ihrer Botschaft stattfinden. Immer ist ihr Verständnis selbst schon Glaube, ihre Auslegung selbst schon Predigt. — Ob ich Bultmann wenigstens bis dahin richtig verstanden habe?

Solche Teilnahme am Leben ihrer Botschaft ist nun aber — ich versuche es, ihm weiter zu folgen — dadurch gefordert und ermög­licht, dass — nicht ihre beiläufig zur Sprache gebrachten Theorien, Geschichtsdarstellungen und religiösen Erlebnisse, wohl aber die ihnen eigentümliche Botschaft als solche ein einmaliges und ein­zigartiges, ein schlechthin singulares Geschehen zum Inhalt hat, dessen Bedeutsamkeit sich weit über sie selbst und ihre Zeitgenossen hinaus auf die Menschen aller Zeiten erstreckt: daß, indem ihre Botschaft wieder und wieder ausgerichtet und gehört wird, alle Menschen aller Zeiten ihr gleichzeitig werden können und sollen. Inhalt und zugleich Grund und Kraft ihrer Botschaft ist nämlich Gottes einst (aber einst für jedes Jetzt) ergangenes Wort, ge­sprochen in seiner einst (aber einst für jedes Jetzt) geschehenen Tat. Dass sie einst für jedes Jetzt eines jeden Menschen geschehen, daß also Gottes Wort einst für jedes Jetzt eines jeden Menschen gesprochen ist, das sagt die Botschaft des Neuen Testamentes. Eben damit stellt sie ihre Hörer vor Gott und also in die Entschei­dung des Glaubens, d. h. in die Wahl zwischen Aergernis und Gehorsam. In dem ihrer Absicht entsprechenden Gehorsam des Glaubens kommt es zu jener Teilnahme an ihrem Leben, in welcher ihr Hörer aufgefordert und in Stand gesetzt wird, sie zu verstehen, indem er (als ihr sachgemäßer Hörer) sich selbst versteht. Das Verstehen des Neuen Testamentes wird — aller ihm zuzuwendenden historischen und philologischen Aufmerksamkeit unbeschadet — zu einem „existentiellen“ Akt: die einzige Form, in der echtes Verständnis dieser Texte Ereignis werden kann. — Habe ich auch das noch richtig aufgenommen?

Vielleicht schon nicht ganz richtig, weil es mir zwar einleuchtet, daß eine echte Interpretation des Neuen Testamentes nur in der Teilnahme am Leben seiner Botschaft und also im Gehorsam des Glaubens dieser Botschaft gegenüber und also in Form einer In­terpretation dieser Botschaft und meines, des Hörers oder Lesers Glaubens an sie möglich ist, — nicht aber die Folgerung, daß das Verstehen dieser meiner Teilnahme als Akt meines menschlichen Selbstverständnisses richtig beschrieben sei. Habe ich es in dieser Botschaft mit Gott, mit seiner Tat und seinem Wort, mit mir selbst aber als dessen Hörer, mir dem Gehorsam meines Glaubens zu tun, wie verwunderlich, ja wie unbegreiflich werde gerade ich selbst nur selbst da werden, wie wenig, wie nichts werde ich da von mir selbst zu berichten wissen? Kann ich gerade meinen Glauben anders verstehen und auslegen, als in dem ich von mir selbst weg und dorthin blicke, wohin ich durch die von mir geglaubte Bot­schaft zu blicken gerufen werde? Kann also das Verstehen des Neuen Testamentes anders als so ein „existentieller“ Akt sein, dass ich mich (zum Verzicht auf alles Verständnis und alle Auslegung meiner selbst genötigt!) in höchstem Widerspruch zu allem was ich von meiner Existenz als solcher zu wissen meine, zur Rechenschaft über das mir Begegnende (den mir Begegnenden!) gerufen mich selber aber faktisch in jenem Hinwegblicken und Hinblicken begrif­fen finde? Ob Bultmann es auch so meint? Das möchte ich wohl wissen, um mir doch gestehen zu müssen, dass ich eben das bei ihm bis setzt nicht in sichere Erfahrung bringen konnte.

Doch ich habe vielleicht zu früh zu fragen begonnen, höre also — zunächst immer noch mit Bultmanns allgemeiner Schau beschäf­tigt — weiter: Das Neue Testament dokumentiert die ihm eigen­tümliche Botschaft in bestimmter historischer Gestalt. Daß das Wort Fleisch wurde, gilt auch von ihr. Sie befindet sich, indem sie in den neutestamentlichen Texten an die Menschen aller Zeiten ergeht, in der Krippe der Sprache, der Begrifflichkeit, der Vor­stellungsweisen, der weltanschaulichen Voraussetzungen der beson­deren Zeit der Entstehung dieser Texte. Und diese Krippe bildet das Problem ihres Verständnisses und ihrer Auslegung. Sind doch ihre Sprache, Begrifflichkeit usf. — indem ihre Botschaft als eine und dieselbe wieder und wieder ergeht — nicht auch die aller anderen Zeiten. Bedarf doch die Botschaft dieser Texte, um auch in anderen Zeiten als ihnen gleichzeitig zu erklingen, freilich zuerst ihrer Erkenntnis in ihrer Einheit mit jener ihrer ersten historischen Gestalt, dann aber auch der Uebersetzung in andere solche Gestalten, d. h. in die Sprache, Begrifflichkeit usf. dieser an­deren Zeiten, je der besonderen Zeit dessen, der sie jetzt eben zu ver­stehen und auszulegen hat. Wie könnte sie sonst die gerade heute, gerade ihn und seine Zeitgenossen angehende Botschaft sein, gerade ihn und sie vor Gott und in die Entscheidung des Glaubens stel­len? wie könnte sie anders in echtem Glauben oder wenigstens in echtem Aergernis gehört werden als je mit den besonderen Ohren je der heutigen Zeit? War sie gestern und ist sie heute in ihrem Gehalt dieselbe, so kann sie doch in ihrer Gestalt heute nicht die­selbe sein wie gestern, will sie vielmehr im Blick auf ihre Gestalt je heute neu verstanden und ausgelegt sein. — Ob ich Bultmanns Anliegen damit richtig wiedergeben habe?

Ich sehe, wenn dies der Fall ist, keine Schwierigkeit, es mir zu eigen zu machen. Alle Theologie, Exegese, Dogmatik, Predigt aller Zeiten mußte zweifellos auch solche Uebersetzungsarbeit tun. Und das Anliegen ist wichtig: diese Arbeit mußte und muß recht getan werden, wenn ich nur wüßte, wie ich im Rahmen von Bultmanns Anliegen ein anderes, das mir nun doch noch wichtiger erscheint, unterbringen kann! Wer oder was ruft denn nun eigentlich im Neuen Testament zuerst und vor allem nach je neuem Verständ­nis und je neuer Auslegung? Wirklich zuerst und vor allem die „Krippe“ der Sprache, Begrifflichkeit usf., in der sich seine Bot­schaft befindet? Oder nicht doch zuerst und vor allem seine Bot­schaft selbst und als solche? Sollten wir mit ihrem Verständnis und ihrer Auslegung jemals so fertig und in Ordnung sein, daß uns die Frage: Wie sage ichs meinem Kinde? (mir selbst als heutigem Menschen und meinen Zeitgenossen?) zur größeren, zur größten, wohl gar zur einzigen Sorge werden könntet Steht das im Neuen Testament (in jener historischen Gestalt) Gesagte — das viel­mehr: der mir in ihm Begegnende! — nicht fast in jedem seiner Verse riesengroß, nach immer neuer Nachfrage nach ihm selbst rufend, vor uns und muß es bei der Aufgabe des Verstehens und Auslegens dieser Texte nicht zuerst und vor allem darum gehen, diesem Gesagten als solchem, d. h. dem uns in ihnen Begegnenden standzuhalten und immer wieder ein bischen gerechter zu werden, als man es zuvor gewesen war — um dann gewiß gerade im Zug dieser sachlichen Bemühung auch die nötige Uebersetzungsarbeit tun zu müssen und dem heutigen Menschen irgendwo zu begegnend Kann diese Uebersetzungsarbeit gut getan werden, wenn sie dem Leser und Ausleger nicht — im Verhältnis zu jener cura prior — cura posterior ist? Hier verstehe ich wohl Bultmann nicht richtig, dem ich es ohne weiteres zutraue, daß er das, was ich dieses wichtigere Anliegen nenne, auch kennt, und den ich nun doch mit einer Monotonie sondergleichen auf das Problem der verschiedenen historischen Gestalten der Botschaft pochen sehe: als ob auch er schon wisse, was im Neuen Testament steht, als ob er sich selbst und uns nur noch mit der Uebersetzung dieses schon Be­kannten von einer Sprache und Begrifflichkeit in die andere zu be­schäftigen wünsche, als ob diese gewiß wichtige Aufgabe gewisser­maßen im leeren Raum bearbeitet und gelöst werden könnte. Ich sehe ihn und seine Schüler — merkwürdigerweise in Eintracht mit nicht wenigen unter seinen Widersachern (um nur einen zu nennen: etwa mit W. Künneth!) — gerade dort seltsam ruhig, wo m. E. wir alle immer wieder höchst unruhig werden müßten: weil wir hinsichtlich der Botschaft selbst und als solcher faktisch alles Andere als beati possidentes sind. Und das muß ich denen, die mir gerade hier antworten und also vom Unverständnis zum Verständ­nis helfen wollen sollten, im voraus sagen: daß ich mich mit der Behauptung einer einfachen Identität dieser beiden Anliegen nicht werde zufrieden geben können.

II.

Es sei mir an dieser Stelle erlaubt, einer kleinen geschichtlichen Ueberlegung Raum zu geben Ist es richtig, die Mitte der Bultmannschen Theologie in dem Begriff des Kerygma zu erkennen, dessen Grund, Inhalt und Kraft die Tat und das Wort Gottes ist, dann scheint die Feststellung angemessen, daß es sich in dieser Theo­logie um die Begegnung zweier für die theologische Entwicklung der letzten Jahrzehnte wichtiger Tendenzen handelt. Nach dem Tübinger Fakultätsgutachten wäre die eine als die stattgefundene „neue Hinwendung zur reformatorischen Theologie“, die andere schlicht als der noch und so auch in Bultmann weiter lebende „Liberalismus“ des 18. und 19. Jahrhunderts zu bezeichnen.

Ich möchte zunächst die allgemeine Angabe dieser zweiten (ge­schichtlich freilich ursprünglichen!) Herkunft Bultmanns nicht ein­fach in Abrede stellen, wohl aber gerade im Blick auf jenen Haupt­begriff des „Kerygma“ fragen, ob es nicht erhellender wäre, an die Stelle des Allgemeinbegriffs „Liberalismus“ zunächst konkreter den der „formgeschichtlichen Schule“ zu setzen, die im Feld der neutestamentlichen Forschung vor rund 30 Jahren die damals herrschende „religionsgeschichtliche“ Schule samt allem, was dieser voranging, in Sätzen zu verdrängen begann, in denen jedenfalls manche von uns mehr als eine bloße Fortsetzung der „liberalen“ Exegese, in der wir vielmehr mindestens einen entschlossenen Ansatz zu einem jener gegenüber ganz neuen Verständnis der „Sachlichkeit“ der neutestamentlichen Schriften erkennen zu sollen meinten. Nicht von Wrede und Bousset, nicht von Jülicher und Harnack, geschweige denn von deren noch älteren „liberalen“ Vorgängern, nicht einfach (wie die Tübinger sagen) von seiner eigenen Existenz als Historiker und Philologe, wohl aber von jener besonderen, von ihm mitbegründeten Schule her konnte Bultmann es in jener wunderlichen Frühlingszeit am Anfang der Zwanziger Jahre als Fachwissenschaftler verantworten, sich mit uns meist aus so ganz anderen geistigen und geistlichen Geländen herkommenden Leuten von „Zwischen den Zeiten“ für eine gute Weile in eine Reihe zu stellen, konnten er und wir in dem Begriff „Kerygma“ (mit seiner von ihm selbst seither oft genug hervorgehobenen anti-religionsgeschichtlichen Spitze) so etwas wie ein gemeinsames Stichwort unserer Bemühungen erblicken, konnten wir ihn zu verstehen meinen und konnten wir uns von ihm für verstanden halten in der Absicht, auf ein neues, besseres Hören und wiedergeben eben der neutestamentlichen Botschaft selbst und als solcher. Lag der Nach­druck seiner Auffassung des Begriffs „Verstehen“ schon damals auf der Aufgabe der Uebersetzung der Botschaft aus einer Sprache in eine andere? Uns war dieser Nachdruck damals (viel­leicht mit Ausnahme von Gogarten) fremd und wenn er bei Bultmann schon damals vorhanden war, so haben wir ihn jedenfalls bei ihm nicht bemerkt — u. zw. darum nicht bemerkt, weil er uns aus dem Ansatz der „formgeschichtlichen“ Schule, von dem her wir ihn verstanden, nicht notwendig zu folgen schien, weil wir andere Vertreter dieser Schule — etwa M. Dibelius und K. L. Schmidt — vor uns hatten, bei denen von diesem Verständnis jenes Be­griffs bestimmt nichts wahrzunehmen war. Von dem Ansatz jener Schule her verstehe ich noch jetzt nicht recht, wie es bei Bultmann dazu kommen mußte, daß ihm die Frage der Uebersetzung in der Weise zur cura prior wurde, wie es für die nun ausgebildete Ge­stalt seiner Theologie bezeichnend geworden ist.

Noch schwieriger erscheint mir die Lage im Blick auf die andere Herkunft und Komponente seiner Theologie. „Neue Hinwendung zur reformatorischen Theologie“ heißt die Sache bei den Tü­bingern, worunter sie vor allem eine neue Hinwendung zu Luther, seiner Rechtfertigungslehre usf. zu verstehen scheinen. Da neben dem Namen von Karl Holl — hat er eine wichtige Bedeutung für Bultmann gehabt? — hier auch mein Name genannt wird, möchte ich nebenbei doch anmerken dürfen, daß ein neues Interesse an der Reformation doch erst eine Folgeerscheinung, aber nicht das ur­sprüngliche Motiv meiner Bemühungen gewesen ist. Luther im Besonderen befand sich für mich damals zunächst in weiter Ferne. Es wird aber wohl so sein, daß es sich bei Bultmann (seine Nähe zu Gogarten ist ja nicht zu übersehen) anders verhalten hatte, daß er vielleicht — ich komme noch darauf zurück — höchst wesentlich als Lutheraner (eigener und höherer Ordnung natürlich!) anzusprechen ist. Als Formgeschichtler konnte, als (wahrscheinlich mehr indi­rekt als direkt) von der Reformation und speziell von Luther ange­regter Denker mußte er dem Programm einer „Theologie des Wortes“, wie man damals sagte, seine Zustimmung geben und den Begriff des „Kerygma“ in die Mitte seiner eigenen Theologie stellen. Soweit verstehe ich ihn. Ich verstehe aber unter diesem zweiten Gesichtspunkt noch weniger, wie „Verstehen“ und „Aus­legen“ bei ihm in dieser Praeponderanz den Sinn von „Uebersetzen“ bekommen konnte. Auf S. 5 des Tübinger Gutachtens liest man als Angabe des Rahmens, in welchem Bultmann zu sehen sei, folgenden Satz: „Das große Thema der Theologie ist seit mehr als zwei Jahrhunderten die Auseinandersetzung mit der Aufklä­rung und mit dem neuen, auf Vernunft und Offenbarung begrün­deten Verständnis der Welt und des Menschen, das sich im Bereich der gesamten abendländischen Kultur durchgesetzt hat“. So war es in der Tat: das große, nämlich das eigene Thema der Theologie, die Botschaft der Bibel selbst und als solche war ihr in jenen Jahr­hunderten wieder einmal zum kleinen geworden oder ganz abhan­den gekommen, zum neuen großen Thema aber die „Auseinander­setzung“ mit einer der Botschaft der Bibel nun gerade fremden Instanz, deren Autorität und würde nur eben darin bestand, daß sie sich „durchzusetzen“ bezw. schon „durchgesetzt“ zu haben schien, war man aber darin nicht offenkundig in der Abwendung von der „reformatorischen“ Theologie begriffen, die in der „Auseinander­setzung“ mit einer Instanz dieses Charakters nun sicher nicht ihr „großes“ Thema hatte? Wie kann es sich dann aber bei Bultmann um eine „neue Zuwendung zur reformatorischen Theologie“ han­deln, wenn sein Unternehmen wirklich in den Rahmen jener noto­rischen Abwendung von dieser Theologie gehören sollte? Anders gefragt: Versteht er sich selbst von der Reformation und im Be­sonderen von Luther her, wie konnte ihm dann das Problem des „Uebersetzens“ in der Weise zum „großen“ Thema werden, wie es für die anti-, jedenfalls un-reformatorische Theologie jener zwei­hundert Jahre bezeichnend geworden ist? Das möchte ich — indem ich es versuche, mir über seinen Ort Rechenschaft abzulegen — verstehen und das verstehe ich nicht.

III.

Ich unternehme es nun, wiederzugeben, wie sich mir zunächst das Resultat von Bultmanns Verstehen des Neuen Testamentes bisher dargestellt hat: der Inhalt des neutestamentlichen Kerygmas, das er, so wie er es gehört hat, weitergeben will.

Die Grundkonzeption, die mir dabei entgegentritt, ist der Satz, daß es sich in diesem Kerygma um eine doppelte Be­stimmtheit des Menschen handelt: eine alte Bestimmtheit seiner Existenz, in der er sich durch das Kerygma aufgedeckt — und eine neue, zu der er sich darin ausgerufen findet. Mit diesen beiden Bestimmtheiten ist dann zusammen zu halten und mit dem Ueber­gang von der einen zur anderen (dem Geschehnis des Glau­bens) ist in eins zu setzen ein den Menschen Bestimmendes: Gottes im Glauben zu erfahrende und zu erkennende, in jenem Uebergang sich vollziehende Heilstat. Die (nicht zeitliche, aber sach­liche) Reihenfolge kehrt bei Bultmann immer wieder und ist zu seinem Verständnis wesentlich: der Mensch erfährt (1) als Hörer der Botschaft sich selbst als den, der er war und ist und als den, der er sein soll und wird, er erfährt sich (2) im Glauben an die Botschaft als im Uebergang vom einen zum anderen und er erfährt sich (3) in diesem Uebergang als Gegenstand von Gottes Heilstat, konkret geredet: in seinem „Sein in Christus“.

Aber hier stocke ich schon. Ich will nicht sagen, daß ich die Bot­schaft des Neuen Testamentes in diesem Grundschema seiner Bultmannschen Uebersetzung nicht wiedererkenne. Man erkennt sie ja schon in dem merkwürdig ähnlichen Entwurf des jungen Melanchthon von 1521 (war er auch der Entwurf des jungen Luther?) sehr wohl wieder: Hoc Christum cognoscere — beneficia eius cognoscere [Dies heißt Christus erkennen: seine Wohltaten erkennen]. Schon der alte Spalding, dann wieder Bretschneider, dann Ritschl und alle Ritschlianer haben das mit Inbrunst zitiert, und so tut es nun auch Bultmann. Ia, ja, wir hören! Es ist nichts dagegen, sehr viel dafür zu sagen. Es kann und muß (etwa im Kampf gegen allerhand abstrahierenden Objektivismus) auch ein­mal so geredet werden. Unter dem Vorbehalt immerhin, daß — es könnte ja auch einen abstrahierenden Subjektivismus geben! — diese Redeweise nun nicht etwa zum systematischen Prinzip er­hoben werde! Es kommt mir vor, daß das bei Bultmann geschehen sei und das wundert mich. Denn daß die Sache in dieser Sequenz der Botschaft des Neuen Testamentes entspreche, das kann ich nicht einsehen. Mag es denn sein, daß der (oder doch mancher) moderne Mensch in solcher Sequenz zu denken die Neigung hat. Fängt aber die Botschaft des Neuen Testamentes auch mit einer Explikation des als Hörer der Botschaft sich selbst erfahrenden Menschen an? Ergeben sich seine Aussagen über Gottes Heilstat am Menschen, über dessen Sein in Christus auch erst in Form von Aussagen über dessen Selbsterfahrung? Hat hier nicht eine viel­leicht doch folgenschwere Umkehrung der neutestamentlichen Ord­nung stattgefunden, die wohl gelegentlich gewagt werden mag, die aber bei genauem Hinhören jedenfalls nicht geradezu zum hermeneutischen Grundsatz hätte erhoben werden dürfen? Darf eine getreue Uebersetzung des Neuen Testamentes dem modernen Men­schen die harte Tatsache verheimlichen, daß das Gefälle des neutestamentlichen Denkens ein anderes, das entgegengesetzte, ist als das ihm geläufige?

Aber hören wir Bultmann zunächst über jene doppelte Be­stimmtheit des Menschen! — wie findet er sich in der neutesta­mentlichen Botschaft fürs erste angeredet? Antwort: als „Sün­der“, als „dieser Welt“ angehörig, als „im Fleische lebend“. Das heißt übersetzt: Er macht die Sphäre des für ihn Vorhandenen, des im Sichtbaren und Verfügbaren, des durch ihn selbst Meßbaren zur Voraussetzung seines Lebens. Er setzt das alles an die Stelle Gottes, der der Inbegriff des Unsichtbaren, Unverfügbaren, nicht Vorhandenen, nicht Meßbaren ist. Eben in solcher Eigenmächtig­keit begibt er sich aber unter das Gericht „dieser Welt“, verurteilt er sich selbst zu einem uneigentlichen Existieren, verliert er sich an die Sorge und an die Angst, stürzt er sich in den Streit mit dem Mitmenschen, „verfällt“ er dem Tode, d. h. dem Vergangensein. Daß es ein solches uneigentliches, verfallenes Sein gibt, weiß er zwar in den Umrissen (eine ernste Philosophie kann ihn darüber aufklären) schon zuvor. Die neutestamentliche Botschaft aber ver­schärft, korrigiert, radikalisiert dieses wissen des vorgläubigen Menschen. Sie sagt ihm, daß er selbst uneigentlich, verfallen ist und daß er selbst, nachdem er das einmal geworden ist, daran nichts wird ändern, seine Eigenmächtigkeit vielmehr mit jedem Selbsthilfeversuch nur wird bestätigen, sich eben damit nur noch tiefer in jene Uneigentlichkeit wird verwickeln können.

Man wird auch in dieser Uebersetzung Manches zweifellos wiedererkennen: Züge der reformatorischen Sündenlehre, auch Paulinisches und Johanneisches, auch Synoptisches. Die Frage drängt sich aber auf: ob die Kontraste des Sichtbaren und Unsichtbaren, Verfügbaren und Unverfügbaren usf. in der biblischen Botschaft selbst auch die Rolle spielen wie in dieser Wiedergabe? Ob Gott dort auch der Inbegriff der Sphäre des Unsichtbaren und Unver­fügba­ren ist? ob der Ungehorsam gegen ihn und also die Sünde dort auch wesentlich in der Bevorzugung der entgegengesetzt zu beschreibenden Sphäre besteht? ob sich diese beiden Sphären, vom Gott der Bibel her gesehen, nicht gar sehr noch innerhalb dieser „Welt“ und also des „Fleisches“ befinden möchten? ob das, was dort Hochmut, Verzagtheit, Lüge heißt, wirklich nur eine Radi­kalisierung dessen ist, was der zwischen jenen beiden Sphären hin und her schwankende vorgläubige Mensch von sich selbst auch sonst wissen oder in Erfahrung bringen kann? Sollte das, was dem Menschen durch Gottes Wort über sich selbst als „alter Mensch“, über seine Sünde, sein servum arbitrium, das Gericht, in dem er steht, gesagt wird, nicht ein im Verhältnis zu allen ihm mögli­chen Selbstanklagen und Selbstbeklagungen völlig Neues sein? Ich verstehe schon, daß das in der von Bultmann gewählten Rei­henfolge und Ordnung nicht sichtbar werden kann. Ich verstehe aber eben das nicht: warum Bultmann sich durch die Wahl seiner Reihenfolge in die Lage versetzt hat, das nicht sichtbar machen zu können, die Sünde als die verkehrte menschliche Entscheidung und deren Folgen faktisch so merkwürdig platonisch beschreiben zu müs­sen. was ich hier bei Bultmann nicht verstehe, verstehe ich freilich schon bei der ganzen alten Orthodoxie nicht. Er folgt ja ihrer all­gemeinen Ueberlieferung, die Lehre von der Sünde gewissermaßen freihändig, abstrahiert von dem, was Gott zu ihrer Widerlegung und Beseitigung getan hat, entwerfen zu wollen. Er folgt auch darin ihren Spuren, daß er das nur unter Anlehnung an naturrechtliche Vorstellungen fertig bringt. Und ich sehe wohl ein, daß es gerade von ihm zu viel verlangt wäre, daß er nun eben — besser als an anderen! — an dieser Stelle mit der Orthodoxie hätte brechen sollen.

Wozu aber findet sich der Mensch in der neutestamentlichen Bot­schaft aufgerufen? Antwort: zum Glauben als dem Vertrauen auf das Unsichtbare, Unbekannte, Unverfügbare, zur Preisgabe aller in der Welt oder in sich selbst zu findenden Sicherheit, zu einem Leben des Habens als hätte man nicht (1. Kor. 7,29f.), zur Wegwendung von der eigenen Gegenwart hin zur Zukunst Gottes, eben damit zur Freiheit von Angst und Sorge und zur Freiheit für die Anderen, eben damit zur Liebe zu Gott und dem Nächsten. Er ist — das Alles in einem Wort gesagt — aufgerufen zur „eschatologischen“ Existenz der neuen Kreatur, die als solche die eigent­liche, die wahrhaft natürliche Existenz des Menschen ist: natürlich (und also im Ansatz und in den Umrissen) auch sie dem Menschen schon zuvor nicht unbekannt, nur eben durch die Botschaft ans Licht gestellt und dem Menschen als seine eigene Bestimmung zu­gesagt als das Eschaton gerade seiner Existenz vorgehalten.

Wer wollte leugnen, daß gerade hier Vieles sehr scharf und schön gesehen ist? Man kann hier die vita christiana in der der mortificatio folgenden vivificatio, in der meditatio vitae futurae, wie Calvin sie beschrieben hat, anklingen hören und gewiß auch hier spezifisch paulinische Töne. Die vorhin angemeldeten Fragen mel­den sich freilich alle — und das verstärkt — auch hier. Und ist es über sie hinaus nicht doch auch eine bedrängend formale, gesetzliche Kühle, von der man sich gerade bei diesem Teil der Uebersetzung umfangen fühlt? Kann man das, was das Neue Testament vom Leben des Glaubens als dem Leben des neuen Menschen sagt, wirk­lich zusammenfassen unter dem Begriff der „Entweltlichung“? Kann man aus Uebersetzungsgründen davon abstrahieren, daß das Leben des Glaubens, die „eschatologische Existenz“ im Neuen Testament die Sache der auf Gottes Gnade antwortenden Dank­barkeit ist? Und steht man hier nicht auch vor einer beunruhigenden materialen Lücke? Kann man davon abstrahieren, daß dieses neue Existieren im Neuen Testament durchgängig auf einen dem Men­schen gegenüberstehenden, bezw. vorangehenden Herrn, auf seine Mahnung und seinen Trost bezogen ist? Ich verstehe schon, warum Bultmann von dem allem zunächst abstrahieren will. Er will of­fenbar die beneficia Christii, die christliche Existenz für sich und als solche darstellen, um dann, nachher, zu zeigen und zu sagen, wie sie zustande kommt, saß und inwiefern sie in Christus, in der Heilstat Gottes begründet ist. Aber das ist es ja: kann man in Auslegung des Neuen Testamentes diese, die christliche Existenz begründende Heilstat Gottes erst nachträglich zur Sprache bringen, nur im Spiegel der christlichen Existenz sehen und verstehen wollen? Eben die Notwendigkeit und Güte dieses Uebersetzungsverfahrens leuch­tet mir nicht ein. Eben seine Durchführung scheint mir nur schon mit der an dieser Stelle so bedrängenden, der neutestamentlichen Botschaft selbst nicht recht adaequaten Frostigkeit und Leere der Bultmannschen Darstellung zu teuer bezahlt. Ich müßte verstehen, warum er dieses Verfahren so köstlich findet, und eben das kann ich nicht verstehen.

Wir kommen eben damit zum entscheidenden, zu dem für das Verständnis und die Auslegung Bultmanns selbst kritischen Punkt seiner Wiedergabe der neutestamentlichen Botschaft. Das Kerygma, so hören wir, verkündigt — und es ist, indem seine Ver­kündigung Gehör und Gehorsam fordert und findet, selbst Ge­schichte im qualifiziertesten Sinn dieses Begriffs: die Geschichte des Uebergangs des Menschen von seinem alten zu seinem neuen Leben, übersetzt: von sich selbst zu sich selbst, von seinem uneigentlichen zu seinem eigentlichen, von seinem vergangenen zu seinem zukünftigen Sein. Es verkündigt, sagt Bultmann, das Christusgeschehen, in welchem jener Uebergang Ereignis ist. Das Chri­stusgeschehen? Das Christusgeschehen? Worauf soll hier nach Bultmanns Meinung der Nachdruck liegen? Ist er schon falsch verstanden, indem man diese Frage stellt? Aber wie kann man es, da die Sache im Neuen Testament nun einmal einen ganz bestimm­ten Nachdruck hat, unterlassen, sie zu stellen?

Wir hören: Daß jener Uebergang das Christusgeschehen ist, daran ist Bultmann offensichtlich gelegen: wenn nicht schlechthin, so doch sehr dringlich, wenn nicht Alles, so doch Vieles. Und offen­bar nicht nur historisch und zufällig darum, weil das jenen Uebergang verkündigende Kerygma nun einmal das des Neuen Testa­mentes ist, in welchem er in nicht zu überhörender Weise auf die Erscheinung und den Namen Jesu von Nazareth, auf sein von den ersten Trägern des Kerygmas bezeugtes Leben und Sterben be­zogen ist. Daß dem so ist, ist Bultmann darum sachlich wichtig, weil jener Uebergang ja eben Geschichte sein soll: in der Zeit an­hebend und sich vollendend, durch einen bestimmten historischen Namen vor anderen Geschichten als diese, als einmalig, ausge­zeichnet. Das Alles leistet das neutestamentliche Kerygma, indem es Kerygma von Jesus Christus ist und die von ihm verkün­digte Heilstat Gottes die ursprünglich in diesem Menschen — für uns, die seine Verkündigung angeht — geschehene Tat Gottes ist. Ich sehe mich um, ob es dafür, daß jener Uebergang gerade das Christusgeschehen sein soll, nach Bultmann noch einen anderen Grund geben möchte: außer dem, daß es dadurch mit gewissen unentbehrlichen Merkmalen echter Geschichtlichkeit versehen sein soll? Und ich sehe zunächst keinen anderen Grund.

Ist der Ton also darauf zu legen, daß es das Christusgeschehen ist, das in dem Leben und Sterben des Mannes Jesus zwar seinen Anfang, von ihm her seinen Namen und Titel hat, dessen eigentliche Stätte aber doch nicht in ihm, sondern zunächst im Kerygma von ihm und dann in den dieses Kerygma Hörenden und ihm Gehorsamen, in ihrem Glauben hat? Knüpft das Kerygma zwar an an seine Geschichte, hat es von ihm her jene Merkmale seiner eigenen Geschichtlichkeit, um nun doch seinen Inhalt keines­wegs in ihm, sondern, sofern es jenen Uebergang verkündigt, in sich selbst und dann in dem von ihm geforderten Glaubensgehor­sam zu haben?

Kerygma vom Christusgeschehen? Das würde ich verstehen. Aber so scheint es Bultmann nicht zu meinen. Also Christusgeschehen im Kerygma und durch das Kerygma? So scheint Bultmann es zu meinen. Eben das kann ich nicht verstehen: nicht als Wieder­gabe, als Uebersetzung des neutestamentlichen Kerygmas nämlich. Daß Christus das Kerygma ist, läßt sich von dorther gewiß hö­ren — nicht aber die Umkehrung: daß Christus das Kerygma ist. Und gerade auf diese Umkehrung scheint Bultmann zu zielen. Man sage mir, was ich in seinen Sätzen überhört, unterdrückt, ent­stellt habe, um mich gerade hier in solcher Ratlosigkeit zu befinden! Oder man sage mir, quo iure man mir verbieten will, gerade hier in dieser Alternative zu denken!

Bultmanns allgemeine Absicht ist offenbar — in den alten Be­griffen zu reden — Christologie und Soteriologie als Einheit zu verstehen und das neutestamentliche Kerygma zur Verkündi­gung dieser Einheit. In dieser allgemeinen Absicht folge ich ihm willig. Ich verstehe es aber nicht, wie man es unterlassen kann, diese Einheit, das Christusgeschehen, als eine in sich unterschie­dene Einheit zu verstehen, in der die Christologie, ohne sich deshalb von der Soteriologie trennen zu lasten, vorangeht, die Soteriologie aber — in jener enthalten, von jener um­faßt — ihr folgen muß. Sodaß die eine Geschichte, die den In­halt des Kerygmas bildet, gerade als Christusgeschehen auch das Christusgeschehen, sodaß ihr Ort — gerade der Ort jenes heilsamen Uebergangs vom Alten zum Neuen — eben doch das Leben und Sterben des Mannes Jesus von Nazareth ist. Sodaß eben in diesem der Inhalt, die Substanz, das Rückgrat, der locus communis, sagen wir für einmal: das Prinzip der christ­lichen Botschaft zu erblicken ist! Ist es im Neuen Testament so oder nicht? Und kann das — kann Jesus Christus selbst! — in einer guten Uebersetzung des Neuen Testamentes an den Rand, in das merkwürdige Dunkel eines nicht näher zu bestimmenden „Woher“ jenes Uebergangs gerückt werden, in welchem er sich in Bultmanns Darstellung befindet? Geht es bei einer solchen Uebersetzung des Neuen Testamentes mit rechten Dingen zu, in der die Christologie, weit entfernt davon, das dominierende Hauptstück zu sein, von der Soteriologie absorbiert wird und schließlich doch nur als deren Anfang, Name und Titel, doch nur dazu wichtig zu sein scheint, um dieser „geschichtlichen“ Charakter zu geben? Und damit dürfte nun das Andere zusammenhängen, was mir in diesem Ansatz rätselhaft ist. Soll mit der ganzen Lehre vom „Christusge­schehen“ nicht gezeigt werden, daß und wie jener Uebergang, zu dessen Vollzug der Mensch nicht mächtig ist, möglich und wirklich wird? Wie ist es nun aber, wenn diese Lehre gar nicht wesentlich und eigentlich Lehre von Christus sein soll, sondern gerade wesent­lich und eigentlich Lehre vom einem Geschehen jenes Uebergangs, das in Christus nur seinen Anfang genommen hat, von ihm nur seinen Namen und Titel trägt? Wenn die Christologie nur resor­biert in der Soteriologie ihr Dasein fristen darf — will sagen: wenn Jesus Christus selbst in dieser Lehre nur jene dunkle Rand­figur ohne eigene selbständige Bedeutung sein, wenn er „bedeut­sam“ erst werden darf, indem er in das Kerygma eingeht und bei dessen Hörern Gehorsam findet? Wenn die Pointe des Kerygmas in dem an seine Hörer sich richtenden Aufruf zum Glauben, in der ihnen damit gemachten Zumutung besteht? Inwiefern ist dieses Kerygma, in welchem von dem, an was (an wen!) seine Hörer glauben sollen, nichts zu hören ist, Evangelium? Inwie­fern etwas Anderes als ein neues Gesetz? Ich muß noch weiter fragen, weil mein Unverständnis hier offenbar besonders groß ist: Inwiefern redet dieses Kerygma nun eigentlich wie vorgesehen von einer Tat Gottes und genau genommen nicht doch von einer Tat des Menschen: von dem nun doch (aber dazu sollte er ja nicht fähig sein!) im Gehorsam von ihm zu vollziehenden Uebergang? Was heißt das eigentlich, daß das Christusgeschehen „für uns“ (pro nobis) geschehen sei? Was ich wissen möchte, ist dies, ob und inwiefern es im Sprachgebrauch Bultmanns mehr als das heißen kann: daß der Inhalt des Kerygmas uns angeht, für uns „bedeut­sam“ ist, von uns als Gesetz unserer Entscheidung übernommen, in der Tat unseres Glaubens — in der imitatio Christi! — realisiert werden soll? Ich frage: ob das Alles ist?

Aber versuchen wir es, Bultmanns Darlegung in diesem kri­tischen Punkt ins Einzelne zu folgen! Zwei Momente sind nach ihm in jenem Christusgeschehen zu unterscheiden und zusammenzuhalten.

Das eine ist „das Kreuz“. Gemeint ist — vom Anfang, Na­men und Titel des so bezeichneten Geschehens her: das historische Ereignis der Kreuzigung Jesu Christi, eben dieses aber sofort ver­standen in seiner Bedeutsamkeit „für uns“, als „Wort vom Kreuz“, in welchem die Geschichte anhebt, in der der Uebergang des Menschen von seinem uneigentlichen zu seinem eigentlichen Sein stattfindet. Dem Menschen „bedeutet“ nämlich der Tod Jesu Christi, daß auch er sich auf den weg in ein radikales, ein Todes­gericht über sein uneigentliches Sein versetzt und eben diesen Weg als den Weg zu Gnade und Heil zu begehen sich aufgerufen findet. Man kann auch sagen: das Kerygma „bedeutet“ ihm das, sofern nämlich der Tod Jesu Christi, als historisches Ereignis nicht nur, sondern als Gottes Tat verstanden, in das Kerygma eingegangen, im Kerygma dieser Bedeutsamkeit teilhaftig geworden ist. Indem der Hörer des Kerygmas diesem dem ihm angemessenen Glaubens­gehorsam entgegenbringt, gewinnt der Tod Jesu Christi Bedeut­samkeit auch für ihn: konkret darin: daß er das Kreuz Christi „übernimmt“ als sein eigenes, indem er sich „mit Jesus Christus kreuzigen läßt“, indem er also jenen weg in das Todesgericht hin­ein als den Weg zur Gnade und zum Leben unter seine eigenen Füße nimmt. Eine, die „Tat Gottes“, ist dieses Geschehen inso­fern, als sowohl der Ursprung als auch das Ziel der Kreuzigung Jesu Christi als historisches Ereignis und sowohl der Ursprung als auch das Ziel des menschlichen Glaubens an dessen Bedeutsam­keit im Unsichtbaren und Unverfügbaren liegen und also mit Gott identisch sind. Gottes Heilstat ist dieses Geschehen insofern, als sich der Mensch in ihm auf dem Wege, ja schon im Eingang zu Gnade und Leben und also zu seinem Heil befindet. Es ist das in der eschatologischen Existenz des Menschen sich ereignende und sie charakterisierende eschatologische Heilsergebnis.

Ich verstehe — und kann doch auch hier mehr als Eines nicht verstehen. Ich sehe nämlich wohl ein, daß mit dem Kreuz Jesu Christi in der Botschaft des Neuen Testamentes nicht nur ein historisches, sondern ein in seiner zeitlichen Einmaligkeit und Konkretheit alle Zeiten bedeutsam umgreifendes (Bultmann sagt mit Recht gerne: ein „kosmisch“ bedeutsames) Ereignis bezeichnet ist. Ich sehe aber nicht ein, daß ihm diese Bedeutsamkeit dort erst ge­wissermaßen zuwachsen muß durch seinen Eingang ins Kerygma und im Glaubensgehorsam von dessen Hörern. Ich meine vielmehr zu sehen, daß es dort als ein in sich bedeutsames Ereignis be­zeichnet und beschrieben wird, das dann als solches und von daher auch im Kerygma und für den Glauben von dessen Hörern bedeut­sam werden kann und mag. Mich beunruhigt die in Bultmanns Uebersetzung stattgefundene Umkehrung dieser Ordnung. Ich sehe ferner wohl ein, daß auch die Botschaft des Neuen Testamentes (etwa in den evangelischen Worten von der Nachfolge Jesu im Tragen des Kreuzes oder in der von Bultmann bevorzugt zitier­ten Stelle Kol. 1,24) von einem Nachvollzug des Leidens und Sterbens Jesu Christi im Leben der an ihn Glaubenden redet. Ich sehe aber nicht ein, daß der neutestamentliche Glaube, in welchem der Hörer dieser Botschaft die Bedeutsamkeit des Kreuzes Jesu Christi auch für ihn realisiert, in diesem Nachvollzug bestehe. Ich meine vielmehr zu sehen, daß dieser Nachvollzug dort eine Konsequenz des Glaubens ist, in welcher der Hörer der Botschaft sich an das hält, was im Tode Jesu Christi ganz und gar außer ihm, ohne ihn, ja gegen ihn von Gott her für ihn geschehen ist. Und mich beunruhigt die Nähe zu allerhand katholischer Todesmystik, in die ich mich durch Bultmanns Uebersetzung versetzt finde. Ich sehe endlich wohl ein, daß die Botschaft des Neuen Te­stamentes den Tod Jesu Christi und darum auch den Glauben an seine Bedeutsamkeit als Gottes unbegreifliche, sagen wir denn: paradoxe Heilstat verkündigt. Ich sehe aber nicht ein, wie man unterdrücken kann, daß der Tod Jesu Christi dort in seiner ganzen Unbegreiflichkeit auch als begreiflich und so auch der an ihn sich haltende Glaube in seinem ganzen Wagnischarakter auch als sinn­voll beschrieben wird. Ich meine zu sehen, daß dort nach beiden Seiten von daher Licht fällt, daß der gekreuzigte Jesus Christus nicht irgend ein Gekreuzigter, sondern eben Er ist: Gott, als der sich selbst zum Knecht erniedrigende Herr, Mensch als der von Gott zum Herrn erhöhte Knecht, der legitimierte und sich selbst legitimierende Zeuge und Prophet des Gottesreiches. Ich meine also in dem gekreuzigten Jesus Christus dort, in der Botschaft des Neuen Testa­mentes, das Subjekt zu sehen, daß das für alle Menschen heilsame Todesgericht schon erlitten, ihren Uebergang vom alten zum neuen Wesen schon vollzogen, ihre Versetzung in die eschatologische Existenz schon vollbracht, das diesen Prozeß also nicht nur inauguriert, sondern abgeschlossen hat. Ich meine dort gerade an der Stelle (bei aller hohen Verborgenheit und Unaufweisbarkeit solches Geschehens) Konturen, Farben, eine Person und ihr Werk zu sehen, ein in sich klares Wort zu hören, wo nach Bultmann Dunkel und Schweigen herrscht, nur die Behauptung daß es sich da um Gottes Heilstat handle, Raum haben dürfte. Mich beunruhigt die Nähe seiner Kreuzeslehre zu der bekannten, Jesus selbst gemachten Zumutung, sich in Betätigung seiner Gottessohnschaft und als Erweis der höchsten Paradoxie seines Glaubens von der Zinne des Tempels zu stürzen. Bultmann hat einmal (Kerygma und Mythus, 1. Bd. 1948 S. 50) geschrieben: „Nicht weil es das Kreuz Christi ist, ist es das Heilsereignis, son­dern weil es das Heilsereignis ist, ist es das Kreuz Christi“. Diesem berühmt-berüchtigt gewordenen Satz wollte ich wohl einmal von Bultmann selbst authentisch interpretiert hören. Ich weiß nämlich nicht, wie ich ihn in einem mir im Blick auf die Botschaft des Neuen Testa­mentes zugänglichen Sinne interpretieren wollte. Alle meine Fragen an Bultmanns Kreuzeslehre (und wohl auch zu sei­ner Lehre vom Christusgeschehen überhaupt) dürften in meinem Nichtverstehen dieses Satzes ihren gemeinsamen Grund haben.

Das andere Moment des Kerygmas und also des Christusgeschehens ist nach Bultmann „die Auferstehung“. Gemeint ist, wieder von ihrem Anfang und Namen her: die Auferstehung Jesu Christi, das Ostergeschehen als das Offenbarwerden der Be­deutsamkeit des Kreuzes. Was ereignet sich in ihm? Bultmann sagt: die Entstehung des die Bedeutsamkeit der Kreuzigung Jesu Christi „für uns“ realisierenden, verstehenden und bejahenden Glaubens — des „Osterglaubens“, der besteht in der „Uebernahme“ des Kreuzes Christi durch den Glaubenden, in seiner kämpfenden Freiheit der Sünde, der Sorge, der menschlichen Entzweiung gegen­über. Und weiter: in und mit der Entscheidung des Osterglaubens die Entstehung eben des Kerygmas, in das das Kreuz Christi als Gottes Heilstat eingeht, und insofern: die Entstehung der Kirche und der Sakramente (!). In diesem ganzen Bereich wird es ja offen­bar, daß das Kreuzesgeschehen einmalig und nun doch nicht nur da­mals geschehen ist, sondern in derselben Einmaligkeit je jetzt wieder geschehen will und tatsächlich geschieht. Dieser ganze Bereich ge­hört insofern mit zu dem „eschatologischen Heilsereignis“. Daß es einen solchen Bereich dieses Charakters gibt, beruht darauf, daß Jesus Christus in den Osterglauben und in das Kerygma hinein auferstanden ist. Als Tat Gottes will Bultmann das Christusgeschehen auch nach dieser — darf man sagen: der noetischen? — Seite ver­standen wissen. Nur offenbar auch hier als Tat Gottes, von der über ihr Geschehen im Kerygma und im Glauben hinaus nichts zu sagen ist: nichts über ihren Charakter als Begründung, Gegen­stand, Inhalt beider — und also nichts über den auferstandenen Christus an sich und als solchen, nichts über sein eigenes Leben aus und nach seinem Tod, nichts über ihn selbst als den Zeugen seines Lebens und also der Bedeutsamkeit seines Todes, nichts über ihn im Akt seiner konkreten Begegnung mit den noch nicht glaubenden und also auch noch nicht zu Trägern des Kerygmas berufenen, noch nicht zur Gemeinde versammelten Jüngern. Das scheint also die Auferstehung Jesu Christi auch als Tat Gottes nicht bedeuten zu dürfen: daß die Herrlichkeit Gottes da wirklich in seinem Fleisch gewordenen und im Fleisch getöteten Wort kraft dessen Leben aus und nach seinem Tod im Raum und in der Zeit geschaut wurde. Erst im Kerygma von ihm und im Glauben an ihn scheint das ge­schehen zu sein. Es scheint also gerade die Erkenntnis der Be­deutsamkeit seiner Kreuzigung nicht in Jesus Christus selbst ihren Ursprung gehabt zu haben, wie seine Kreuzigung ja auch nicht in sich selbst, nicht vermöge der Person und des Werks dieses Gekreu­zigten bedeutsam war. Tertia die resurrexit a mortuis scheint nicht der noetische Fundamentalsatz, sondern nur ein zur Not auch ent­behr­licher Erklärungssatz des Kerygmas und des Glaubens zu sein, in die eingesperrt Jesus Christus sein wirkliches Leben lebt! Das verstehe ich nicht, das wundert mich, weil ich darin den Tenor und den Rhythmus der neutestamentlichen Botschaft nun doch nur in größter Ferne wiedererkenne, weil ich die Legitimität einer solchen Uebersetzung dieser Botschaft nun doch nicht einsehe. Oder hinge im Neuen Testament doch nicht so viel oder gar alles an dem Primat der Auferstehung Jesu Christi selbst, an ihrer Prio­rität vor allem Auferstehen, das dann auch im Kerygma, im Glauben, in der Kirche, in den Sakramenten (?!) stattfinden mag — nicht so viel oder Alles daran, daß wir in Ihm auferstanden sind? Oder verstehe ich nur nickt, daß Bultmann ja auch eben das sagen will? Ich muß gestehen: ich habe ihn bis jetzt tatsächlich da­hin verstanden (und eben darin nicht verstanden!), das Kerygma besage, daß Jesus Christus seiner Auferstehung in uns — entgegengehe!

Das also wäre die in jener doppelten Bestimmung des Menschen, vielmehr in des Menschen Uebergang von der einen zur anderen vorausgesetzte Tat Gottes: ontisch das Kreuzesgeschehen, noetisch das Osterereignis — das also die Christologie, die in Bultmanns Soteriologie enthalten und ihr zu entnehmen ist. Der Nachdruck, den er auf den Charakter dieser Tat als Geschichte u. zw. als Christusgeschichte legt, sollte weder von den Gegnern noch von den übereifrigen Freunden seiner Konzeption übersehen werden. Daß er mit ihr nicht nur Paulus, sondern das ganze Neue Testa­ment zur Sprache und zu Ehren bringen will, ist unverkennbar. Und so auch das, daß er sich damit heute — etwa von K. Jaspers und dessen theologischem Schüler F. Buri her gesehen — in die gleiche Verdammnis begeben, des gleichen Aergernisses sich schuldig gemacht hat wie wir Anderen. Er ist in seiner darin sichtbaren Absicht von keinem älteren oder neueren Liberalismus her zu erklären, wenn nur diese seine Absicht auch in deren Durch­führung so sichtbar wäre, daß sie nicht mißzuverstehen wäre! Wenn er doch vom Kreuz und von der Auferstehung Jesu Christi so reden würde, daß der Nachdruck, den er auf beide in ihrem Zu­sammenhang, den er auf das Christusgeschehen überhaupt legen möch­te, als begründet erschiene! So begründet ist er mir nicht erschienen, daß ich der Kritik, die Bultmann von rechts und von links her gerade hier widerfahren ist, nicht ein gewisses Recht zu­sprechen müßte: was ich von Herzen ungern tue.

IV.

Es schien mir erhellend, die Frage nach dem, was Bultmann meint und will, zunächst ganz allein im Blick auf das Resultat seines Unternehmens, seine positive Darstellung der neutestamentlichen Botschaft, zu stellen. Noch ist also das Wort und der Begriff und die Sache, in deren Zeichen sein Unternehmen in weiten Kreisen, zunächst der deutschen, aber allmählich doch auch der oekumenischen Theologie bekannt und diskutiert worden ist, nicht einmal anspielungsweise berührt worden: die „Entmythologisierung des Neuen Testamentes“. Es muß gesagt sein: es handelt sich nicht um einen Bultmann von dritter Seite ange­hängten Necknamen, sondern er selbst ist der Erfinder dieses nicht nur sprachlich ungewöhnlich unschönen, sondern auch sachlich nur unfruchtbar provozierenden Wortes? und wieder er selbst war es, der sein Unternehmen in dem für die ganze Diskussion entschei­denden Vertrag „Neues Testament und Mythologie“ von 1941 (Kerygma und Mythos 1. Bd. S. 15f.) in das Licht dieses Wortes und Begriffes gerückt hat. wenn er von der bösen (christlichen!) Welt nicht verstanden wird, so hat er es weithin der Erfindung und dem Gebrauch dieses durchaus nicht erwecklichen, sondern nur abschreckend negativen Begriffs zu verdanken. Man wird ihm aber schwerlich gerecht, wenn man sich dadurch von ihm selbst irre führen läßt. Er wohnt kaum (oder jedenfalls nicht nur) dort, wo man ihn auf dieses Wort hin anrufen möchte. Mir jedenfalls ist seine „Entmythologisierung des Neuen Testamentes“ als solche eine verhältnismäßig uninteressante Angelegenheit, verglichen mit der Problematik des positiven Resultates seiner Exegese und der des anderen, des positiven Auslegungsprinzips, mit Hilfe dessen er zu diesem Resultate kommt. Die Fragen, die ich seinem Resultat gegenüber anzumelden hatte, und die anderen, die seinem zweiten, dem positiven Auslegungsprinzip gegenüber anzu­melden sein werden, würden mich auch dann — und dann viel­leicht noch mehr — beunruhigen, wenn das spezifische „Entmythologisieren“ in seinem Verfahren eine geringere, oder vielleicht auch gar keine Rolle spielen würde. Aber da die „Entmythologisierung“ als solche nun einmal in den Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit gerückt ist, und da sie doch auch Bultmann selbst ungemein wichtig zu sein scheint, werde ich ihm mit der entspre­chenden Aufmerksamkeit auch in dieser Richtung folgen müssen.

Ich gehe dabei — fürs erste allgemein — noch einmal von seiner positiven Darstellung der neutestamentlichen Botschaft aus, und konstatiere zunächst einfach das Fehlen gewisser für diese Bot­schaft, so wie sie in den neutestamentlichen Texten vorliegt, charak­teristischen Elemente. Ihre Abwesenheit ist von Bultmann ge­wollt. Er selbst macht dringlich darauf auf­merksam. Er redet weit­hin (in jenem grundlegenden Vortrag in geradezu verwirrender Dringlichkeit) so, als sähe er seine ganze Aufgabe als Exeget und also als Uebersetzer darin, die neutestamentliche Botschaft unter Umgehung jener Elemente wiederzugeben, diese Elemente zum Ver­schwinden zu bringen. Aber ich muß mich sofort korrigieren: um ihr „Verschwinden“, ihre „Umgehung“, ihr „Fehlen“ soll es sich ja nach Bultmanns Meinung und ausdrücklicher Erklärung (im Un­terschied zur älteren „liberalen“ Exegese) nicht oder nur in gewis­sen Grenzfällen handeln, vielmehr um ihre Transformation aus der ihnen in den neutestamentlichen Texten eigentümlichen Sprache, Anschaulichkeit und Begrifflichkeit in die unsere, die des heutigen Menschen. Eben um dieser Elemente willen ist nach Bultmann Uebersetzung des Neuen Testamentes nötig. Eben sie bedürfen solcher. Nicht eigentlich — oder nur in gewissen Fällen — wäre also ihre Abwesenheit in Bultmanns Darstellung zu konstatieren, in der Regel aber ihre Anwesenheit in einer ihnen widerfahrenden Transformation, was zum „Verschwinden“ gebracht ist und also „fehlt“, soll in der Regel nur ihr neutestamentlicher Aus­druck sein, nicht das im Neuen Testament mit ihnen Gemeinte. Und das wird von Fall zu Fall und schließlich im Ganzen die Frage sein müssen: ob und inwiefern in der ihnen widerfahrenen Trans­formation das im Neuen Testament mit ihnen Gemeinte, die Funktion, die sie in dessen Botschaft haben — trotz des Fehlens des neutestamentlichen Ausdrucks — wiederzuerkennen ist? Im Sinne Bultmanns gefragt: ob das mit ihnen Gemeinte nicht ge­rade, wenn jener Ausdruck fehlt, besser wiederzuerkennen ist? Mehr noch: ob es nicht so ist, daß das mit ihnen Gemeinte nur in jener Transformation und also bei Abwesenheit des neutestament­lichen Ausdrucks, bei dessen Ersatz durch einen anderen echt wieder­zuerkennen ist? — Ob ich von da aus in Anspruch nehmen darf, daß meine unter III gestellten Fragen auch im Sinne Bultmanns mindestens formell richtig gestellt waren? Was mich dort beschäf­tigte, war ja eben die Frage des Wiedererkennens der neutesta­mentlichen Botschaft in deren von Bultmann vorgelegten Dar­stellung. Da diese mindestens auch — man könnte bei Bultmann manchmal meinen: ganz und gar! — durch die jenen Elementen bei ihm widerfahrene Transformation bestimmt ist, dürfte die Ver­mutung nahe liegen, daß es eben die in seiner Darstellung wirk­same Transformation dieser Elemente ist, die jenes wiedererkennen wenn nicht unmöglich so doch — wenigstens für mich! — so schwierig macht, wie ich es dort bekennen wollte.

Was sind das für Elemente, die in Bultmanns Darstellung, wenn überhaupt, dann nur in bestimmter Transformation Raum haben können? Er selber teilt sie (mir nicht ganz durchsichtig) in zwei Gruppen. Es geht einmal um alle die Elemente der neutesta­mentlichen Rede, die direkt oder indirekt das eigentümliche Welt­bild der spätjüdischen und hellenistisch-gnostischen Umwelt des Neuen Testamentes, widerspiegeln: die Anschauung von dem in „drei Stockwerken“ gegliederten Kosmos, die von der Bestim­mung der menschlichen Existenz durch das Eingreifen und Ein­wirken übernatürlicher Mächte: Satan und Dämonen, Sünde und Tod auf der einen, Gott, Engel und himmlisch-irdische Wunder auf der anderen Seite, die vom nahen Ende aller Dinge in einer kosmischen Katastrophe und die von einem über Heil oder Unheil der dann zu auferweckenden Toten entscheidenden göttlichen Ge­richtsakt. Und es geht sodann um alles das, was in der neutesta­mentlichen Konzeption vom Heilsgeschehen jenem Weltbild entspricht: die Vorstellung von der Eröffnung der Endzeit durch die Sendung eines praeexistenten Gottessohnes, von seiner Geburt aus der Jungfrau, von seinem Sühnetod für die Sünde der Men­schen, von seiner leiblichen Auferstehung von den Toten als Be­ginn der Entmächtigung Satans, der Sünde, des Todes, der Dä­monen, von seiner Erhöhung zum vom Himmel her regierenden Röntg und Herrn, von seiner sichtbaren Wiederkunst zur Vollen­dung seines Heilswerks, die ein Paulus noch selbst zu erleben er­wartete, die Vorstellungen von Kirche, Taufe und Herrenmahl als Mitteln der Verbindung der Glaubenden mit dem Herrn, von dem in ihnen wohnenden Geist als Bürgschaft und Macht der Gotteskindschaft.

An der richtigen Behandlung, d. h. in gewissen Fällen an der Eliminierung, in der Regel an der Transformation dieser Ele­mente würde es also hängen, ob es zu einer brauchbaren Uebersetzung der neutestamentlichen Botschaft kommt? Hier stocke ich und frage: In welchem Interesse Bultmann dazu kommt, gerade diese (im Einzelnen, wie man bei ihm und besonders bei seinen Schülern nachlesen mag, gern ein wenig grell, und gern ein wenig ironisie­rend, um nicht zu sagen: karikierend beschriebenen) Elemente in den Mittelpunkt seiner exegetischen Aufmerksamkeit zu rücken? Im Interesse am Geist, am Gegenstand und Skopus der neu­testamentlichen Aussagen? Dann würde ihn doch der Zusammen­hang, in welchem diese Elemente dort auftreten und ihre Rolle spielen, ihre Würdigung in diesem Zusammenhang so beschäftigen müssen, daß er gar nicht Raum, Atem und Luft hätte, sie — ich bitte um Entschuldigung: so unfroh — für sich und von außen zu betrachten, sie immer wieder zu einer Kette von Kuriositäten aneinander zu reihen und nun diese Kette als solche zum Gegen­stand eines selbständigen Problems, ja zum Gegenstand seines exe­getischen Hauptproblems zu machen. Von woher wird von ihm diese Kette als solche gesehen und zusammengefügt? Woher stammt der gemeinsame Nenner, auf den sich alle jene Elemente bei ihm ge­stellt finden? Aus der Sachlichkeit der Botschaft, mit der wir es doch gerade nach ihm im Neuen Testament zu tun haben? Oder aus einer historischen Analytik, die sich frei oder vielmehr gebunden fühlt, ihr Interesse — ein abstraktes Interesse! — den Struktur­eigentümlichkeiten der neutestamentlichen Aussagen (um eine solche handelt es sich offenbar in dem, was allen jenen Elementen gemein­sam ist) zuzuwenden? Ich sehe nicht hindurch: welchen Uebergang in ein anderes Genus müßte Bultmann sich geleistet haben, wenn er tatsächlich ein mögliches Ergebnis historischer Analytik zum Pro­blem aller Probleme der Auslegung des Neuen Testamentes und dann eine mögliche Stellungnahme zu diesem Ergebnis zum Krite­rium der Auflösung dieses Problems erhoben haben sollte! So stelle ich mir, auch wenn es nun um die Diskussion seines Verfah­rens gehen soll, schon beim ersten Schritt nur schwer vor, daß ich ihn guten Gewissens begleiten könnte.

Was ist nun diesen Elementen — nehmen wir an, daß ihre Zu­sammenstellung und Sonderbehandlung in Ordnung gehe! — in Bultmanns Darstellung widerfahren? Nochmals: sie sind — mit Ausnahme derer, die jener Transformation nicht fähig sind (wie etwa die drei „Stockwerke“, der Satan und die Dämonen samt den Engeln, die Jungfrauengeburt, das leere Grab, die Him­melfahrt Christi) — nicht etwa negiert, eliminiert, als Elemente des Kerygmas gestrichen worden. Sie wurden vielmehr inter­pretiert. Man sehe in seiner Darstellung nach? man wird in ihr jedenfalls viele und erhebliche dieser Elemente — die Sünde, den Tod, Gott, seine Offenbarung in Christus (in ihm allein!), den Hei­ligen Geist und die Gotteskindschaft der Glaubenden, die Kirche und sogar die Sakramente, die eschatologische Hoffnung (diese so­gar als beherrschendes Prinzip!) an geeigneter Stelle und nun eben „interpretiert“, auf einen anderen Ausdruck gebracht, wiederfinden. Und das Alles mit einer Ernsthaftigkeit akzentuiert, an der sich mancher, der „orthodoxer“ als Bultmann von diesen Dingen, redet, ein Vorbild nehmen könnte, die übrigens manche „Liberale“ veranlaßt hat, ihn als allzu „orthodox“ nicht zu den Ihrigen rech­nen zu wollen. Daß sich sein Weg von dem ihrigen darin trenne, daß er nicht wie sie auf die Eskamotierung, sondern auf die Interpretation jener Elemente bedacht sei, hat er selbst mehr als einmal ausdrücklich ausgesprochen. Er dürfte dabei immerhin den Bemühungen der Aelteren unter ihnen, etwa denen eins A. E. Biedermann, nicht eben gerecht geworden sein. Und hat nicht doch schon Schleiermacher schlicht — auch er schon im Verdacht, allzu „orthodox“ zu werden — in der Hauptsache nur „interpre­tieren“ wollen? Aber wer lieft heute Schleiermacher oder gar Bie­dermann? wo es doch so nötig wäre, sich klar zu machen, was Alles mutato nomine längst dagewesen ist? Aber lassen wir das!

V.

Die erste Hauptfrage in diesem Zusammenhang muß lauten: Warum und inwiefern sind jene Elemente der neutestamentli­chen Botschaft, d. h. jene besonderen Ausdrücke des in ihr Gemein­ten, interpretationsbedürftig? Sie sind es — hier greift Bultmanns kritischer Haupt­begriff ein — weil sie, dem Denken und der Sprache der historischen Umgebung des Neuen Testamen­tes entsprechend, mythologische Ausdrucksformen des in Wahr­heit Gesagten sind. Mythus, mythologische Rede, liegt nach Bult­mann überall da vor, wo göttliches als menschlich, Unweltliches als weltlich, Jenseitiges als diesseitig, Nichtgegenständliches als gegenständlich vorgestellt, bezeichnet und beschrieben wird. Der My­thus redet in dieser Form von der Macht oder den Mächten, die der Mensch als Grund und Grenze seiner Welt und seines eigenen Handelns und Erleidens zu erfahren meint. Er ist in dieser Form eine Aussprache des Selbstverständnisses des Menschen. Eine Aus­sprache eines bestimmten menschlichen Selbstverständnisses in die­ser, der mythologischen, Form, ist nun (im Blick auf alle jene Aus­druckselemente gesagt) auch die neutestamentliche Botschaft in ihrer uns in den Texten vorliegenden historischen Gestalt. Eben darum muß das Neue Testament interpretiert, müssen seine Aussagen jener Transformation unterzogen werden, was nach der negativen Seite bedeutet: sie müssen entmythologisiert, d. h. jener Form entnommen werden, um dann in eine andere ge­gossen zu werden. Sie können entmythologisiert werden, weil ihre mythologische Form eben nur ihre höchstens historisch notwendige, gar nicht spezifisch christliche, von der Botschaft als der Aussprache des spezifisch christlichen Selbstverständnisses sehr wohl ablösbare Form ist. Und sie müssen entmythologisiert werden. An ihrer mythologischen Form sind sie nämlich als Ausdruck des mit ihnen Gemeinten und Gesagten unverständlich. Warum? Das mythische Welt- und Menschenbild ist mit seiner Zeit für uns dahin. Uns drängt sich ein anderes, das moderne, uns drängt sich die Notwen­digkeit, von seinen Voraussetzungen her zu denken, unwiderstehlich auf. Es wäre sinnlos und unmöglich, wenn die christliche Verkündi­gung dem Menschen von heute zumuten wollte, jenes Weltbild bezw. die diesem Weltbild entsprechende, für ihn nun einmal „er­ledigten“ Züge der neutestamentlichen Darstellung des Heilsge­schehens für wahr zu halten. Der Entschluß, das zu tun — zu einem sacrificium intellectus also — wäre nicht nur ein unausführbarer, sondern als Erniedrigung des Glaubens zu einem (noch dazu un­aufrichtigen, unwahrhaftigen!) Werk, wie man seit W. Herr­mann wissen sollte, unsittlicher Entschluß. Es wäre durchaus nicht das echte Aergernis, das ihm mit dieser Zumutung geboten, nicht die echte Entscheidung zwischen Glauben und Unglauben, in die er durch sie gestellt würde. Diese Zumutung hat somit zu unterbleiben. Das bedeutet, daß die Aufgabe des Auslegers (die sich aber auch der Dogmatiker und Prediger zu eigen zu machen hat) zunächst (negativ) darin besteht, die spätjüdisch-gnostisch bestimmte Vorstellungsgestalt der in den Texten erkennbaren neutestamentlichen Botschaft als solche festzustellen, sie als für dessen Verständnis be­langlos beiseite zu schieben und so für die Herausstellung ihres Sachgehaltes Raum zu schaffen — insofern also : diese Texte — conditio sine qua non ihrer Verständlichkeit für uns — zu entmythologisieren. Bultmann hält sich für zu dieser Operation umso legitimierter, als er im Neuen Testament selbst nicht nur offene Widersprüche zwischen den verschiedenen mythologischen Vorstel­lungsgestalten, sondern auch — bei Paulus in seinem Verhältnis zu den Synoptikern und dann vor allem bei Johannes — einen in der Richtung einer Entmythologisierung verlaufenden Interpretationsprozeß in Gang zu sehen meint. Dies also ist es, dessen die neutestamentliche Botschaft in ihrer historischen Gestalt nach Bult­mann im Blick auf jene besonderen Elemente bedürftig — und dies ist es, was ihr in seiner positiven Darstellung implizit widerfahren ist.

Ich höre und staune, möchte folgen und kann es nicht. Ich frage vorweg: Kann man irgend einen Text aus alter oder neuer Zeit verstehen, wenn man — statt seiner Selbsterschließung offen entgegenzusehen und geduldig zu folgen — mit einer Vorentscheidung über das Maß und die Grenzen seiner Verständlichkeit oder Unverständlichkeit schon an ihn herantritt? Wenn man an Hand irgend eines Kanons schon vorher zu wissen meint, in welchen Ele­menten seiner Aussagen er dem Leser unverständlich bleiben, welche Ele­mente seiner Aussagen also als Vorstellungsgestalt von seinem Sachgehalt unterschieden werden müßten, also nur in einem über­tragenen Sinn zur Kenntnis genommen werden dürften und nur in diesem übertragenen Sinn gehört werden könnten? Darf, wenn man irgend einen Text verstehen will, der Kanon des Verstehens und das entsprechende Müssen, Dürfen und Können anders denn als vorläufige Arbeitshypothese aus dem Text selber u. zw. aus dessen Geist, Inhalt und Skopus sich ergeben? Verstopft man seinem Text nicht zum vornherein den Mund, wenn man ihm mit einem ihm selbst (seinen Geist, Inhalt und Skopus) fremden Kanon der Ver­ständlichkeit, bezw. Unverständlichkeit bewaffnet, entgegentritt und also, schon bevor man ihn gelesen hat, zu wissen meint, inwiefern man es in ihm nicht mit seinem Sachgehalt, sondern nur mit sei­nem historischen Vorstellungsgehalt zu tun haben werde? Und wenn dann dieser fremde Kanon sogar, statt als vorläufige Arbeitshypo­these, als infallibler Maßstab solcher Unterscheidung gelten und in Anwendung gebracht werden soll? Ist nun der Bultmanns Herme­neutik höchst infallibel beherrschende Maßstab, sein Begriff des „Mythus“, nicht ein den neutestamentlichen Texten höchst fremder Kanon? Mag er unserer modernen Bildungswelt so geläufig sein, wie Bultmann angibt, oder nicht — wie aber kommt man dazu, gerade mit seiner Anwendung darüber zu verfügen, was in den neutestamentlichen Texten nur Vorstellung und nicht Sache ist? Wem ist der Exeget nun eigentlich zuerst und vor allem Aufrich­tigkeit und Wahrhaftigkeit schuldig, wem gegenüber verantwort­lich: seinen und seiner Zeitgenossen Denkvoraussetzungen, einem von diesen her gebildeten Kanon des Verstehens — oder den zu verstehenden Aussagen seines Textes, dem Kanon, der sich von des­sen Geist, Inhalt und Skopus (nicht als starre, sondern als beweg­liche Regel weiterer und weiterer Nachforschung) ergeben will?

Ich frage unter einem anderen Gesichtspunkt weiter: wie kommt man dazu, nun gerade ein solches Denken und Reden als „mytho­logisch“ und für uns Heutige durchaus unbrauchbar zu diskrimi­nieren, in welchem Göttliches als menschlich, Unweltliches als welt­lich, Jenseitiges als diesseitig, Nichtgegenständliches als gegen­ständlich vorgestellt, bezeichnet und beschrieben wird? Ist dieser Be­griff nicht zu formal, um das zu decken, was wir aus der (etwa in­dischen, babylonischen, aegyptischen, germanischen usf.) Geschichte oder in der Gegenwart (Mythus des 20. Jahrhunderts, marxi­stischer Mythus, Mythus vom christlichen Abendland usf.) unter diesem Namen kennen? War und ist der wirkliche Mythus nicht immer eine in Form einer Erzählung übermenschlichen Charak­ters, einer „Göttergeschichte“ gekleidete Darstellung irgendwelcher allgemeiner Verhältnisse und Beziehungen innerhalb des natür­lich-geschichtlichen Kosmos? Der Streit um das Wort ist nicht un­wichtig. würde nämlich Bultmann statt mit jenem formalen mit diesem oder einem ähnlichen inhaltlichen Begriff des Mythus arbeiten, so könnte er zwar immer noch von allerlei im Neuen Testament beiläufig aufgenommenen und gebrauchten mythologi­schen Anschauungs- und Begriffsmaterial reden, es würde ihm aber dann im Blick auf den Anhalt der neutestamentlichen Botschaft schwer oder unmöglich sein, deren Form als „mythologisch“ zu be­zeichnen und unter diesem Titel durchaus abbauen und durch eine andere, vermeintlich sachgemäßere und heute vermeintlich verständlichere ersetzen zu wollen, wo dächten denn die neutesta­mentlichen Autoren — mag man die Bestimmtheit ihres Anschauungs- und Sprachmaterials durch das ihrer Umwelt noch so hoch veranschlagen — daran, das was sie zu sagen haben, in Form der Proklamation einer als Göttergeschichte eingekleideten Darstellung allgemeiner kosmischer Beziehungen vorzu­bringen? Sind solche Proklamationen nicht vielmehr gerade der Gegner, dem sie sich mit dem, was sie zu sagen haben, entgegen werfen? Könnte „Entmythologisierung des Neuen Testamentes“ ein irgendwie sinnvolles Unternehmen sein, wenn Bultmann nicht jenen seltsam formalen Mythusbegriff zum Kanon gewählt hätte, mit Hilfe dessen er die Form und die Sache in den neutestamentlichen Aussagen auseinan­derhalten will? Ich verstehe nicht. Welche himmlische oder irdische Stimme kann ihn veranlaßt haben — statt sich, wenn das denn sein mußte, schlicht gegen das zu wenden, was man früher den biblischen „Supranaturalismus“ nannte — zur Bezeichnung jener problematischen Elemente gerade diesen (wie mir vorkommt, auch selt­sam primitiven) Mythusbegriff zu wählen?

Da er ihn nun aber einmal gewählt hat, bleibt nur übrig, die entscheidende theologische Frage zu stellen: Kann das neutesta­mentliche Kerygma da zur Sprache kommen, wo es, nachdem es in Bultmanns Sinn „entmythologisiert“ ist, nicht sagen darf, daß es Gott gefallen hat, sich selber zu erniedrigen und also allerdings weltlich, diesseitig, gegenständlich — horribile dictu: datierbar zu werden? Daß es dem, der im Neuen Testament „Gott“ heißt, wohl gar nicht fremd, sondern höchst eigentümlich ist, das zu kön­nen und zu tun? wenn es dem Kerygma weiter verboten ist, zu bekennen, daß es darin seinen Ursprung hatte, daß die ersten Jün­ger nicht nur die Verlassenheit des Fleisch gewordenen Wortes am Kreuz, sondern auch die Herrlichkeit desselben Fleisch gewor­denen Wortes in seiner Auferstehung von den Toten im Raum und in der Zeit geschaut, mit ihren Augen gesehen, mit ihren Ohren gehört, mit ihren Händen betastet haben? wenn es also nicht aus­sagen darf, daß ihnen dies nicht nur in einer Art Parthenogenese ihres Glaubens, sondern als Offenbarung des auf Golgatha Ge­kreuzigten selber, nicht nur in irgend einem unsichtbaren, überhistorischen, himmlischen, sondern in ihrem eigenen sichtbaren, hi­storischen, irdischen Raum — so menschlich, so weltlich, so dies­seitig, so gegenständlich wie zuvor der Tod Jesu widerfahren ist? Wenn es also verschweigen soll, daß es — gewiß keinen „aufweisbaren“ Glaubensgrund, aber nun doch nicht nur ein Dennoch, sondern auch ein Darum des Glaubens gibt? wenn es verschwei­gen oder gar leugnen soll, daß es im Kreuz und in der Auferste­hung Jesu Christi, in dem ganzen „Christusgeschehen“ um das zu­erst in sich selbst, damals und dort — dann und daraufhin erst auch für uns, jetzt und hier bedeutsame, um das den Glauben und das Kerygma begründende, dann und daraufhin erst im Glauben und im Kerygma gegenwärtige und wirksame Heilsgeschehen geht: um die Errichtung einer Gemeinschaft, die doch immer wieder den konkret geschichtlichen Charakter eines Gegenübers und einer Nachfolge hat? Steht nicht das Alles auf dem Spiel, wenn das Neue Testament in Bultmanns Sinn und nach seiner Anweisung zu „entmythologisieren“ wäre? Denn geht es in allen jenen angeb­lich „mythologischen“ Elementen seiner Botschaft um etwas An­deres als darum, aufzuzeigen, daß wir gerade in dieser unserer menschlichen, weltlichen, diesseitigen gegenständlichen Existenz nicht allein, im Glauben nicht auf unsere Beziehung zu irgend einem fernen und unbekannten Göttlichen, Ueberweltlichen, Jenseitigen, Nichtgegenständlichen angewiesen sind, sondern im Raum unserer Existenz in Jesus Christus, dem dort und damals Gekreuzigten und Auferstandenen, jetzt und hier unseren göttlichen Herrn und menschlichen Bruder in seiner Distanz und in seiner Nähe erkennen und haben dürfen: den auch vor unserem Glauben, auch ohne ihn, auch gegen unseren Unglauben für uns Lebenden, uns Regierenden — den, in welchem uns Gott zuerst geliebt hat? Kann man das an­ders sagen als in der Sprache, die Bultmann „mythologisch“ nennt? Sicher ist — oder täusche ich mich? — daß er eben das in seiner „entmythologisierten“ Sprache faktisch nicht gesagt hat. Tut man dem modernen Menschen (in sich selbst und Anderen!) wohl, wenn man ihm keine (Bultmann’sche!) „Mythologie“ zumutet — um den Preis, daß er dann eben das nicht zu hören bekommt? Ich bin in größter Verlegenheit, möchte Bultmann wirklich nicht verketzern und kann doch nicht leugnen, daß mir aus seinem entmythologisier­ten Neuen Testament ein scharfes Gerüchlein von Doketismus entgegenzusteigen scheint. Hängt es damit zusammen, daß er mit dem so unübersehbar irdisch-geschichtlichen Alten Testament so kum­mervoll wenig — so weit ich sehe: nicht mehr als ernst Schleierma­cher! — anzufangen weiß? Und so wenig auch mit dem synoptischen Jesus, seiner Verkündigung und seinen Taten, seinem weg vom Jordan bis Gethsemane? Ich sehe noch nicht deutlich, wie das Alles ineinandergreift; ich muß aber offen gestehen: wenn Interpreta­tion des Neuen Testamentes „Entmythologisierung“ bedeutet, und wenn „Entmythologisierung“ das bedeutet, was Bultmann unter Voraussetzung seines Mythusbegriffs darunter versteht, dann kann ich das Evangelium des Neuen Testamentes in dieser Interpreta­tion — ich will nicht sagen: gar nicht, aber nur noch in den dunkel­sten Umrissen wiedererkennen.

VI.

Wir wenden uns zur zweiten, hier zu beantwortenden Haupt­frage: Inwiefern ist das Neue Testament hinsichtlich jener proble­matischen Elemente seiner Aussagen interpretationsfähig? Es ist die interessantere Frage nach dem positiven Faktor der Bultmann’schen Hermeneutik: In welcher Transformation sollen jene Elemente in der den neutestamentlichen Texten nötigen Uebersetzung wiedererscheinen? Bultmanns Antwort lautet: rechtschaf­fene Exegese, Dogmatik, Predigt kann und muß sein: existentiale Interpretation des Neuen Testamentes, d. h. eine solche, die es auf die Herausstellung des sich im Neuen Testament in mythologischer Form aussprechenden menschlichen — des spezifisch christlich-menschlichen Selbstverständnisses abgesehen hat. „Existentiale“ Interpre­tation versteht und erklärt die neutestamentlichen Aussagen als „existentielle“ Aussagen[1]. Warum gerade solche existentiale Interpretation? In der Begründung ihrer Möglichkeit und Notwendig­keit koinzidieren nach Bultmann zwei Momente: es geht sowohl in der neutestamentlichen Botschaft als solcher, als auch im Mythus als deren vorstellungsmäßiger Form um die Aussprache mensch­lichen Selbstverständnisses. Wir erinnern uns: in der Bot­schaft selbst um das Selbstverständnis des vermöge des Christus­geschehens im Uebergang von der Verfallenheit zur Eigentlichkeit, bezw. vom Unglauben zum Glauben existierenden Menschen. Aber eben auch im Mythus: um das Selbstverständnis des Menschen hinsichtlich seiner Erfahrung der seine Welt und sein eigenes Handeln bestimmenden Mächte. Ich weiß nicht, ob ich Bultmanns Meinung richtig wiedergebe, wenn ich kombiniere: es besteht zwi­schen der neutestamentlichen Botschaft auf der einen und dem My­thus auf der anderen Seite darin eine strukturelle Affinität, daß in beiden eine Rechenschaftsablage des Menschen über seine eigene Exi­stenz stattfindet, sodaß es nichts als natürlich ist, wenn der im my­thischen Zeitalter lebende christliche Mensch dabei nach den An­schauungen und Begriffen des mythischen Menschen greift. Die Folgerung ist dann zwingend: der Mythus als Form der neutesta­mentlichen Botschaft wie diese selbst und als solche rufen nach an­thropologischer, genauer gesagt: nach existentialer Interpretation. Existentiale, d.h. auf die Selbstauslegung der menschlichen Exi­stenz bezogene, sie nachzeich­nende Anschauung und Begriffe sind die der anderen Sprache, in die die in mythologischer Sprache vollzoge­nen Aussagen des Neuen Testamentes zu übersetzen sind. Mit den zwei gewaltigen Vorteilen: daß dabei (1) das im Neuen Testament selbst eigentlich Gemeinte und Gesagte endlich ans Licht gestellt wird und daß dies (2) so geschieht, daß der heutige, nicht mehr mythologisch, sondern anthropologisch orientierte und denkende Mensch es verstehen kann, daß ihm in der christlichen Verkündi­gung (Exegese, Dogmatik, Predigt) kein unechter Anstoß geboten, daß ihm die Zumutung des sacrilloium intellectus, eines unwahrhaftigen Fürwahrhaltens von Dingen, die er ehrlicher Weise nicht für wahr halten kann, erspart, daß er in die echte Entscheidung zwischen Glauben und Unglauben gestellt wird.

Das Licht, das mit dieser Argumentation auf die Frage der Aus­legung des Neuen Testamentes fällt, ist so blendend, daß man wohl verstehen kann, daß es auf manche theologische Zeitgenos­sen beinahe so gewirkt hat wie das, das den Saulus nach dem „mytholo­gischen“ Bericht der Apostelgeschichte auf der Straße nach Damas­kus erleuchtet und zunächst geblendet haben soll. Welches Zusam­mentreffen wissenschaftlicher und praktischer Anliegen! Welche Antwort auf die Fragen einer durch Nationalsozialismus, Krieg, Zusammenbruch, Gefangenschaft und andere bittere Erfahrungen aller Phraseologie gegenüber gründlich — und der christlichen ge­genüber am gründlichsten — desillusionierten theologischen Jugend, die wohl glauben, die auch „verkündigen“, aber beides in Ehrlich­keit, Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit tun möchte! Welche Verein­fachung und Konzentration der theologischen Aufgabe! Welche Möglichkeit längst fälliger und nun als höchst legitim erwiesener „Sachkritik“ an manchen Bestandteilen des neutestamentlichen Ka­nons (z. B. gerade der Apostelgeschichte!) zugunsten eines umso in­tensiveren Verständnisses der übrigen, der paulinischen und johan­neischen vor allem! Welche Nähe zu den ursprünglichen Konzep­tionen Luthers! Und welche Aussicht, als Theologe endlich seiner Sache ganz treu — ganz neu sogar, treu zu sein und dabei mit bei­den Füßen in der realen Welt von heute zu stehen! Wer das Ge­wicht, das gerade an dieser Stelle für Bultmann — für Bultmann als Existentialisten! — in die Waagschale fällt, nicht würdigt und selbst empfindet, soll sich zu seiner Bestreitung nur ja nicht für be­rufen halten. Mit gläubigen Deklamationen gegen die von der ne­gativen Seite seiner Hermeneutik her stattfindenden „Erledi­gungen“ dieser und jener biblischer und kirchlicher Sätze ist ange­sichts der Stärke dieser ihrer positiven Seite gar nichts getan. Die eigentümlich steinernen Gesichter, die Bultmann und die Seinen solchen Deklamationen, wie Shylock auf ihrem Schein bestehend, entgegenzusetzen pflegen, sind Beweis genug: mir geben sie jeden­falls zu denken.

Dennoch kann es auch mir bei diesen steinernen Gesichtern nicht wohl werden, weil gerade der positive Faktor der Bultmann’schen Hermeneutik auf einer Voraussetzung beruht, deren Unerschütterlichkeit mir nicht über jeden Zweifel erhaben scheint. Wann wurden in der Geschichte der Theologie solche Eier des Kolumbus gefun­den, solche Koinzidenzen entdeckt, solche Vereinfachungen und Kon­zentrationen und dann solche nach allen Seiten triumphale metho­dische Sicherheiten und die entsprechenden steinernen Gesichter möglich und wirklich? Soweit ich sehe, selten dann, wenn die Vor­aussetzung, von der man dabei herkam, eine neue Erschließung des Geistes, des Inhalts, des Skopus des Neuen Testamentes sel­ber war, wohl aber häufig dann, wenn wieder einmal ein neuer, zu dessen Auslegung dienlicher philoso­phischer Schlüssel gefunden und in Gebrauch genommen worden war. Dann und in der Regel nur dann pflegt es in der Theologie zu solchen Lichterscheinungen und Lichtwirkungen zu kommen. Es ist nun kein Geheimnis, daß etwas Derartiges auch bei Bultmann stattgefunden hat, und daß die in seiner Theologie — es steht bei ihm wie in allen solchen Fällen auf des Messers Schneide: ob als ancilla oder als regius? — wirksame Philosophie der Existentialismus des früheren Mar­tin Heidegger ist. Von ihm her tritt er nach dem von ihm ge­wählten Ausdruck mit einem bestimmten „Vorverständnis“ an die Texte des Neuen Testamentes — nicht nur an sie, aber auch an sie — heran. Es ist zunächst ein bestimmtes Verständnis des Be­griffs „Verstehen“ überhaupt, laut dessen es in allem Verstehen so oder so um ein Sichselbstverstehen des Menschen geht. Und es ist sodann konkret ein bestimmtes Verständnis dieses Sichselbstverstehens des Menschen, laut dessen es dabei immer um sein Sichverstehen in jenem Gegensatz von Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit, oder: Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit, oder: Vergangen­heit und Zukunft geht. Um Anthropologie u. zw. um eine so strukturierte Anthropologie geht es also auch im Neuen Testa­ment: Das ist es, was sein Ausleger vorher verstanden haben — das Vorverständnis, mit dem er an das Neue Testament schon herantreten muß. Es liegt auf der Hand, wie es sich in Bultmanns Verständnis der alten, sündigen Existenz des Menschen im Unglau­ben und seiner neuen, eschatologischen Existenz im Glauben auswirkt, wie aber auch seine Lehre vom Christusgeschehen insofern von ihm her be­stimmt ist, als darunter, wie wir sahen, streng nur das in Christus seinen Anfang nehmende und von ihm her benannte Geschehen des Uebergangs von der einen zur anderen jener Be­stimmtheiten der menschlichen Existenz zu verstehen sein soll, als es außerhalb dieses anthropologischen Engpasses keine Gestalt an­nehmen darf. Nur dafür, daß es gerade das Christusgeschehen heißen soll und für seine Bezeichnung als „Tat Gottes“ gibt es — hier versagt das Heidegger’sche Schema, hier redet der Theologe Bultmann selbständig — kein Vorverständnis. Bultmanns ganze positive Darstellung der neutestamentlichen Botschaft steckt somit— mit jener einzigen Ausnahme — im Panzer dieses Vorverständnisses. Eben das macht sie stark, geschlossen, eindrucksvoll. Das bedeutet freilich auch, daß mit Bultmann genau genommen nur der dis­kutieren kann, der sich dieses Vorverständnis und also den Heidegger’schen Existentialismus und wohl auch dessen nicht eben gewöhn­liche und nicht eben leicht zu erlernende Sprache zu eigen zu machen in der Lage ist. Wer dazu nicht in der Lage ist, sagt dauernd Dinge, auf die Bultmann ihm kühl befremdet erwidern wird: „Das ver­stehe ich nicht“.

Eben das verstehe ich meinerseits nicht. Ich sehe nämlich nicht ein, warum ich, um das Neue Testament zu verstehen, zuvor durch­aus gerade in diesen Panzer schlüpfen müßte. Heidegger — auch der frühere Heidegger in seinem anthropologischen Engpaß — in Ehren! Aber daß seine Philosophie von damals — wie man es einst von der des Aristoteles annahm und wie Hegel es seiner eige­nen nachrühmte — geradezu, wie vom Himmel gefallen, die Phi­losophie sei, ist ja weder seine eigene Meinung, noch die Bult­manns. Bleibt also als Grund zu ihrer Kanonisierung nur die Möglichkeit, daß ihr als der Philosophie gerade unserer Zeit eine be­sondere Dignität zukäme. So scheint es Bultmann zu meinen. Und wer wollte bestreiten: sie ist ein gewiß sehr bedeutsamer Ausdruck des Geistes der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts. Ein bischen existentialistisch denken und reden heute wir alle. Es gibt aber auch ganz andere Ausdrücke des heutigen Zeitgeistes. Heidegger selbst scheint in seinen neueren Schriften über die Phase, in der er für Bultmann maßgebend wurde — gerade über den anthropologischen Engpaß — inzwischen hinausgeschritten zu sein. In Amerika ist man im Allgemeinen noch nicht beim Existentialismus angelangt, in Rußland meint man ihn als eine höchst bürgerliche Angelegen­heit längst hinter sich gelassen zu haben. Und ich frage mich ernst­lich, ob es in der übrigen Welt auch nur unter den Gebildeten wirk­lich so viele „moderne Menschen“ gibt, die sich ausgerechnet in ihm und gerade in seiner Heidegger’schen Gestalt besonders adaequat verstanden fühlen, daß sich für die Theologie von daher — an­genommen, es gäbe für sie überhaupt derartige Verpflichtungen! — eine besondere Verbindlichkeit gerade ihm gegenüber ergeben müßte. Ist der Boden dieser Philosophie sachlich und geschichtlich so breit Und so fest, daß man uns — auch nur temporum ratione, auch nur dem heutigen Menschen zuliebe — gerade auf sie festlegen, daß wir prinzipiell (und das auch noch in jener besonderen Mo­difikation!) Existentialisten werden, in einem (vielleicht nach den neuesten Forschungen zu verbessernden) existentialistischen Konzept das obligatorische Vorverständnis zum Verständnis ausgerechnet des Neuen Testamentes zu erblicken hätten? Das Zwingende dieses Anspruchs kann nun eben ich nicht verstehen.

Ich kann es schon darum nicht, weil ich nicht einmal vom My­thus zugeben könnte, daß man ihn durchaus, ausschließlich und gewissermaßen totalitär als Ausdruck eines bestimmten mensch­lichen „Selbstverständnisses“ deuten kann. Wer wollte leugnen, daß er das immer auch ist? Wie kann man aber im Blick auf den Reichtum und die Mannigfaltigkeit seiner aus der Geschichte und in der Gegenwart bekannten Gestalten behaupten, daß er eigentlich und im Letzten gerade das und nur das sei. Hat nicht noch der alte Christian Wolf in Halle weiter und freier gesehen, wenn er das, was man seinen „Mythus des 18. Jahrhunderts“ nennen könnte, den „Liebhabern der Wahrheit“ unter dem Titel: „Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen und allen Dingen überhaupt“ vorgetragen hat? Laut welches Mythus „existierte“ eigentlich nur das menschliche Subjekt, sodaß es dem Mythus angemessen wäre, ihm eine nur existential-anthropologische Interpretation zuzuwenden?

Aber ernster ist auch hier die theologische Frage: was aus der Botschaft des Neuen Testamen­tes werden möchte, wenn man sie durchaus, ausschließlich und totalitär in die Zange der Frage nach dem sich in ihr aussprechenden menschlichen Selbstverständnisses (eines überdies schon vorweg in bestimmtem Sinn interpretierten Selbstverständnisses!) nimmt? Wieder ist es klar: man kann und muß sie auch nach ihrem anthropologischen Gehalt befragen, so ge­wiß sie ja als Botschaft von Jesus Christus ein Geschehen zwischen Gott und dem Menschen zum Inhalt hat, und so gewiß sie in ihrer Form ein menschliches Zeugnis von diesem Geschehen ist. Muß man sie aber nicht verzerren und verkürzen, wenn man diesem Zeug­nis wie vorher unter dem Titel „Entmythologisierung“, so nun unter dem Titel der „existentialen Interpretation“ gerade das ent­zieht — gerade das nur noch in Form der Kommemorierung des Namens Jesu Christi und der in ihm geschehenen „Tat Gottes“ stehen und gelten läßt — was ihm selbst das primäre und Vor­dringlichste ist: das Christusgeschehen als das alles Andere begrün­dende, bedingende, beherrschende Christusgeschehen — um es in das zu transformieren, umzuinterpretieren, was dort das Sekun­däre, nur in seiner Zuordnung zu Jenem wahre und wichtige ist? Bultmann sei geliebt und gelobt dafür, daß er wenigstens an jener einen Stelle (zum Verdruß von F. Buri) aus dem existentialistischen Schema ausgebrochen ist. Er hat sich aber selbst den Einwand gemacht, ob das mit dem Programm der Entmythologisierung vereinbar sein möch­te, und ich sehe nicht, daß er ihn befriedigend beantwortet hätte. Sicher ist, daß er es uns mit dem, was er der neutestamentlichen Botschaft auch im Namen des Existentialismus angetan hat, trotz jener anerkennenswerten Inkonsequenz, wenn nicht unmöglich, so doch sehr schwer gemacht hat, sie in seiner Dar­stellung wiederzuerkennen. Man kann sie ja auch in den Liedern und Meditationen etwa eines Gerhard Tersteegen oder in der Biedermann’schen Dogmatik, man kann sie auch in der römischen Messe bei gutem willen zur Not wiedererkennen. Ich weiß nicht, wievielen heutigen Menschen Bultmann und seine Schüler mit ihrer existentialen Interpretation zum Verständnis — re critica bene gesta im Resultat zu einem freudigen Verständnis — des Evange­liums geholfen haben. Ich frage nicht danach und will gerne das Beste hoffen, wie ich für meine Person mich durch das so inter­pretierte Kerygma zur Theologie, zur Predigt oder auch nur zum Glauben gerufen finden würde, stelle ich mir freilich nur mühsam vor. Und für mich hängt das zusammen mit der großen Eigen­mächtigkeit dieser Interpretation, bezw. mit dem, was in ihr an ihrem Text gemessen, nach meinem Verständnis zu kurz kommt.

VII.

Und nun trete ich, bevor ich eine zusammenfassende sachliche Schlußfrage stelle, einen Augenblick zurück, um das Phänomen „Rudolf Bultmann“, als Ganzes auf mich wirken zu lassen und mich zu fragen, was ich von diesem Ganzen halten soll? Es ging mir nämlich im vergangenen Jahrzehnt immer wieder so, daß ich nicht wußte, in welche geschichtliche Kategorie ich ihn, um ihn zu ver­stehen, nun eigentlich einzureihen habe. Daß dies auch für einen alten Nachbarn wie mich bei ihm so schwierig ist, zeugt gewiß von der „Bedeutsam­keit“ des Mannes und seines Unternehmens. Und es wäre gewiß auch Anderen, die leichter mit ihm „fertig“ wurden, gut gewesen, wenn sie sich dieser Schwierigkeit bewußter geworden wären, wohin gehört Bultmann eigentlich? Ich will die Versuche, die auch ich zur Beantwortung dieser Frage im Lauf der Zeit ge­macht habe, hier offen vorlegen.

1. Er hat es weithin sich selbst zuzuschreiben, wenn nicht wenige das Pathos seines Unterneh­mens als das des Kampfes für ein mo­dernes gegen „das“ antike, das mythologische Weltbild, bezw. dessen Ueberleben in Kirche, Theologie und Predigt verstanden haben. Ein Rationalist mit dem spezifischen, grimmigen Marburger Af­fekt der „Wahrhaftigkeit“! Ein neuer D. Fr. Strauß! Ein Artgenosse der Berner Eiferer für die alleinseligmachende Wahrheit von der ausgebliebenen Parusie! „Verschwinde doch, wir haben ja aufge­klärt!“ Benützen wir doch das elektrische Licht und den Radioapparat: wie sollten wir da an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testamentes glauben? Das geht eben nicht zusammen! Man kann diesen in einer gewissen Kälte vibrierenden Ton bei Bultmann oft genug hören. F. Buri hat ihn munter von da aus gedeutet und dann nur beanstandet, daß es ihm an der letzten Konsequenz in der Ausführung dieser Tempelreinigung fehle. So ist er aber natür­lich auch von der entgegengesetzten Seite gedeutet worden. Der erste Teil jenes berühmten Vortrags läßt die, die das getan haben, als einigermaßen entschuldigt erscheinen. Man lese nach, was Alles Bultmann dort, für den modernen Menschen sprechend, nicht „ver­stehen“ zu können und also für „erledigt“ erklärt! Kann Bultmann sich wundern, wenn das vielen so in den Ohren gegellt hat, daß sie eifernd oder betrübt gar nicht erst weiterlesen mochten? Und eben: warum wählt er für sein Ganzes den Begriff „Entmythologisierung“, der ja, wie wir gesehen haben, doch nur den einen nega­tiven Teil seines Unternehmens deckt? Dennoch: dieses Verständnis ist sicher ein Mißverständnis. Die Entmythologisierung im engeren Sinn des Begriffs hat bei Bultmann große aber doch nur akzessorische Bedeutung. Sie soll nur freien Raum schaffen für die ihm am Herzen liegende „existentiale Interpretation“! Das moderne Weltbild, bezw. das moderne Denken — es ist nach guter Marburger Tradition mehr seine Methode als sein Resultat, woran Bultmann interessiert ist — ist ihm nur darum maßgeblich, kano­nisch, weil es nun einmal das heutige, das unsrige und also eine un­veräußerliche Komponente unseres Selbstverständnisses ist. Die alten Rationalisten, nach D. Fr. Strauß, glaubten an ein moder­nes Weltbild. Das tun wohl vermutlich auch die Berner. Bult­mann tut das nicht. Er weiß um seine Relativität. Es hat für ihn nur de facto Autorität, nicht de iure. So meine ich ihn jedenfalls verstehen zu müssen, wobei ich freilich wünschen möchte, daß er es, um alle Zweifel zu zerstreuen, einmal so oder ähnlich klar gesagt hätte.

2. Oder sollte er als ein Apologet — natürlich im Sinn und For­mat Schleiermachers und dann erst noch ganz eigener Art — anzusprechen sein? Geht es ihm einfach um die Echtheit der christlichen Verkündigung in der Gegenwart: darum nämlich (mehr wollte ja Schleiermacher auch nicht), die biblische Exegese, die Theologie überhaupt und besonders die kirchliche Predigt für die „Gebildeten unter ihren Verächtern“ wenigstens verhandlungsfähig, diskutabel, interessant zu machen? Es ist von mehr als einer Seite bemerkt worden, daß gerade in jenem Vortrag ein seelsorgerliches Bemühen um den elektrifizierten und atomisierenden Menschen von heute nicht zu verkennen sei: um den Menschen, der das Evangelium ohne Entmythologisierung und existentiale Interpretation nun einmal nicht verstehen, geschweige denn als glaubwürdig erkennen, ge­schweige denn ihm Glauben — oder auch nur echten Unglauben! — entgegenbringen könne. Man entferne, bezw. sublimiere den Mythus und rede heideggerisch mit ihm, so wird das anders werden! Bultmann und seine Schüler pflegen in die Höhe zu fah­ren, wenn man im Blick auf ihn das Wort „Apologet“ in den Mund nimmt. Aber, bitte, so interessiert an dem Verhältnis des heutigen Menschen zum Evangelium (oder umgekehrt) könnte er doch nicht sein, wenn nicht etwas dran wäre. Und ich sehe auch gar nicht ein, warum das Wort notwendig ein Schimpfwort sein sollte. In irgend einem Sinn sind wohl alle Theologen aller Zeiten auch Apologeten gewesen und mußten sie es auch sein. Es ist aber klar, daß man dabei nur einen Aspekt seines Unternehmens und nun doch wohl nicht seine ihm selbst wichtigste Tendenz, sondern nur ein allerdings bemerkenswertes Nebenprodukt seiner Arbeit gesehen und erfaßt hat.

3. Oder ist er eben schlicht als ein in seiner Weise einmaliger Historiker im Sinn der großen Tradition des 19. Jahrhunderts zu verstehen? Als ein Gelehrter, der das Neue Testament unbe­fangen und voraussetzungslos im Zusammenhang der spätantiken Geistes-, Kultur- und Reli­gionsgeschichte studieren wollte und dabei zu dem Ergebnis gekommen ist, daß die synoptische Form des Kerygmas nur eine Form von dessen eigentlicher, in den durch Johan­nes zu interpretierenden Paulusbriefen erkennbaren Gestalt ist? Der dabei gefunden — einfach als unvoreingenommener Exeget gefunden! — hat, daß sein Charakter als Verkündigung eines be­stimmten menschlichen Selbstverständnisses evident ist, daß von hier aus die existentialistische und entmythologisierende Auslegung des Ganzen rein historisch-wissenschaftlich die der Sache angemessene Aufgabe ist? Kann und muß man ihn — etwa im Blick auf sein Buch über die synoptische Tradition oder auf sein letztes über das Urchristentum nicht auch ganz und gar von da aus und so deu­ten? Passiert in diesen Büchern, aber doch auch in seinem Johan­neskommentar und in seiner neutestamentlichen Theologie nicht so viel rein Material wichtige und interessante Forschung und Darstellung, daß man — wie manchen seiner speziellen Fachge­nossen mag es so gegangen sein! — über seinen Existentialismus (auf den als solchen sich bewußt einzulassen ja nicht jedes „Histo­rikers“ Sache sein kann) und über den besonderen Sinn seiner Entmythologisierung zur Not auch weithin hinweglesen kann? Ich halte das mindestens für möglich. Es ist bei ihm leider auch das möglich, daß man sich durch den von ihm weithin übernommenen hohen Historikerton seiner fachwissenschaftlichen Lehrer und Vor­gänger aus der Zeit zwischen 1890 und 1910 verärgern und ab­schrecken läßt. Es braucht aber doch einen nicht ganz kleinen blinden Fleck im Auge, um bei dieser Deutung stehen zu bleiben. Es lebt ein geistiges — um nicht zu sagen „geistliches“ — ein in seiner Ein­seitigkeit leise sektiererisch anmutendes, aber jedenfalls kräftig „re­ligiöses“ Pathos in Bultmanns Schrifttum, das mit reiner Histo­rik, mit der Frage: wie es damals eigentlich gewesen ist? nichts zu tun hat. Schon seine Konzeption vom Kerygma, schon die Tatsache, daß er die Aufgaben von Exegese, Dogmatik und Predigt als iden­tisch bezeichnen kann, sollte hier warnen. Ich wollte den reinen Hi­storiker sehen, der ihm das — und mit dem Nachdruck, mit dem er es sagt! — nachsagt. Und wenn etwa Bultmanns historisch-philo­logisch argumentierende Textkritik des Johannesevangeliums zu dem Ergebnis führt, daß eben der aus den fremden Zutaten heraus­geschälte „echte“ Johannestext selber schon auf dem Weg der Ent­mythologisierung und existentialen Interpretation älterer Tradi­tion entstanden ist und also nur in Fortsetzung dieser Operation richtig exegesiert werden kann und also als mächtigster testis veritatis für seine eigene Hermeneutik und Theologie in Anspruch zu nehmen ist — so muß man entweder eine hier zufällig wunderbar aufleuchtende praestabilierte Harmonie bewundern, oder aber die Kunst eines sehr willenskräftigen systematischen Historikers. So wird man sich auch bei dieser Deutung, so nahe sie liegt, doch nur teilweise und vorübergehend beruhigen können.

4. Oder — wir vollzögen damit eine Wendung von 180 Gra­den — ist das Geheimnis der Bultmann’schen Theologie der in ihr wirksame Enthusiasmus eines neuen philosophischen Heu­reka? Es wurde ja schon angedeutet, daß es immer große Stun­den in der Geschichte der Theologie waren, wenn es wieder einmal zu einem solchen Heureka kam. Sollte dies die Größe auch der Stunde Bultmanns sein? Es wäre dann so, daß man in seiner Be­gegnung mit Heidegger den Tag seiner subita conversio zu erblicken hätte. Des Positivismus, Idealismus und Romantizismus unserer Väter müde, hätte er in der Existentialphilosophie den — jedenfalls für unsere Zeit — passenden und unentbehrlichen Schlüs­sel für jegliche und so auch für die neutestamentliche Ontologie, An­thropologie, Kosmologie, Theologie, Soteriologie, Eschatologie gefunden und wäre nun — auch die Entmythologisierung wäre dann nur eine Nebenerscheinung dieser Bemühung — konsequent damit beschäftigt, seinen, den neutestamentlichen Text, nun eben in die Sprache dieser Philosophie zu übersetzen. Es wäre dann sein Werk doch nur die neue, eine neue Gestalt eines in der Theologie mit mehr oder weniger Schwung und Nachdruck semper, ubique et ab omnibus betriebenen Unternehmens. Ist er von Vielen in die­sem Sinn verstanden (begrüßt oder getadelt) worden, so hat er auch das zu einem nicht geringen Teil sich selbst zuzuschreiben. Der Ein­druck, daß man sich bei ihm in die Zwangsjacke einer durchaus nicht allgemein bekannten und anerkannten Begrifflichkeit und Sprache stecken lassen, gewissermaßen zuerst Chinesisch lernen müsse, um dann und so erst würdig zu sein, an seiner Hand zum wahren Pau­lus und Johannes vorzudringen, ist nicht ganz unbegründet. Er braucht übrigens nicht zum vornherein gegen ihn zu sprechen. Augustin hat neuplatonisch, Thomas hat aristotelisch, Ferd. Chr. Baur und Biedermann haben hegelianisch geredet wie jetzt Bultmann heideggerisch. Der Impetus und die Energie von Bultmanns Phi­losophieren erinnert zweifellos an diese großen Vorbilder. „Phi­losophische Brocken“ schwimmen in der theologischen Sprache von uns Allen. Aber die Bindung an den Existentialismus hat bei Bult­mann prinzipielle Bedeutung. Und das ist es, was seine Theo­logie auszeichnet und in dieser Hinsicht problematisch macht, wie­derum wäre es aber unbillig, wenn man seinen Protest nicht hören wollte, daß der Existentialismus für ihn nur als die derzeit beste philosophische Möglichkeit diese Bedeutung habe und daß der Ge­brauch, den er von ihm mache, nur ein instrumentaler sei. Ob man sich einem philosophischen Instrument so verschreiben kann wie er es tut, ohne daß es aus einem Instrument zu etwas ganz An­derem wird, ist eine Frage für sich. Ein Instrument, das zufällig ein Schlüssel zu allen (oder fast allen) Schlössern ist, ist eben ein sehr merkwürdiges Instrument. Man wird dennoch auf keinen Fall sagen dürfen, daß Bultmann Philosoph und nicht (in seiner Weise) Theologe sei. Daß eine bestimmte Gestalt der Existentialphilo­sophie mit der wahren Theologie sachlich identisch sei, ist wieder ein Satz von F. Buri, nicht von Bultmann!

5. Ich wage Beträchtliches und meine damit der Lösung des Rätsels doch noch relativ am nächsten zu kommen, wenn ich die Frage riskiere: ob Bultmann nicht einfach als — Luthe­raner (Lutheraner sui generis natürlich) anzusprechen ist? Ich fühle mich dazu immerhin ermächtigt durch „Ein Wort lutherischer Theolo­gie“, das unter dem Titel „Zur Entmythologisierung“ (1952) von einem Kreis bayerischer Theologen herausgegeben worden ist und in welchem besonders der Beitrag meines Freundes Georg Merz trotz alles Widerspruchs, mit dem auch er Bultmann gegenüber, steht, deutlich diese Linie zieht. Das Erbe Luthers ist nun einmal sehr mannigfaltig. Auf eine gewisse Beziehung zwischen Bultmanns Unternehmen und dem des jungen Melanchthon in der Urfassung seiner Loci wurde bereits hingewiesen. Sie ist in einem Seminar, das ich über dieses Buch hielt, von meinen Studenten schon in den ersten Sitzungen spontan und mit kaum unterdrücktem Jubel festgestellt worden. Bewegt sich nicht schon diese erste protestantische Dogmatik in bewußter Ausschließlichkeit in dem anthropologischen Dreieck zwischen dem (naturrechtlich) gedeuteten Gesetz, der menschlichen Sünde und der dem Menschen widerfahrenden Gnade? Liest man nicht schon dort, daß die Briefe des Paulus als der Kanon im Kanon zu betrachten und zu behandeln seien? Lernt man nicht schon dort, daß die „Geheimnisse“ der Trinität, der Inkarnation usf. zwar „anzubeten“, aber nicht unter die loci communes zu rechnen, d. h. theologisch nicht weiter zu entfalten seien? Und daß die historia des Neuen Testamentes eben nur die historia sei? Ist das Alles nicht so etwas wie eine „kalte“ Entmythologisierung des Neuen Te­stamentes? Und ist der junge Melanch­thon etwa nicht ein leidlich ge­treuer Schüler des jungen Luther gewesen? Ich warte schon lange auf eine Untersuchung und Darstellung der Eigenständigkeit, Bedeutung und Funktion der Christologie im Denken des jungen Luther: in ihrem Verhältnis zu der ihn so übermächtig beschäfti­genden Frage nach dem rechten Ergreifen des Heils durch den Menschen nämlich! Daß die Sache beim späteren Luther wie beim spä­teren Melanchthon im Zusammenhang mit ihrer Auseinanderset­zung mit den Schwärmern und mit dem Abendmahlsstreit noch ein anderes Gesicht gewonnen hat, weiß ich. Aber war und blieb nicht die Frage nach der applicatio salutis (Gesetz und Evangelium usf.) und also nach der Gerechtigkeit des Glaubens die eigent­liche Frage Luthers und dann auch des Luthertums? Gibt es nicht noch in der letzten Fassung von Luthers Galaterbriefkommentar Stellen, in denen die Christologie in der Soterio­logie nahezu aufzugehen scheint: Stellen, auf die sich Bultmann zugunsten seiner existentialen Methode merkwürdig gut berufen könnte? Könnte er sich bei seiner betonten Trennung zwischen dem „Fleisch“ und der „Herr­lichkeit“ Christi nicht auf Luthers theologia crucis beziehen? Müßte er sich mit seiner auffallend individualistisch orientierten Ethik nicht auch in der — sagen wir: vulgär-lutherischen — Lehre von den beiden Reichen verhältnismäßig leicht wiedererkennen, und von daher z. B. in den heute für Deutschland wichtigen praktisch-poli­tischen Entscheidungen in nicht allzu großer Ferne von der Haltung der lutherischen Bischöfe zu suchen sein? wie wohl Bultmanns Lehre von Kirche und Staat, wenn er uns eine solche schenken sollte, aussehen würde? Ich frage das Alles — mein Respekt vor Luther und dem Luthertum ist viel zu groß — nicht um Bultmann zu verdächtigen, sondern um ihn aufs Bestmögliche zu verstehen. Ist sein von ihm gern angerufener theologischer Lehrer nicht Wilh. Herrmann gewesen? Kann man ihm gerecht werden, wenn man nicht sieht, daß er die für ihn charakteristische Verein­fachung, Konzen­tration und Ethisierung — die Anthropologisierung der christlichen Botschaft und des christlichen Glaubens, aber auch seinen heiligen Respekt vor der „profanen“ Eigengesetzlich­keit der Welt und ihrer Wissenschaft, aber auch seinen Abscheu vor der Werkgerechtigkeit eines Fürwahrhaltens von Dingen, die man eigentlich nicht für wahr halten kann, bei Herrmann lernen konnte und wahrscheinlich gelernt hat, lange bevor er sich Heideggers Methode und Begriffe aneignete? Kann man wiederum leugnen, daß Herrmann gerade in diesen für Bultmann bestimmend gewor­denen Elementen seiner Theologie — mag es denn auf einer sehr schmalen Linie geschehen sein — ein echter Fortsetzer echter luthe­rischer Tradition gewesen ist? Und hinter w. Herrmann stehen bekanntlich der Herzenstheologe A. Tholuck auf der einen, der ledertrockene A. Ritschl auf der anderen Seite. Waren diese gar keine — waren sie nicht irgendwo auch gute Lutheraner? Und ist nicht endlich der dänische Lutheraner Kierkegaard der Vater doch auch des philosophischen Existentialismus? Darf man nicht fragen: ob das Unternehmen Bultmanns anderswo als eben auf dem Boden des Luthertums überhaupt möglich geworden wäre — und verständlich sein kann? Gewiß ist auch diese Deutung von ferne nicht erschöpfend. Immerhin: wer nach Bultmann schlägt, der sehe wohl zu, daß er nicht zufällig Luther treffe, der in ihm auch „irgendwie“ auf dem Plan ist!

VIII.

Wir kehren noch einmal zur Sache zurück. Meine Fragen beim Versuch, Bultmann zu verstehen, drängen sich schließlich gerade auf den einen Punkt zusammen, in welchem wir alle uns von ihm selbst am Dringlichsten gefragt finden: was heißt Verstehen des Neuen Testamentes im Besonderen? Und: was heißt Verstehen überhaupt und im allgemeinen? (Ich weiß, was ich will, wenn ich die Fragen in dieser Reihenfolge stelle!)

Meine Frage zum Verstehen des Neuen Testamentes: Gibt es ein echtes Verstehen seiner Texte unter Voraussetzung einer als normativ festgelegten, unbeweglichen Vorstellung, eines „gegossenen Bildes“ von dem, was der Leser für möglich, richtig und wichtig halten und also verstehen „kann“: unter Vorausset­zung eines kanonisierten „Vorverständnisses“? Wo es doch im Ver­stehen des neutestamentlichen Kerygmas um das glaubende Ver­stehen des in ihm bezeugten Wortes Gottes geht! Wo doch dieses Wort Gottes dem Menschen, wenn überhaupt, dann nur als die ihm von Grund aus und immer aufs neue fremde, seinem ganzen Verstehenkönnen zuwider laufende und gerade so sich ihm zu eigen gebende Wahrheit und Wirklichkeit begegnen und „einleuchten“ kann? Glaube ich nicht „aus eigener Vernunft noch Kraft“, wie soll ich dann verstehen „können“? Was heißt „Können“, wo es um dieses, das dem „Einleuchten“ des Heiligen Geistes folgende Verstehen geht? Es wird dafür gesorgt sein, daß dieses der Wahr­heit von oben „folgende“ Verstehen praktisch-faktisch seine sehr engen Grenzen haben, daß es immer wieder ein tief ungenügendes, ja scheiterndes Verstehen sein wird. Aber kann es wohl getan sein, über diese Grenzen von uns aus Bescheid wissen, uns dem Worte Gottes gegenüber hinter die vermeintlichen Grenzen unseres Verstehenkönnens gewissermaßen verbarrikadieren zu wollen? Natür­lich operieren wir alle dem Neuen Testament gegenüber mit irgendwelchen „Vorverständnissen“ und also Bildern, d. h. mit mitge­brachten Inbegriffen dessen, was wir für möglich, richtig und wich­tig halten zu müssen, was wir also verstehen zu „können“ meinen. Natürlich wird, wenn wir das Neue Testament verstehen wollen, unsere erste Regung immer die sein, uns dem uns in ihm begegnen­den Fremden gegenüber zugunsten unserer „Vorverständnisse“, un­serer Bilder, zur wehr zu setzen, oder positiv: jenes Fremde den Schranken unserer „Vorverständnisse“, unserer Bilder anzupassen, es gewissermaßen einer „Eingemeindung“ oder „Domestizierung“ zu unterziehen. Darf es aber geschehen, daß dieser Widerstand oder diese Nostrifizierung geradezu zum Prinzip und zur Methode erhoben wird, daß wir jenem Fremden in Form eines normati­ven „Vorverständnisses“ ein absolutes „Bis hieher und nicht weiter!“, ein Gottesbild entgegenstellen? Was soll hier das mo­derne Weltbild und wenn es uns noch so tief in den Knochen säße, ja wenn wir uns ihm sittlich noch so tief verpflichtet wüßten? Und was soll hier der Anthropologismus und Existentialismus, auch wenn wir noch so gründlich überzeugt wären, daß wir ihn für uns verbindlich halten müßten? Was sollte hier der Idealismus, Posi­tivismus usf. unserer Väter? Was sollte hier — was ja Anderen ebenso in den Sinn kommen konnte und auch schon in den Sinn ge­kommen ist: der Marxismus oder irgend ein Nationalismus? Wo­her nehmen wir denn die Zuständigkeit, von solchen „Weltelemen­ten“ her mit Gottes Wort und Geist darüber rechten zu wollen, ob und inwiefern wir das Neue Testament verstehen und nicht ver­stehen „können“? Wird man sein Zeugnis überhaupt hören können, nachdem man eine solche conditio sine qua non zwischen sich und diesen Text hineingeschoben hat? Hört man es dann überhaupt als „Keryg­ma“? Sind dann nicht mindestens alle möglichen Unglücks­fälle bei seiner Auslegung beinahe unvermeidlich? Wäre es, statt sich ihm gegenüber in einen solchen Panzer zu stecken, nicht besser, sich ihm gegenüber gerade größtmöglicher Lockerheit und Offen­heit zu befleißigen und abzuwarten, ob und inwiefern man es dann praktisch-faktisch verstehen (und also ver­stehen „kön­nen“), oder aber nicht verstehen (und also nicht verstehen „können“) wird- Statt das, was man für sein eigenes Verstehenkönnen hält, zum Katalysator des neutestamentlichen Textes zu er­heben, den neutestamentlichen Text als Katalysator seines eigenen Verstehenkönnens wirken zu lassen? Statt den Text im Rahmen seines vermeintlich maßgebenden Selbstverständnisses verstehen zu wollen, sich selbst so zu verstehen, wie man sich im Text verstan­den findet, um dann in diesem Selbstverständnis sicher auch den Text immer besser zu verstehen? Auf die Gefahr hin, daß man dabei auf weite Strecken (in Bultmanns Sinn) „mythologisch“ denken und reden müssen wird! Ist, wo es um das Verstehen des Neuen Testamentes geht, von den zwei „Gefahren“: gewisse Dinge nur entweder gar nicht bezw. entstellt oder (in Bultmanns Sinn) „mythologisierend“ nachzudenken und auszusprechen, die erste nicht die unverhältnismäßig größere, die unter allen Umstän­den zu vermeidende? Es war nun doch der junge Melanchthon, der alles das, was hier zu fragen ist, positiv so formuliert hat: Unus est ut simplicissimus, ita certissimus doctor: Divinus Spiritus, qui sese et proxime et simplicissime in sacris literis expressit, in quas ubi animus tuus veluti transformatus fuerit, tum demum absolute, simpliciter, exacte … comprehendes [Es gibt einen Lehrer, der ebenso der einfachste wie auch der gewisseste ist: der göttliche Geist, der sich selbst sowohl unmittelbar als auch ganz schlicht in den Heiligen Schriften ausgedrückt hat. Wenn dein Geist gleichsam in diese verwandelt worden ist, dann wirst du schließlich vollkommen, schlicht und genau … begreifen.] (Loci 1521 ed. Kolde S. 105). Und es war nun doch Luther, der nach einer von Ed. Ellwein (in dem bayer. Sammelband S. 32) an­geführten Tischrede gesagt hat: Sacrae literae volunt habere humilem lectorem, qui reverenter habet et tremit sermones Dei, (lectorem) qui semper dicit: Doce me, doce me, doce me! Superbis resistit Spiritus [Die Heilige Schrift will einen demütigen Leser haben, der ehrfürchtig achtet und vor den Worten Gottes zittert, einen Leser, der immer sagt: Lehre mich, lehre mich, lehre mich! Dem Hochmütigen widersteht der Geist]. Ist nicht auch der moderne Hörer der neutestamentlichen Bot­schaft (in uns selbst und Anderen) am Sichersten auf diese „Mög­lichkeit“ des Verstehens anzureden? Mutet man ihm damit Untrag­bares zu? Tut mau ihm damit Gewalt an? Verleitet man ihn da­mit zur „Unwahrhaftigkeit“? Ich denke, daß man ihn eben damit zur Wahrhaftigkeit anleitet.

Und nun und von da aus meine Frage zum Verstehen über­haupt: Sollte nicht gerade die biblische Hermeneutik, weit ent­fernt davon, nur eine Applikation einer allgemeinen zu sein — das Vorbild und Maß aller Hermeneutik sein? Denn: Kann ich irgend einen Anderen, irgend einen (z. B. einen mythischen!) Text echt und recht verstehen, wenn ich mich von ihm nicht in der größtmöglichen Offenheit gefragt finde? Ich will den Mund nicht zu voll nehmen und also nicht von unbedingter, vorbehaltloser Offenheit reden, weil es dergleichen weder in unserem Verhältnis zum Worte Got­tes noch zu einem Menschenwort sobald geben dürfte. Aber geht es, wenn es ums Verstehen gehen soll, jemals und irgendwo ohne prin­zipielle und also ohne die größte jeweils mögliche Offenheit? Ver­stehe ich irgend einen Anderen, wenn ich nicht bereit bin, mir von ihm auch etwas ganz Neues sagen zu lassen: etwas, was ich mir zuvor durchaus nicht selbst sagen zu „können“ meinte, etwas wogegen ich zuvor ein Vorurteil oder viele und vielleicht sehr wohl begrün­dete Vorurteile hatte? Verstehe ich ihn, solange und sofern ich über die Grenzen meines Verstehens zum vornherein Bescheid zu wissen meine und also meinem Verstehen, noch bevor ich ihn gehört oder gelesen habe, eben diese Grenzen — auch hier die Grenzen meines „Vorverständnisses“ — gezogen habe? Sicher stehen wir Menschen uns alle in solcher Begrenztheit („Borniertheit“!) gegenüber. Sicher ist also dafür gesorgt, daß es zwischen uns — auch bei größt­möglicher Offenheit — schwerlich so bald zu einem ganzen Ver­stehen kommen wird. Aber ein Anderes ist es, ob man im gegebenen Fall bereit sein will, sich in seiner Borniertheit wenigstens ein bischen erschüttern und ihre Grenzen gelegentlich erweitern zu lassen — ein Anderes, ob man es sich geradezu zur heiligen Pflicht und zum ehernen Gesetz gemacht hat, unbeweglich in ihr zu verharren. Ich denke: ohne jene Bereit­schaft kann ich irgend einen Anderen, irgend einen Text, nicht nur nicht ganz, sondern gar nicht echt und recht, und also überhaupt nicht verstehen. Und wenn ich der Willigkeit dazu durchaus nicht fähig bin, weil ich mich ihr prinzipiell verschlos­sen habe, dann kann ich selbst gewiß auch von keinem Anderen ver­standen werden. Ich kann dann nur verwundert und verdrießlich konstatieren, daß ich Chinesisch rede, während der Andere ärger­licherweise durchaus, sagen wir: Japanisch reden will, wenn es zwischen mir und einem Anderen zum Verstehen kommen soll, dann muß ich mich auf alle Fälle jener prinzipiellen Unwilligkeit entschlagen. Da sich nun aber das Vorhandensein solcher Willigkeit (bezw. die Abwesenheit solcher Unwilligkeit) auf meiner Seite irgend einem Anderen, irgend einem Text gegenüber durchaus nicht von selbst versteht, da mir solche Willigkeit in der Beziehung zwi­schen Mensch und Mensch so wenig zur Verfügung steht, aus eige­ner Vernunft und Kraft so wenig erreichbar ist wie in der Bezie­hung zwischen Mensch und Gott, wird es doch wohl so sein, daß es zum Zustandekommen eines auch nur teilhaften, aber echten und rechten Verstehens auch von Mensch zu Mensch eben der Schule des Heiligen Geistes bedarf, in der allein das Alte und das Neue Testament als Zeugnis von Gottes Wort verständlich ist. Kann man den Mythus, kann man auch etwa Goethe ohne jene Willig­keit und also anders als in der Schule des Heiligen Geistes verstehen? Ist die Lehre vom normativen, gerade mit dem Hei­ligen Geist konkurrierenden, gerade ihm Schranken setzenden „Vorverständnis“, die der Hermeneutik Bultmanns zugrunde liegt, nicht der Tod alles echten und und rechten Verstehens? Muß man dieser Lehre und ihrer Anwendung gegenüber nicht im Interesse aller wirklichen Kommunikation bedenklich sein?

Als wir vor nun rund 30 Jahren in der Theologie zur Fahrt nach neuen Ufern aufbrachen, da ging es uns — ich darf das jeden­falls von mir sagen — um die hier angedeutete Umkehrung des geläufigen Begriffs vom „Verstehen“ des Neuen (und des Alten) Testamentes und vom Verstehen überhaupt und als solchem, um die Begründung des menschlichen Erkennens in des Menschen Erkanntwerden und Erkanntsein vom Gegenstand seines Erkennens her, um die Freigabe des Wortes, in welchem Gott den Men­schen anspricht zu Gunsten einer Freigabe auch des Wortes, in dem ein Mensch den anderen anredet. Es ging uns um die Entlastung des Verstehend der Bibel — und weil des Verstehend der Bibel, da­rum alles Verstehens — aus der aegyptischen Gefangenschaft, in der immer wieder eine andere Philosophie darüber verfügen und uns darüber belehren wollte, was der Heilige Geist als Gottes- und Menschenwort sagen dürfe, um „verständlich“ zu sein. „Entmythologisieren“ wollten wir damals — ohne dieses Wort schon zu kennen — gerade die Vorstellung von dem sich selbst als das Maß seines und allen Verstehens behauptenden Menschen. Es wurde ein langer und mühsamer weg mit vielen einzeln und gemeinsam erlebten Hindernissen, darum auch mit vielen Differenzen und Trennungen, mit vielen Nebenwegen und auch Irrwegen, von denen man sich selbst und Andere immer wieder zurück zu rufen hatte. Die Meinung, als ob wir ihn in irgendwelcher Vollkommen­heit gegangen seien, ist ferne von mir. Aber es war schon dieser Weg. Daß ich Bultmann nicht diesen Weg, sondern nun doch wie­der den uralten gehen, daß ich ihn in seiner Lehre vom Verstehen eben jene Umkehrung wieder rückgängig machen sehe, ist wohl der tiefste sachliche Grund, warum ich es bei meinem Versuch, ihn zu verstehen, vorläufig sein Bewenden haben lassen muß. Es sind für mich — im Unterschied zu den meisten Anderen unter denen, die ihm nicht folgen können — viel weniger seine massiven anti-supranaturalistischen Negationen, „Erledigungen“ oder also Umdeutungen als solche, es ist für mich sein diesen zugrunde liegendes — wie soll ich sagen? — vorkopernikanisches Gehaben, was mich immer wieder in Verlegenheit bringt.

Niemand weiß, ob sein Unternehmen für die Theologie der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts bestimmend werden wird. Es könnte das schon darum geschehen, weil die nachwachsenden Gene­rationen Aegypten — die Aera Ritschl-Harnack-Troeltsch und die ihr vorangehenden Zeiten — nickt mehr aus eigener Anschauung gekannt haben, den Sinn unseres Auszuges von dort vielleicht nicht mehr realisieren können. Etliche unter ihnen scheinen sich ja nun ihrerseits schon wieder als wahre Entdecker von Amerika zu füh­len, wenn sie — dem allgemeinen Zug kirchlicher Restauration vielleicht mehr verhaftet als sie es merken — in neuer Form eben die „Kritik“ als höchstes Gut erfunden haben, die uns damals — sagen wir: zum zweithöchsten geworden war. Nun, ich möchte auch das Gesetz, nach dem wir damals angetreten waren, durchaus nicht zum Maß aller Dinge erhoben haben. Immerhin konnte ich es mir in der Schlußsitzung meines im WS 1951/52 abgehaltenen Semi­nars über „Kerygma und Mythus“ nicht versagen, die versam­melte Mannschaft daran zu erinnern, wie einst das Volk Israel zu weinen begann nach den verlassenen Fleischtöpfen eben Aegyptens, wie schnell es des ihm inzwischen dargereichten „Man“ müde wurde, wie ihm dann Wachteln geschickt wurden und was für Er­fahrungen es mit diesen machen mußte. Ich endigte mit dem from­men Wunsch, mit dem ich auch hier schließen möchte: Sollte die Theologie der zweiten Jahrhunderthälfte wirklich eine „entmythologisierende“ und „existential interpretierende“ Theologie und also aufs neue eine Theologie des obligaten „Vorverständnisses“, des verpflichtenden „Bildes“ werden, so möchte das Volk wenig­stens mit nicht zu vielen — Wachteln gestraft werden!

Aber es braucht ja noch nicht — „mythologisch“ gesagt: im Him­mel beschlossen zu sein, daß die Theologie der Zukunft aufs Neue gerade eine Theologie des verpflichtenden „Bildes“ werden muß und wird.

Nachwort

Das Manuskript dieses festes war gerade abgeschlossen, als mich der eben erschienene zweite Band der Sammlung „Kerygma und Mythos“ (herausg. von H. W. Bartsch, Hamburg-Volksdorf 1052) erreichte. Er ist — wie soll man das deutend — „Dem Weltrat der Kirchen in Genf“ gewidmet.

Das Buch scheint mir eine Bestätigung dafür, daß die Diskussion über und um Bultmann ins Stocken gekommen ist. Es müßte nicht so sein. Die neue Sammlung enthält einige Beiträge, die zu weiteren Klärungen wohl hätten Anlaß geben können.

Zu ihnen könnte ich freilich — um das gleich vorweg zu nehmen — den von zwei überaus forschen und tüchtigen jungen Männern unternommenen Versuch, u. a. auch mich „fertig zu machen“, bei aller Bereitschaft zu demütigem Lernen und bei aller Bewunderung ihrer hohen Schulgerechtigkeit nicht zählen. In­dem ich in vier Jahrzehnten theologischer Existenz ziemlich „hart im Nehmen“ geworden bin, nehme ich ihnen nichts übel. Es ist aber eine merkwürdige Sache um die Polemik Bultmanns und seiner Getreuen: Gibt man ihnen zu ver­stehen, daß man seiner Exegese nicht folgen kann, dann wird man in rauhen Tönen aufgefordert, sich mit deren Grundsätzen zu beschäftigen. Erklärt man ihnen aber, daß man sich gerade diese nicht aneignen könne, so wird man stirnrunzelnd gefragt, warum man sich nicht bereit finde, „mit Bultmann in die Exegese einzutreten“ (S. 125) — in meinem Fall: um rein exegetisch zu er­fahren, daß es der christliche Glaube nach dem Neuen Testament nicht mit einem im Raum und in der Zeit geschehenen Ereignis zu tun habe, kein Ur­teil über ein solches in sich schließe. Aber eben: „mit Bultmann in die Exegese eintreten“ hieße ja, „sich auf einen kritisch-prüfenden Nachvollzug von Bult­manns Exegesen und ihren hermeneutischen Grundsätzen einzulassen“. Beißt sich diese Schlange nicht in den Schwanz? Ich beuge mich und staune, daß gerade das „kritische“ Werk der Herren Dr. Hartlich und Dr. Sachs nach dem Urteil des Meisters selbst (S. 179) „das Beste“ sein soll, was zur Sache geschrieben ist!

Bemerkenswert im Sinn einer Fortführung der Diskussion würde ich zunächst den Aufsatz von R. Prenter, „Mythus und Evangelium“ (S. 69 ff.) nennen, in welchem das Verhältnis zwischen dem negativen und dem positiven Element der Bultmann’schen Hermeneutik („Ent­mythologisierung“ und „existentiale Interpretation“) einer, wie man sich auch zu ihrem Ergebnis stelle, jedenfalls nötigen und bei Bultmann selbst noch nicht klar vorliegenden Berei­nigung unterzogen wird. Sodann die Abhandlung von W. G. Kümmel, „Mythische Rede und Heilsgeschehen im Neuen Testament“ (S. 153 ff.), in welcher versucht wird — man mag darüber streiten, man kann und soll aber immerhin darüber nachdenken, ob das geht oder nicht geht — zwischen einem dem Kerygma adaequaten und einem ihm inadaequaten Mythus im Neuen Testament und also zwischen entmythologisierbaren und nicht entmythologisierbaren Ele­menten im neutestamentlichen Kerygma zu unterscheiden (Kümmel gehört zu denjenigen Historikern, die nun einmal offenbar weniger oder keine Neigung haben, sich auf die existentialistische Seite der Bultmannschen Hermeneutik einzulassen). Endlich F. Burr mit seiner unverfrorenen Radikalisierung von Bultmanns Radikalismus, die er (nicht ohne eine weitere unerfreuliche Bereicherung der armen deutschen Sprache) unter dem Titel „Entmythologisierung oder Entkerygmatisierung der Theologie“ (S. 85 ff.) vorgetragen hat. „Das Kerygma ist ein letzter Rest von inkonsequenterweise noch festgehaltener Mythologie“. (S. 96). wenn ich Bultmann auch nur von ferne recht verstehe, so ist das ein Angriff auf seinen theologischen Fundamentalsatz. Und er ist von Bultmanns eigenen Voraussetzungen her immerhin nicht ohne Angabe von Gründen geführt worden.

Umso verwunderlicher ist es mir nun aber, festzustellen, daß Bultmann sich in seiner die Sammlung krönenden „Abschließenden Stellungnahme“ (S. 180 ff.) gerade auf die Gegenrede von Kümmel (daß er seinen Vorschlag S. 185 als „absurd“ abweist, ist Alles) kaum, auf die von Prenter — und noch auf­fallender: gerade auf die von Buri mit keinem Wort einläßt. Das tun auch seine in der Sammlung zu Wort kommenden Schüler nicht. Oder soll die unangenehme These von Buri damit erledigt sein, daß der Herausgeber (S. 6) ankündigt, sie werde „innerhalb der deutschen Theologie keine Zustimmung finden“? Warum eigentlich nicht? Ich wenigstens hätte brennend gern gewußt, mit welchen Gegengründen der Meister und die Schule die für jene These vor­gebrachten Gründe zu überwinden gedenken? Und für das kuriose silentium altissimum Buri, aber wirklich auch Prenter und Kümmel gegenüber scheint mir die Scholastik der von Bultmann und den Seinen allerlei anderen Ge­sprächspartnern zugewendeten, sachlich kaum neuen Widerlegungen bezw. Ab­fertigungen ein kümmerlicher Ersatz zu sein.

Neu war mir in Bultmanns „Stellungnahme“ eigentlich nur der Nachdruck, mit dem er selbst — und der Waschzettel hat das in großen Buchstaben her­vorgehoben — nun (S. 207) verlangt, daß man die „radikale Entmythologisierung“ als „die Parallele zur paulinisch-lutherischen Lehre von der Gerechtig­keit ohne des Gesetzes Werk allein durch den Glauben“, als „ihre konsequente Durchführung für das Gebiet des Erkennens“ verstehen müsse. Ich will mich dadurch, daß mir das als Ausdruck seines „Selbstverständnisses“ etwas un­heimlich ist, nicht dessen reuig machen lassen, daß ich (S. 46f. dieses Heftes) eben das als die relativ beste — immerhin nur als eine — Antwort auf die Frage nach seiner geschichtlichen Stellung angeführt habe.

Nein, eine Fortführung des Gesprächs hat in „Kerygma und Mythos II“ nicht stattgefunden. Kann sie rebus sio stantibus überhaupt stattfinden? Wich­tiges Material dazu (im Besonderen zur Vertiefung der in Abschnitt VIII dieses Heftes angestellten Überlegungen) finde ich auch in der ebenfalls nach Ab­schluß meines Manuskriptes erschienenen Arbeit von Hellmut Traub, Anmerkungen und Fragen zur neutestamentlichen Hermeneutik und zum Problem der Entmythologisierung, Neukirchen 1952. Müßte aber zu solchem Gespräch nicht auf beiden Seiten eine gewisse Beweglichkeit vorhanden sein? Kann sich Bultmann ernstlich darüber beklagen, daß man ihn nicht verstehen wollte, daß man sich nicht von vielen Seiten weitgehend — m. E. oft viel zu weitgehend — auf seine besonderen Fragestellungen eingelassen, seine Exegesen und ihre Grundsätze in irgend einer Modifikation nachzuvollziehen sich bemüht hat? Stehen wir nun nicht alle seit zehn Jahren um ihn herum: ratschlagend und uns den Kopf zerbrechend, ob und inwiefern wir seinem Anliegen gerecht zu werden in der Lage seien? Hat nun aber er seinerseits auch irgend eine Vorstellung davon, daß andere Leute schließlich auch andere oder anders akzen­tuierte Anliegen, Sorgen, Fragestellungen als gerade die seinigen haben und darum nicht absolut verpflichtet sein konnten, sich dauernd darüber verhören und daran messen zu lassen, ob sie bereit seien, genau auf den Schienen seines Gedankengangs zu denken, in ihren Sätzen positiv oder negativ unter allen Umstanden ebenso weit (und ja nicht werter!) zu gehen wie er? Will und kann Bultmann eigentlich auch noch jemand Anderen verstehen als sich selbst und sein Programm — und wenn er das so wenig kann, wie es den Anschein hat wie darf er sich dann wundern, daß, wer sich mit ihm nicht identifizieren kann, auch ihn nicht verstehen kann, mißverstehen muß? Stellt er sich (und stellen sich seine Schüler) ein ordentliches Gespräch mit ihm auch noch anders vor als in Form weiterer Erläuterungen seiner Thesen von seiner Seite, denen dann ein unconditional surrender von allen andern Seiten zu folgen hätte, während alle und jede Einwände, die man ihm macht, nur Beweise sind, daß die Unglücklichen, die sie erheben, ihn noch und noch nicht verstanden haben? Rechnet er eigentlich noch damit, daß bei den ihm gemachten Vorhaltungen schließ­lich auch irgend etwas „dran sein“, daß sich sein eigener Gesichtskreis im Lauf des Gesprächs auch noch da und dort erweitern konnte? Wo hat man Bultmann in der bisherigen» Diskussion irgend jemandem irgend eine echte Kon­zession machen sehen? Wenn man das — ich zögere nicht, es auch zu tun — in seiner Art bewundernswert finden kann — wie kann es dann aber zwischen ihn» und irgend Jemandem zu einem echten Gegenüber und also zu einem echtem Gespräch kommen? Und weiter: Wo bleibt, welches Interesse findet in dem im Stil von „Kerygma und Mythos II“ geführten Gespräch nachgerade das Neue Testament selber? Was ist endlich und zuletzt das Thema dieser Debatte (ich brauche absichtlich dieses profane Wort)? Geht es eigentlich um die hei­ligen Evangelisten und Apostel (ich sage auch das absichtlich so) oder geht es um die den Namen „Entmythologisierung des Neuen Testamentes“ fragende, nach Allem, was man sieht, in sich majestätische und unveränderliche Hypostase als solche: ihre Bedeutsamkeit, ihre Interpretation, ihre Probleme, ihren unter allen Umständen (und das hundertprozentig) zu anerkennenden Anspruch? In welche Wüste von endloser formaler Rechthaberei sind wir da eigentlich geraten? Und ich konnte mich wohl nachträglich fragen: in welche Wüste habe ich mich mir meinem Versuch. Bultmann zu verstehen, selber begeben müssen? Hat es, wo man sich an den Fingern abzählen kann, daß man etwas Anderes als irgend eine Abfertigung doch nicht zu erwarten hat, einen Sinn, sich, statt seinen Geschäften nachzugehen, weiterhin darum zu bemühen? Ich sage auch das Alles nur in Frageform. Gesagt sein, wenigstens in Frageform und im Kleindruck gesagt sein mußte es, weil mein Eindruck von „Kerygma und Mythos II“ der ist, daß das Gespräch über und um Bultmann, wenn es überhaupt weitergehen kann, in akuter Gefahr steht, steril und langweilig zu werden.

Quelle: Karl Barth, Rudolf Bultmann. Ein Versuch, ihn zu verstehen, Theologische Studien, Heft 34, Zollikon-Zürich, Evangelischer Verlag, 1952.


[1] Wer mit Bultmann oder seinen Schülern zu diskutieren hat, hüte sich, wenn er sich nicht sofort unmöglich machen will, „existential“ und „existentiell“ zu verwechseln! Viele Mißverständnisse seiner Lehre sind verzeih­lich, dieses auf keinen Fall!

Hier der Text als pdf.

Hinterlasse einen Kommentar