Und sie sahen seine Herrlichkeit. Eine Meditation über die Osterbotschaft [Matthäus 28,1-10]
Von Hans [Joachim] Iwand
Der Osterbericht des Matthäus-Evangeliums beginnt mit den Worten: „Sie kamen, das Grab zu besuchen“ [V 1] und endet mit dem Befehl des Auferstandenen; „Fürchtet euch“ nicht“ [V 10]. In der Mitte steht das entscheidende Wort: „Er ist nicht hier, er ist auferstanden.“ [V 5-6] Dabei erbebt die Erde, als sollte damit angedeutet werden, daß nur von den Grenzen des Bestehenden her diese Botschaft vernommen werden könne, nur um den Preis, daß der Standpunkt, den wir einnehmen, ins Wanken gerät, daß wir den festen Boden unter den Füßen verlieren. Auferstehung heißt ja wohl, daß sich die Immanenz, die In-sich-Geschlossenheit der Welt, in der wir leben, es sich gefallen lassen muß, in Frage gestellt zu werden. Freilich, es ist dies ein gottbewegtes, befreiendes Beben. Doch sollte das Beben, von dem heute die Menschen hin- und hergeworfen werden, von dem wir in unseren Ängsten träumen, das unsere Politiker so unsicher macht — sollte dies sehr reale und sehr profane, aber auch sehr schicksalträchtige Beben der Welt, in der wir leben, auch etwas zu tun haben mit jenem erstem und entscheidenden Stoß, den die sogenannte Wirklichkeit am Ostermorgen empfing? Es könnte ja auch dies gegenwärtige Beben der Welt, diese Erschütterung der raumzeitlichen Geschlossenheit unserer Existenz, zwei Seiten haben: ein dunkle und eine helle, eine satanische und eine göttliche, eine verzweiflungs- und eine hoffnungsvolle. Könnte es nicht sein, daß wir alle der Osterbotschaft näher sind als wir es selbst für möglich halten?
Der Träger der Botschaft von der Auferstehung ist ein Engel im weißen Kleid, Und es heißt im Text von diesem Engel: „Sein Aussehen war wie ein Blitz.“ [V 3] Und auch dies wieder ist eine sinnenhaft-symbolische Abbreviatur, die uns daran gemahnen könnte, daß es hier ein wenig exzeptioneller zugegangen ist, als man das gemeinhin nach unseren Kommentaren und üblichen Auslegungen anzunehmen pflegt. Gemeint ist, daß hier das erste Leuchten jenes Blitzes spürbar wurde, von dem Jesus einmal sagt, er werde dereinst über der Welt dahinzucken „vom Aufgang bis zum Niedergang“ [Mt 24,27]. Einmal wird Dunkel und Finsternis nicht mehr das Lebenselement sein, in dem sich die Menschen verstecken können. Einmal wird es von Gott her hineinleuchten in alle Winkel und in alle Tiefen. Einmal wird Offenbarung der Inbegriff aller Existenz sein, der göttlichen nicht minder als der menschlichen. Und von jenem ersten Aufflammen des Lichtes her, wie es am Ostermorgen die Frauen umfing, die zum Grabe gingen, haben die Menschen, die davon erwachten, begriffen, daß die Nacht im Weichen und der Tag im Kommen sei.
Wie ein Triumphator sitzt der Engel, diese Epiphanie der göttlichen Macht, auf dem umgeworfenen Stein, der eben noch das Grabmal verdeckte. „Kommet, sehet die Stätte, da er gelegen hat.“ [V 6] … „Aufgefahren gen Himmel“ — ja, wenn wir wieder begreifen könnten, was das bedeutet, darin würden wir wissen, was die Christenheit damit bekennt: daß das Leben, unser menschlich kostbares Leben, weiter reicht als bis zum Tode, daß es aufgenommen, geborgen, gerechtfertigt ist in der Auferstehung Jesu Christi, daß es nur als himmlisches, als todüberlegenes Leben gelebt werden kann, wenn anders dieser inadäquate Ausdruck hier noch angewandt werden darf. Das heißt Auferstehung.
Sehr früh schon haben die Berichte über die Auferstehung des Herrn versucht, diese selbst darzustellen, das schlechthin Unanschauliche anschaulich zu machen, das grundsätzlich Unobjektivierbare (Gott ist nie Objekt) zu objektivieren. Sie haben versucht, das Ereignis der Auferstehung zu schildern, als wäre es ein historisches Ereignis wie andere Ereignisse aus der Vergangenheit der Menschheit. Aber mit der Schilderung des Erdbebens und des offenen Grabes sollte nicht die Auferstehung selbst veranschaulicht werden; denn „Christus ist durch das beschlossene Grab und ohn alle Verletzung der Siegel, so an das Grab gedrückt, herdurch gekommen“, wie Luther sagte. Dabei waren einige alte Maler hoch theologisch gut beraten, wenn sie den Auferstandenen über dem geschlossenen Grab emporfahren ließen — obschon es immer fraglich bleibt, ob man den Auferstandenen anders malen kann als ihn Rembrandt in der Emmaus-Szene gemalt hat.
Weil nämlich das Ereignis der Auferstehung das schlechthin unanschauliche, das grundsätzlich unobjektivierbare, ganz und gar göttliche Ereignis mitten in dieser unserer Weltzeit ist, darum wirkt die Botschaft von Anbeginn scheidend und unterscheidend in der Menschenwelt. Die Grabeswärter wurden „als wären sie tot“ [V 4] (ihnen ist wirklich diese Sache ein „Geruch des Todes zum Tode“ [2. Kor 2,16], wie es mit unübertrefflicher Prägnanz einmal beim Apostel Paulus heißt); die Frauen aber hörten die Botschaft und wurden über diese Kunde die ersten Evangelistinnen. Sie nahmen diese Botschaft wie einen Feuerbrand aus der Hand des Himmelsboten und trugen sie in großer Furcht und Freude in die hinter verschlossenen Türen versammelte Jüngergemeinde. Von nun ab hat die Auferstehungsbotschaft als eine geheime, grundsätzlich revolutionäre, dem Erdbeben und dem Blitz vergleichbar Kunde die Weltgeschichte durchzogen. Aber es blieb die Divergenz zwischen Auge und Ohr, zwischen Sehen und Glauben, zwischen dem, was ist, und dem, was kommt. Und noch ist der Tag nicht da, da ihn „alle sehen werden, auch die, die ihn zerstochen haben“ [Offb 1,7]. So spannt sich die Auferstehung wie ein Bogen, ein Friedens- und Siegesbogen, über dem Dasein der Welt. Sie ist der neue Horizont, von dem wir herkommen und auf den wir zugehen.
Noch aber sind wir damit nicht eigentlich an die Botschaft selbst herangekommen, die hier empfangen wird. Man wird sie nicht isolieren können, nicht umprägen können in eine Allerweltsweisheit, man wird ihren Botschaftscharakter nicht zerstören dürfen. — Sie ist von Anbeginn an bestimmte Menschen gerichtet. Hier an die beiden Frauen, die kamen „Jesum, den Gekreuzigten zu suchen“ [V 5]. Es sind Frauen, die Jesum kannten — Maria von Magdala die eine, Maria, die Mutter eines sonst nicht hervortretenden Jüngers, die andere. Sie haben mit unter dem Kreuz gestanden. Sie haben, gesehen, wie Gott verlor und die Welt siegte. Was aber ist aller Atheismus der Heiden gegenüber dem Gang dieser beiden Frauen zum Grabe Jesu! Wem Gott nie begegnet ist, dem kann man ihn auch nicht totschlagen. Wenn die Heiden sagen: „Es gibt keinen Gott“ [vgl. Ps 14,1], dann scheiden sie damit nur diese Frage grundsätzlich und von vornherein aus den Daseinsfragen überhaupt. Und ihre Weisheit ist ein leerer Satz, bei dem in der Voraussetzung bereits die Behauptung steckt. Wer ihn „glaubt“, erliegt einer Gedankenlosigkeit. So lebt der Wurm, der jenseits der Lichtwelt vegetiert. Aber hier, bei den Frauen am Grabe, begegnen wir Menschen, die einmal vor dem Ereignis des offenen Himmels gestanden, die einmal begriffen haben, daß das Gottesreich nahe und daß Gott kein leerer Name sei, daß die Welt wieder ihre Mitte habe, eine Mitte, von der nun wirklich echte Herrschaft ausstrahlte, eine neue Gerechtigkeit. Eben dahinein, in diese Mitte, traf der Schlag, der mit dem Tode des Jesus von Nazareth beabsichtigt war. Es war der Sieg jener Mächte, die dekretiert hatten, daß Gott hier unten nichts mehr zu suchen habe. Merkwürdig, wer sich diesen Mächten alles zur Verfügung stellte, Juden und Römer, Kaiphas und Pilatus, die Aristokraten und die Massen.
Das also ist die Situation, unter der die Frauen ihren Gang zum Grabe ihres Glaubens und ihrer Hoffnung antraten. Und doch begann jener Morgen, der zum Weltenmorgen werden sollte. Nein, der Stein, den die Gewalthaber versiegelt hatten, war nicht der Schlußstein dieser Geschichte geworden [vgl. 1. Petr 2,6-8]. Die Geschichte des Jesus von Nazareth begann eigentlich erst jetzt. Erst von diesem Punkt jenseits des Todes her wird er fortan die Seinen dirigieren; jetzt wird sich die Sache sehr bald umkehren, die Richter von gestern werden — diesem einen gegenüber — die Gerichteten von morgen sein. Alle die je an Jesus geglaubt haben, werden sich fragen, wie sie je dazu kamen, es für möglich zu halten, daß der Tod ihn bezwingen konnte. Der Tote lebt, und im Grabe liegt nun der Tod selber — wie die morgenländischen Kirchenväter sagen, wie das alte Kampflied der Mönche von St. Gallen sang: „Mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen“ [EG 518] und „Die Schrift hat verkündet das, wie ein Tod den andern fraß“ [EG 101,4 – Christ lag in Todesbanden]. So haben die Frauen etwas an diesem Grab gelernt, was man an keinem anderen Ort lernen kann: sie haben den Zweifel gelernt, den Osterzweifel, der an allem zweifeln läßt, an dem Tod und dem Triumph der Mächte, die ihren Herrn ins Grab legten, an dem Sosein dieser Welt, ihrer Nacht und Sünde, ihrer in sich geschlossenen Endlichkeit und Todesdichte — nur an einem nicht mehr: an Jesu, an der Offenbarung des lebendigen Gottes mitten unter uns.
Es war in der Dahlemer Gemeinde Martin Niemöllers. Niemöller war der Gemeinde genommen. Ein junger Prediger sprach über die Osterbotschaft. Er sagte: „Vor einigen Tagen hörte ich in einem Vortrag über die geistige Situation der Zeit ein Wort, auf dem Grunde aller heutigen Weltanschauungen läge die Überzeugung: ‚Lasset uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot.‘ [Jes 22,13] Das also ist das Dogma des heutigen Menschen, daß alles andere unsicher sei, aber der Tod gewiß. Doch dieses Dogma muß nun angezweifelt werden. Ein Osterzweifel muß in das Herz kommen, ein fröhlicher und respektloser Osterzweifel gegenüber der Herrschaft des Todes auf Erden, gegenüber der Hoffnungslosigkeit unseres Lebens, der Unabänderlichkeit des Weltlaufs, den harten Gesetzen des Vergehens, der Sinnlosigkeit des Leidens, der Überlegenheit der Macht über das Recht, der Unterworfenheit der Wahrheit unter die Lüge. Ein fröhlicher Zweifel, nicht aus einer optimistischen Weltanschauung, die ohnehin rasch erschüttert ist, sondern ein Zweifel von Gott, von der Osterwirklichkeit her.“ ([Helmut] Gollwitzer: „Jesu Tod und Auferstehung [nach dem Bericht des Lukas, TEH 77, München: Evangelischer Verlag Albert Lempp, 1941, S. 74f.]“).
Auch heute, in dieser Nacht, da hinter dem Kreuz die dunkle, böse, wie eine riesige Spinne alles in ihr Netz hineinziehende Welt der Mächte und Gewalten aufleuchtet, in allen giftigen Farben schillernd, die Menschen faszinierend und vergiftend, sitzt der Engel in seinem reinen Kleid und spricht zu denen, die dieser Riesenspinne ins Gesicht schauen: Fürchtet euch nicht. Es ist alles nicht wahr. Wahr ist allein, daß Jesus lebt. Wahr ist, daß die Geschichte des Jesus von Nazareth weitergeht, so wie sie begonnen hat: in Galiläa und von Galiläa aus. Wahr ist, daß es von nun an heißen darf: Tamen vicisti, Galilaee! [Doch du hast gewonnen, Galiläer!]
Der Text basiert auf Hans Joachim Iwands Predigtmeditation zu Mt 28,1-10 von 1947, abgedruckt in: Hans Joachim Iwand, Predigtmeditationen. Zweite Folge, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, o.J. [1973], S. 26-33. Die Bibelzitate stammen aus der Lutherbibel 1912.
Quelle: DIE ZEIT, Nr. 13, Donnerstag, 25. März 1948, S. 4.
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