Jürgen Roloff, Kirche in der Bibel: „Zentrale Motive frühchristlichen Kirchenverständnisses erschließen sich anhand der Bilder, die das Neue Testament für die Kirche gebraucht: Dass sie ständig durch Christus bestimmt und geleitet wird, kommt im Bild von der Herde, deren Hirte Christus ist, zum Ausdruck; ähnliches besagt auch das Bild von der Kirche als »Braut« Christi; dass sie der Raum eines neuen Gottesverhältnisses und der Ort der Gegenwart Gottes ist, der den bisherigen Kultus ablöst, wird mit dem Bild des Tempels umschrieben. Hinweis auf ihre Kontinuität zum alttestamentlichen Israel ist die Bezeichnung »Volk (Gottes)«. Das theologisch gewichtigste Bild ist jedoch das vom »Leib Christi«.“

Kirche in der Bibel

Von Jürgen Roloff

1. Bezeichnung

Das deutsche Wort »Kirche « kommt vom spätgriechischen kyriake »dem Herrn gehöriges (Haus)«. Die bibl. Bezeichnung ist ekklesia (griechisch) »Volksversammlung; Aufgebot«. Dahinter steht als letzte Wurzel das hebräisch kehal jahwä »Versammlung Jahwes bzw. des Gottesvolkes (als religiöse Gemeinschaft)«.

Kirche ist nach urchristlichem Verständnis das durch Christi Selbsthingabe begründete, durch Gottes Geist gesammelte wahre Gottesvolk der Endzeit. Zwar bezeichnet im Neuen Testament der Begriff ekklesia vorwiegend den Verband der Christen an einem bestimmten Ort, d. h. die Gemeinde (z. B. Röm 16,5;1Kor 16,19; Kol 4,15; Phlm 2), doch bleibt auch bei diesem soziologischen Sprach­gebrauch der übergreifende theologische Sachverhalt mit im Blick: Die Ortsgemeinde wird verstanden als Teil des endzeitlichen Gottesvolkes, das jeweils an einem Ort konkrete Gestalt gewinnt und, bei allen situationsgebundenen Besonderheiten, dem Ganzen der Kirche verpflichtet bleibt. Weil diese Gestaltwerdung sich vom Gottesdienst her vollzieht, darum kann ekklesia zuweilen auch die lokale gottesdienstliche Versammlung bezeichnen (1Kor 11,18; 14,19.28. 34f.). Relativ selten ist der Plural »Kirchen« im Sinne von Ortsgemeinden (1Thess 2,14; 2Thess 1,4; 1Tim 3,5; Offb 1,4.11.20; 2,7.11f.). Von der Kirche als übergreifender theologischer Größe sprechen vor allem der Kolosser- und Epheserbrief (z. B. Kol 1,18.24; Eph 1,22; 3,10; 5,23f.).

2. Entstehung

Jesus kann nicht als Gründer der Kirche bezeichnet werden. Seine Botschaft und sein Wirken zielten auf die Erneuerung Israels in seiner Gesamtheit. Seine Jüngergemeinschaft unterschied sich von zeitgenössischen jüdischen Sondergruppen (wie den Pharisäern und Essenern) vor allem durch ihre grundsätzliche Offenheit. Überdies fehlte ihr die feste organisatorische Gestalt. Auch die Kerngruppe des Jüngerkreises, der Zwölferkreis, war vermutlich nur eine zeichenhafte Vorausdarstellung des ganz Israel umfassenden neuen Gottesvolkes der zwölf Stämme (Mt 19,28). Die beiden einzigen Stellen, an denen das Wort »Kirche« in der Jesus-Überlieferung erscheint, Mt 16,18; 18,17, erweisen sich als spätere Bildungen. Allerdings finden sich bei Jesus auch einzelne Züge, welche die Entstehung der Kirche zumindest vorbereiten: so die Bindung der ihm Nachfolgenden an seinen Weg und sein Geschick (Mk 8,34; 10,44f.); so auch die Vorwegnahme eschatologischer Gemeinschaft mit Gott in gemeinsamen Mahlzeiten Jesu mit seinen Anhängern (Mk 2,16; Mt 11,19). Darüber hinaus zeigt die sicher geschichtliche Einsetzung des Abendmahls (Mk 14,22-25), daß Jesus mit der Fortdauer seiner Jüngergemeinschaft in der Zwischenzeit zwischen seinem Tod und der Vollendung gerechnet und sie legitimiert hat: In gemeinsamem Essen und Trinken in seinem Namen sollen die »Vielen« (Mk 14,24) aufgrund seiner Selbsthingabe vor Gott zu heilvoller Gemeinschaft zusammengeführt werden.

Zur eigentlichen Konstituierung der Kirche kam es jedoch erst nach Ostern. Die Anhänger Jesu, die sich, veranlaßt durch die Erscheinungen des Auferstandenen, in Jerusalem zusammenfanden, gewannen aufgrund von gemeinsamen Geisterfahrungen (Apg 2,17-21) die Gewißheit, das Gottesvolk der Endzeit, die Mitte des von Gott erneuerten Israel zu sein. Diesem Selbstverständnis entspricht, daß die Urgemeinde am Synagogen- und Tempelgottesdienst weiter teilnahm (Apg 2,46) und sich mit ihrer Verkündigung nur an Juden wandte. Daneben traten jedoch Faktoren, die einer neuen Gruppenidentität Vorschub leisteten, immer stärker in den Vordergrund: Zu ihnen gehörten die Verpflichtung gegenüber den von den Aposteln übermittelten Weisungen Jesu, die Versammlung des Herrenmahls (Apg 2,42) sowie vor allem derer Initiationsritus derer Taufe auf den Namen Jesu (Apg 2,38; 8,38).

Die Bestimmung des Verhältnisses der Kirche zum Judentum war das eine große Grundproblem der Frühzeit. Die Jerusalemer Urgemeinde vertrat konsequent den judenchristlichen Standpunkt. Sie wollte ein Teil Israels bleiben und verlangte deshalb von ihren Gliedern die Einhaltung des Gesetzes und die Beschneidung. Trotzdem wurden die Judenchristen allmählich vom Judentum als Fremdkörper ausgestoßen und (um 80 n. Chr.) mit dem Synagogenbann belegt. Die Heidenchristen, deren erstes Zentrum in Antiochia lag, stellten sich bewußt außerhalb des Judentums, indem sie auf Gesetz und jüdische Lebensweise verzichteten. Sie wußten sich als das [277] neue Gottesvolk, auf das die bisher Israel geltenden Verheißungen übergegangen waren, nachdem Israel Jesus, seinen Messias, verworfen hatte (Gal 3,6-9; Röm 9,30f.).

Das zweite Grundproblem der Frühzeit war die Einheit der Kirche. Trotz der Divergenz zwischen Juden- und Heidenchristen in zentralen Fragen bestand auf beiden Seiten die Überzeugung, daß die Kirche als endzeitliches Gottesvolk nur eine sein könne. Das Apostelkonzil (Gal 2,8ff.) war ein eindrucksvoller Versuch, diese Einheit der Kirche trotz bestehender Verschiedenheiten festzuhalten.

3. Bedeutung

Zentrale Motive frühchristlichen Kirchenverständnisses erschließen sich anhand der Bilder, die das Neue Testament für die Kirche gebraucht: Daß sie ständig durch Christus bestimmt und geleitet wird, kommt im Bild von der Herde, deren Hirte Christus ist, zum Ausdruck (Joh 10,16; Apg 20,28; 1Petr 5,2f.); ähnliches besagt auch das Bild von der Kirche als »Braut« Christi (Offb 19,7f.; 21,2; 22,17); daß sie der Raum eines neuen Gottesverhältnisses und der Ort der Gegenwart Gottes ist, der den bisherigen Kultus ablöst, wird mit dem Bild des Tempels umschrieben (1Kor 3,16; Eph 2,20). Hinweis auf ihre Kontinuität zum alttestamentlichen Israel ist die Bezeichnung »Volk (Gottes)« (1Kor 10,7; Tit 2,14; Hebr 13,12; 1Petr 2,9f.). Das theologisch gewichtigste Bild ist jedoch das vom »Leib Christi«. Paulus hat es, vermutlich von seinem Abendmahlsverständnis her (1Kor 10,17), entwickelt: Wie in einem Organismus die einzelnen Glieder durch ihre auf das, Ganze bezogenen Funktionen sinnvolles Leben ermöglichen, so erweist sich die Kirche durch den auf das Ganze bezogenen Dienst ihrer Glieder als Christi Leib, d. h. als der Lebensraum, in dem Christus bereits in der gegenwärtigen Welt heilvoll wirksam ist. Dieses Bild wird vom Kolosser- und Epheserbrief noch erweitert: Christus ist nunmehr das Haupt des Leibes der K.; d. h., er ist Zentrum und Ausgangspunkt der die Kirche durchströmenden Lebenskräfte (Kol 1,18; Eph 2,21f.; 5,23).

4. Kirchenorganisation

Organisatorische Fragen haben die Kirche in ihren Anfangsjahren wenig beschäftigt. Erst mit dem Schwinden der Naherwartung gewannen sie größeres Gewicht. Ansätze zu einer einheitlichen Kirche zeichnen sich erst gegen Ende des 1. Jahrhunderts ab. Zunächst wurden jedoch an verschiedenen Orten aus aktuellen Bedürfnissen ganz unterschiedliche Organisationsformen entwickelt oder aus der Umwelt übernommen. Die Jerusalemer Urgemeinde wurde anfangs vom Kollegium der »Zwölf« geleitet (Apg 6,2). Schon nach wenigen Jahren ging die Leitung auf ein Dreierkollegium über: Gal 2,9 nennt als die drei »Säulen« bzw. »Angesehenen« Jakobus, Kefas = Petrus und Johannes. Wieder wenig später finden wir den Herrenbru­der Jakobus zusammen mit einem Kollegium von Ältesten an der Spitze der Gemeinde (Apg 15,6; 21,18). Das Ältestenamt ist jüdischen Ursprungs. Es ist ein durch Wahl auf Zeit übertragenes Ehrenamt. Bereits zu Beginn der 30er Jahre hatten sich die hellenistischen Judenchristen in Jerusalem organisatorisch verselbständigt: Die Leitung ihrer Gemeinde übernahm, nach dem Vorbild der Diasporasynagoge, ein Gremium von 7 Ältesten (Apg 6,5).

Die syrische Kirche des 1. Jahrhunderts wurde geprägt durch wandernde Apostel, Profeten und Lehrer: Sie scheint jedoch noch keine ortsgemeindliche Kirche gekannt zu haben, mit Ausnahme von Antiochia (Apg 13,1).

Auch Paulus nennt als feste, persongebundene Dienste Apostel, Profeten und Lehrer (1Kor 12,28), wobei er die beiden letztgenannten als einer bestimmten Gemeinde zugeordnet versteht. Daneben rechnete er mit dem spontanen, keiner organisatorischen Lenkung bedürfenden Aufbrechen von Charismen (Geistesgaben) in der Gemeinde (1Kor 12,28ff.). Noch zu Lebzeiten des Paulus entstanden in den von ihm gegründeten Gemeinden (so in Philippi: Phil 1,1) die Leitungsämter der Episkopen (griechisch, »Aufseher«, »Bischöfe«) und der Diakonen (griechisch, »Diener«). Diese setzten sich nach seinem Tod in den meisten Kirchengebieten durch, wobei es zu einer Verschmelzung mit der judenchristlichen Ältestenverfassung kam. So wird nach den Pastoralbriefen die Gemeinde von einem Kollegium von Ältesten geleitet, die nicht gewählt, sondern durch Ordination auf Lebenszeit eingesetzt sind und die Bezeichnung »Episkopen« tragen (1Tim 3,2). Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zum sogenannten monarchischen Episkopat, wie ihn erstmals die um 110 n. Chr. entstandenen Ignatius-Briefe bezeugen: Die oberste Gemeindeleitung liegt nun in der Hand eines Episkopen; ihm unterstehen sowohl das Ältestenkollegium als auch der Kreis der Diakone.

Lit.: R. Schnackenburg, Die Kirche im Neuen Testament, 31966; E. Schweizer, Gemeinde und Gemeindeordnung im Neuen Testament, 21962; P. S. Minear, Bilder der Gemeinde, 1964; K. Kertelge, Gemeinde und Amt im Neuen Testament, 1972; J. Roloff, Amt/Ämter/Amtsverständ­nis IV, in: Theologische Realenzyklopädie II, 1978, 509-533; H.-J. Klauck, Gemeinde. Amt. Sakrament, 1989.

Quelle: Reclams Bibellexikon, hrsg. v. Klaus Koch, Eckart Otto, Jürgen Roloff und Hans Schmoldt, Stuttgart: Reclam, 51992, S. 276-278.

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