Martin Niemöller, Predigt zu Jesaja 62,6-12 (1935): „Wir haben nicht zu fragen, wieviel wir uns zutrauen; sondern wir werden gefragt, ob wir Gottes Wort zutrauen, dass es Gottes Wort ist und tut, was es sagt! Wir mögen wohl kleinmütig und verzagt dastehen, wenn wir die starken Worte hören, mit denen heute dem ‚Wüstendämon Jahve‘ der Kampf angesagt wird; und es mag uns bange werden, wenn wir sehen, wie die Wege, auf denen unser Volk früher zu dem lebendigen Gott geführt wurde, einer nach dem andern, mit meter­hohem Geröll verschüttet wird.“

Predigt zu Jesaja 62,6-12 (1935)

Von Martin Niemöller

Gnade, Barmherzigkeit und Friede sei mit euch von Gott dem Vater und dem Herrn Jesu Christo! Amen.

O Jerusalem, ich will Wächter auf deine Mauern bestellen, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nimmer stille schweigen sollen, und die des Herrn gedenken sollen, auf daß bei euch kein Schweigen sei und ihr von ihm nicht schweiget, bis daß Jerusalem zugerichtet und gesetzt werde zum Lobe auf Erden. Der Herr hat geschworen bei seiner Rechten und bei dem Arm seiner Macht: Ich will dein Getreide nicht mehr deinen Feinden zu essen geben, noch deinen Most, daran du gear­beitet hast, die Fremden trinken lassen; sondern die, so es einsammeln, sollen es auch essen und den Herrn rühmen, und die ihn einbringen, sollen ihn trinken in den Vorhöfen meines Heiligtums. Gehet hin, gehet hin durch die Tore! bereitet dem Volk den Weg, machet Bahn, machet Bahn! räumet die Steine hinweg! werfet ein Panier auf über die Völker! Siehe, der Herr lasset sich hören bis an der Welt Ende: Saget der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt! Siehe, sein Lohn ist bei ihm und seine Vergeltung ist vor ihm! Man wird sie nennen das heilige Volk, die Erlöseten des Herrn, und dich wird man heißen die gesuchte und unterlassene Stadt. (Jesaja 62,6-12)

Durch dies Prophetenwort an Jerusalem redet Gott mit seinem Volk, das aus der babylonischen Gefangenschaft heimgekehrt ist, das aber die erste Freude über die wiedergeschenkte Freiheit schon wieder verloren hat und in tiefer Mutlosigkeit da­hinlebt.

Gewiß: man war wieder im Land der Väter, man diente wieder dem lebendigen Gott an seinem Tempel, der aus den Trümmern neu erstand.

Aber die großen, glühenden Hoffnungen, mit denen das Volk der Gefangenschaft dieser Zeit entgegengewartet hatte, waren nicht in Erfüllung gegangen: Jerusalem war eine öde, halbverlassene Stadt geblieben, Häuser und Paläste standen unbe­wohnt, die Mauer lag in Trümmern und bot keinen Schutz gegen kriegerischen Überfall, sondern lockte geradezu zum Raubzug an.

Der Zustrom der Rückwanderer hatte angesichts dieser Zustände aufgehört, und auf den bereits Heimgekehrten lag der dumpfe Druck der Enttäuschung, und man trug schweigend, was man nicht ändern konnte.

Ein armselig kleines Stückchen aus dem großen weltgeschichtlichen Geschehen, dazu ein fremdes Volk, ein fremdes Land – was geht das uns an? Dies alles ist doch Altes Testament, und man sagt es uns täglich, daß wir uns lächerlich machen, wenn wir uns damit befassen, und daß wir als Zeitgenossen unmöglich sind, wenn wir es noch ernst nehmen.

Nun lassen sich gewiß eine Reihe von Gründen dafür ins Feld führen, daß wir dennoch dem Alten Testament mit Ehrfurcht begegnen: es birgt eine reiche Fülle von Zeugnissen echter Frömmigkeit, und nicht nur Jesus hat mit den Worten den alttestamentlichen Psalmen gebetet, sondern auch Männer wie Luther und Paul Gerhardt in ihren Liedern, die unter uns lebendig sind.

Auch darauf wird mit Recht hingewiesen, daß die Botschaft des Neuen Bundes innerlichst mit der Vorgeschichte, mit dem Wort des Gesetzes und der Propheten zusammengehört und daß das Alte Testament die Bibel Jesu gewesen sei. Aber das alles ist nicht das Entscheidende: es gibt auch außerhalb des Alten Testaments Zeugnisse echter Frömmigkeit, es gibt vielleicht auch andre Wege, ein Verständnis für das Neue Testament zu gewinnen. – Entscheidend ist, daß auch das Alte Testament Wort Gottes ist, in dem sich der dreieinige Gott in seiner Gnade und Wahrheit, in Barmherzigkeit und Gericht kundtut, in dem sich der Vater Jesu Christi durch den Heiligen Geist seinem Volk bezeugt, damit es hört und glaubt und gehorcht.

Und seitdem Israel aufgehört hat, Volk Gottes zu sein, weil es sich diesem Hören, Glauben und Gehorchen versagte, seitdem geht Gottes Wort durch die Welt und sammelt ein neues Israel in der christlichen Gemeinde, die nun das Erbe angetreten hat; und darum wissen wir uns angeredet, wenn wir hören, daß Gott im Alten Bunde »Jerusalem« oder »Zion« ruft. Es ist die Kirche Jesu Christi, die auf solches Wort merken soll; denn – wie sagt es uns der Apostel Paulus [sic!]? »Ihr seid das auserwählte Geschlecht, das königliche Priestertum, das heilige Volk, das Volk des Eigentums.« (1.Petr 2,9)

So tritt denn an die Stelle jenes Bildes aus ferner Vergangenheit, an das wir erinnert wurden, die unmittelbare, lebendige Gegenwart, in die wir als christliche Gemeinde hineingestellt sind; und wir kommen ja geradeswegs aus einer babylonischen Gefangenschaft der Kirche, da das Wort Gottes fremden Herren dienen sollte und statt der Ehre Gottes Menschenruhm verkünden mußte; und es ist doch wahrlich wie ein Wunder vor unsern Augen gewesen, daß die Fesseln zerbrachen wie morsche Stricke, ohne unser Zutun, und daß wir trotz aller Lockungen der neuen Irrlehre und trotz aller Drohungen ihrer Verkünder der Knechtschaft entronnen sind und den Heimweg gefunden haben, daß Gottes Wort unter uns rein und lauter gepredigt wird als die frohe Botschaft von der Rettung, die Gott uns in Jesus Chris­tus bereitet hat, damit wir ihm die Ehre geben.

Freilich: Die erste Freude ist bei uns auch längst einer Ernüchterung gewichen.

Wir sehen jetzt, wie klein die Zahl der Heimgekehrten ist; wir können es uns nicht länger verhehlen, wie die große Menge derer, die durch die Taufe Glieder Christi geworden sind, die Knechtschaft vorziehen und fremden Göttern dienen. Jerusalem ist menschenleer geworden!

Und wir sehen zugleich, wie unsre eigene Existenz als Gemeinde unsicher ge­worden ist: wir säen, aber wer erntet?! Wir pflanzen, aber wer pflückt die Frucht?! Was wird aus unsrer Jugend, die wir unterrichten und konfirmieren?

Man spricht von Entkonfessionalisierung; aber es wird von einem Tag zum andern deutlicher, daß die Feinde Jesu Christi all ihren Einfluß und all ihre Macht planmäßig daran setzen, unser Volk zu entkirchlichen und zu entchristlichen.

Wozu aber dann säen und pflanzen, wenn doch keine Ernte reifen kann! – Wir sind schutzlos dem Zugriff der Feinde preisgegeben und müssen froh sein, wenn wir von einem Tag zum andern kommen. Die Mauern sind zerstört, und eine hange Mutlosigkeit, ein ängstliches Schweigen will uns befallen; vielleicht, daß wir dann noch ein Weilchen ungestört in einem dunklen Winkel leben können! Vielleicht, daß wir selber wenigstens noch als Christen leben und sterben kön­nen!

Aber hört, liebe Freunde, Gott will es nicht, daß wir uns so in das scheinbar Un­vermeidliche finden; Gott will nicht, daß wir in schweigender Ergebung das Ende seiner Kirche erwarten.

So tut der Unglaube, der auf das Sichtbare schaut und verzagt, wenn er nichts findet, woran er sich halten kann! So tut der Kleinglaube, der wohl etwas wagt, wenn er gerufen wird, aber es mit der Angst bekommt und zweifelt, wenn ein starker Wind daherfährt. Gewiß: wir sehen heute nichts, woran wir uns halten könnten; gewiß: es fährt ein starker und scharfer Wind gegen uns daher; wir ahnen auch nicht, wann und wie uns eine Rettung kommen soll.

Aber der Glaube soll hier ein getrostes Dennoch sprechen, weil er sich entgegen allem, was das Auge sieht, und entgegen allem, was das Herz redet, allein von Got­tes Wort und Verheißung getragen weiß. Gott läßt das Werk seiner Kirche nicht im Mich; er hatʼs geschworen: »Ich will dein Getreide nicht mehr deinen Feinden zu essen geben, noch deinen Most, daran du gearbeitet hast, die Fremden trinken las­sen!«; er hat es zugesagt, daß sein »Wort nicht leer zurückkommen« soll, sondern »laß ihm »gelingen werde, wozu er es sendet«! Wie durften wir da schweigen, wo doch Gott will, daß sein Wort verkündigt wird – unabhängig von unserm Dafür­halten »zur rechten Zeit oder zur Unzeit«.

Und ob die Mauern zerstört liegen – nicht, daß wir sie bauen, ist die Sorge, die uns treiben soll; und ob wir ein kleines Häuflein geworden sind in der Kirche, die sich zu Christus als dem einen Herrn bekennt – nicht, daß wir viele werden, ist das Eine, das vor allem anderen not tut!

Es liegt wahrhaftig nicht daran, ob es zwei Jahre oder zwei Jahrzehnte dauert, bis die Kirche innen und außen wieder Frieden hat; denn das können wir nicht machen!

Und es liegt auch nicht daran, ob das neue Heidentum noch ein paar hunderttausend Anhänger dazu gewinnt; denn das können wir nicht hindern!

Aber das ist allerdings entscheidend, ob der Wille Gottes so viel Macht über uns hat, daß wir uns – ohne nach der Gefahr zu fragen, die damit verbunden sein könnte – als Wächter auf die zerbrochene Mauer stellen lassen und – ohne uns um Menschenhaß und -feindschaft zu kümmern – bezeugen, was zu verkünden uns befohlen ist, daß es nämlich in aller Welt kein Heil gibt als allein in dem Namen Jesu, durch den Gott uns den Weg auftut zur Buße und zum Glauben.

Daran, daß diese Botschaft von uns bekannt wird, hat der Herr seine Zusage geknüpft, daß seine Gemeinde auch von den Pforten der Hölle nicht überwältigt werden soll; daran, daß wir dies Wort Gottes nicht verschweigen, ist die Verheißung gebunden, daß »Jerusalem zugerichtet und gesetzt werde zum Lobe auf Erden«.

Eine bekennende Kirche kann darum in Geduld und Festigkeit warten, bis es Gott gefällt, ihr den Frieden zu geben; sie braucht, ja, sie darf ihn nicht mit Zugeständnissen erkaufen.

Und eine bekennende Kirche kennt nicht die quälende Unruhe und Sorge, ob sie wohl die Massen gewinnt und für sich hat; denn sie lebt nicht von der Gunst du Menschen, sondern von der Gnade Gottes.

Es ist wohl nötig, daß wir uns das mit allem Nachdruck sagen lassen; denn es ist der Teufel, der heute unter uns umgeht und uns einreden will, die Zeit der Kirche sei vorüber, weil die Gewaltigen dieser Welt ihr ihre Gunst entzogen haben, und nun müsse die Kirche sich wohl oder übel mit einem Ghettodasein bescheiden.

Das ist gedacht und geredet, als ob Gott nicht Gott wäre und als ob Menschen imstande wären, sein Werk zu hindern und sein Wort in Fesseln zu schlagen.

Aber Gott läßt sich nicht in die Verteidigung drängen und sein Wort läßt sich nicht in Kirchenmauern einschließen: »Gehet hin durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg!« Das klingt wahrhaftig nicht darnach, als ob Gott seinen Anspruch .ml zugeben gedächte; und wenn man noch so viele Hindernisse auftürmt und noch so große Steine auf den Weg wälzt, damit das Wort Gottes nicht mehr durchdringen soll: »Ist mein Wort nicht wie ein Feuer, spricht der Herr, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt?!« (Jer 23,29)

Wir haben nicht zu fragen, wieviel wir uns zutrauen; sondern wir werden gefragt, ob wir Gottes Wort zutrauen, daß es Gottes Wort ist und tut, was es sagt!

Wir mögen wohl kleinmütig und verzagt dastehen, wenn wir die starken Worte hören, mit denen heute dem »Wüstendämon Jahve« der Kampf angesagt wird; und es mag uns bange werden, wenn wir sehen, wie die Wege, auf denen unser Volk früher zu dem lebendigen Gott geführt wurde, einer nach dem andern, mit meter­hohem Geröll verschüttet wird. Wie sollen wir da Bahn machen, wie sollen wir da die Steine wegräumen?! Es lohnt ja nicht; wir kommen ja niemals dagegen an: Nein: wir nicht! – Aber ist das denn unsre Sache?! »Nimmʼs Wort in die Faust – sagt D. Martin Luther – dann bist du nicht allein!« – Wenn dies Wort uns zu mächtig geworden ist, daß wir uns ihm beugen müssen, weil wir uns gegen die heilige Liebe Gottes nicht mehr behaupten können, weil es sich im Wort vom Kreuz des Herrn Christus als Gotteskraft erweist, wie wollen wir zweifeln, daß es auch mit allen an­dern Widerständen fertig wird! Wir brauchen uns um den Erfolg nicht sorgen; wir brauchen nicht fragen, ob vielleicht die Zeit des Evangeliums doch abgelaufen sei. Sie läuft nicht ab: »Siehe, der Herr läßt sich hören bis an der Welt Ende: Saget der Tochter Zion: Siehe dein Heil kommt; siehe, sein Lohn ist bei ihm, und seine Ver­geltung ist vor ihm!« – Unsre Sorge soll nur die sein, daß wir auf Gottes Wort hören und ihm glauben und daß wir es sagen und bezeugen. Es geht um Glauben und Treue für einen jeden von uns wie für uns alle!

Amen.

Gehalten am 4. August 1935 (7. Sonntag nach Trinitatis) in der Jesus-Christus-Kirche in Berlin-Dahlem.

Quelle: Martin Niemöller, Alles und in allen Christus. Fünfzehn Dahlemer Predigten, Berlin: Martin Warneck, 1935, S. 70-76.

Hier der Text als pdf.

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