Zeit ohne Finale? Zum Hintergrund der Debatte über «Resurrektion oder Reinkarnation»
Von Johann Baptist Metz
Im Hintergrund der Debatte, die in diesem Heft über «Resurrektion oder Reinkarnation» geführt wird, steht meines Erachtens das Problem der Zeit. Zwei «Zeitbotschaften» stehen einander gegenüber: die dionysisch gestimmte Botschaft Friedrich Nietzsches von der Zeit ohne Finale, sozusagen von der Ewigkeit der Zeit, und die biblisch apokalyptische Botschaft von der befristeten Zeit.
Von der Divinität der Zeit
Friedrich Nietzsche: Wir kennen ihn als Künder des Todes Gottes im Herzen Europas. «Gott ist tot», das ist die Botschaft des «tollen Menschen» in Nietzsches «Fröhlicher Wissenschaft». Gott ist tot, und die Kirchen sind nichts anderes als «die Grüfte und Grabmäler Gottes»[1]. Was «ist», wenn Gott tot ist?
Nietzsches Botschaft vom Tode Gottes ist, genau besehen, eine Botschaft von der Zeit. Seine Aufkündigung der Herrschaft Gottes ist die Ankündigung der Herrschaft der Zeit, der elementaren, der unerbittlichen und undurchdringlichen Hoheit der Zeit. Gott ist tot. Was nun in allem Vergehen bleibt, ist die Zeit selbst: ewiger als Gott, unsterblicher als alle Götter. Es ist die Zeit ohne Finale, ja — wie Nietzsche ausdrücklich betont — «ohne Finale ins Nichts»[2]. Es ist die Zeit, die nicht beginnt und die nicht endet, die Zeit, die keine Fristen kennt und keine Ziele, keine himmlischen Ziele und keine irdischen Ziele, keine spekulativ durchschauten Ziele wie bei Hegel und keine politisch zu verwirklichenden Ziele wie bei Marx. Es ist die Zeit, die nichts will außer sich selbst, die Zeit als die letztverbliebene Majestät, nachdem alle metaphysisch erbauten Throne gestürzt sind, die Zeit als das einzige nachmetaphysische Faszinosum. Über Jahrtausende waren wir bemüht, uns einen Begriff vom unbegreiflichen Gott zu bilden. Nun versuchen wir uns in immer neuen Anläufen an einer Definition der undefinierbaren Zeit — angeführt oder irritiert von Nietzsche, von Heidegger u.a. Es gehört zu den bemerkenswertesten «Zeichen der Zeit», daß gegenwärtig über nichts so viel gerätselt und nachgedacht, publiziert und gestritten wird wie über die Zeit selbst[3].
Im Bann der entfesselten Zeit
Immer mehr sind wir einem anonymen Druck der Beschleunigung ausgesetzt, einer undurchsichtigen Mobilisierung unserer Lebenswelt. Wir leben im mythischen Bann der losgelassenen, der entfesselten und sich selbst überlassenen Zeit. Die Angst geht um, daß wir darin uns selbst abhanden kommen könnten. «Romantik» ist in der intellektuellen Kultur gefragt, und der nervöse Ruf nach «Heimat» hat Konjunktur. Nietzsche seinerseits wußte sehr genau, in welch geradezu apokalyptisch anmutende Turbulenzen die Menschheit gerät, wenn sie sich von der Apokalypse, wenn sie sich also von der Zeit mit Finale endgültig verabschieden will: «Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittag angezündet werden?»[4] Vielleicht gewöhnen wir uns an die diffuse Atmosphäre der Ortlosigkeiten und der Beschleunigungen, an die selbstlaufenden Prozesse, in denen das Medium wichtiger ist als die Botschaft, die immer raschere Vermittlung interessanter als das zu Vermittelnde. Vielleicht gewöhnen wir uns an die Verbote, die niemand öffentlich angeschlagen hat, die aber umso nachhaltiger in unseren Köpfen wirken: die Demobilisierungsverbote, die Verweilverbote, die Verzögerungsverbote. Vielleicht werden wir unempfindlicher gegenüber dem Umstand, daß wir zwar immer mehr erkunden können, daß wir uns aber immer weniger vertraut machen können.
Ewige Wiederkehr des Gleichen
Nietzsche macht einen Vorschlag, wie der von ihm proklamierten Hoheit der Zeit Rechnung zu tragen sei[5]. Um «des Willens Widerwillen gegen die Zeit» zu brechen, bietet er, wie er selbst bekennt, seinen «abgründigsten Gedanken» auf: den Gedanken von der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Dem Werden soll, als höchstem Ausdruck des Willens zur Macht, der Charakter des Seins aufgeprägt werden. So formuliert es eine als «Rekapitulation» bezeichnete Notiz Nietzsches von 1885. Das Vergehen soll als ständiges Werden in der ewigen Wiederkehr des Gleichen vorgestellt und so «beständig» gemacht werden. Nietzsches Formel für Heideggers «Sein und Zeit» lautet: «Daß alles wiederkehrt, ist die extremste Annäherung einer Welt des Werdens an die des Seins — Gipfel der Betrachtung.»[6]
Das mag zunächst abstrakt klingen und weit entfernt von der alltäglichen Erfahrung der Herrschaft der Zeit. Aber was ist mit der Vermutung über die Seelenwanderung, die heute wieder viele Menschen beschäftigt? Was vor allem ist mit der Vorstellung von der Reinkarnation, die immer mehr Anhänger findet? Spiegelt sich darin nicht etwas von der suggestiven Macht dieses frühgriechischen Mythos von der Wiederkehr des Gleichen, auf den Nietzsche sich bezieht? Das jüngste Buch des deutschen Schriftstellers Botho Strauß trägt den befremdlichen Titel «Beginnlosigkeit»[7]. Es ist der literarisch-ästhetische Versuch über eine Kosmologie, – für die die Welt weder einen Anfang noch ein Ende hat, eine Paraphrase also zur sog. steady-state-cosmology[8], und das Exerzitium eines Denkens und Sehens, das sich die Vorstellung von Anfang und Ende versagt. Offensichtlich korrespondieren die Thesen von der Beginnlosigkeit und der Finallosigkeit der Weltzeit.
Kierkegaards Protest
Kierkegaard seinerseits wandte sich energisch gegen den Gedanken von der Wiederkehr des Gleichen. Er stellte ihm die wiederholende Erinnerung entgegen. Karl Löwith berichtet in seinem Nietzsche-Buch von einem Versuch Kierkegaards. Dieser Versuch galt der Frage, ob sich etwas so wiederholen lasse, daß dabei ein Gleiches wiederkehrt. «Er (Kierkegaard) war schon einmal in Berlin gewesen und wiederholt nun diese Reise, um zu erproben, welche Bedeutung die Wiederholung haben kann. Er erinnert sich dabei, wie dies und jenes das erste Mal gewesen ist und ausgesehen hat, muß aber gerade in Folge seines Erinnerns entdecken, daß sich nichts wiederholt, sondern alles anders geworden ist, als es war. Der Wirt und die Wohnung, das Theater und die ganze Stimmung, in der er das erste Mal die Stadt betrat, alles ist mit der Zeit anders geworden, so daß selbst das wenige, was sich gegenständlich gleich geblieben ist, in der neuen Situation auch nicht mehr zu der anders gestimmten Umgebung paßt und dadurch ebenfalls anders ist als zuvor. So weit es im Einzelnen eine Wiederholung gibt, ist es eine ‹verkehrte›, weil sich das Ganze, welches die Richtung für alles Einzelne gibt, nicht gleich geblieben ist. Gerade die Rückerinnerung an das Gewesene lehrt ihn die Unmöglichkeit einer Wiederkehr des Gleichen.»[9]
Die Erinnerung entkräftet die Vorstellung von der Wiederkehr des Gleichen. So wäre in einer Zeit, in der die Menschen immer weniger aus ihren Erinnerungen und immer mehr aus ihren Reproduktionen leben und sich als ihr eigenes Experiment verstehen, an die der Wiederkehr widerstrebende Macht der Erinnerung zu erinnern. Zu widerstehen wäre einer besonderen Art des Vergessens: jenem Vergessen des Vergessens, durch das sich die Herrschaft einer beginn- und endlosen Zeit in unseren Seelen befestigt[10].
Gott und Zeit
Die biblische Botschaft ist in ihrem Kern auch eine Zeit-Botschaft, eine Botschaft vom Ende der Zeit. Alle biblischen Aussagen tragen einen Zeitvermerk, einen Endzeitvermerk. Im biblischen Israel begegnet uns ein Volk, das unfähig scheint, sich von Mythen oder Ideen trösten und besänftigen zu lassen. Der Mythos scheint ihm letztlich gleich fern zu sein wie die Metaphysik[11]. Es verwandelt sich immer wieder in eine Landschaft von Schreien. Das diesseitsbegabte, weltverstrickte Israel hat — nach allen wichtigen Zeugnissen — seinen rettenden Gott nicht hinterweltlich geglaubt und gedacht, nicht als das Jenseits zur Zeit, sondern als das befristende Ende der Zeit. Diese Gotteserfahrung gilt für die abrahamitischen Traditionen: «Gott zieht Abraham auf den Weg»; sie gilt für das Exoduswort: «Ich werde bei euch sein als der ¡eh bei euch sein werde»; sie gilt für die Krisen- und Umkehrbotschaft der Propheten, in der sich die Landschaft Israels in eine eschatologische Landschaft verwandelt; sie gilt für Hiob und seinen Schrei: Wie lange noch?; und schließlich gilt sie für die spät alttestamentliche, tief ins Neue Testament hineinreichende Apokalyptik und ihre Theodizee. Gewiß wäre zu den apokalyptischen Traditionen viel Differenzierendes zu sagen (und ich kann hier nur auf die einschlägigen Artikel in diesem Heft verweisen). Hier sei nur eines betont: Diese Apokalyptik ist in ihrem Ansatz nicht, wie ihr häufig in kritischer Absicht unterstellt wird, eine geschichtsferne Spekulation, eine katastrophensüchtige Vermutung über den Zeitpunkt des Endes der Welt; sie ist im Kern vielmehr der Versuch, das befristete Wesen der Weltzeit aufzudecken, sie ist der Ansatz zur Verzeitlichung der Welt im Horizont befristeter Zeit.
Das gilt nun auch und gerade für die Gründungsgeschichte des Christentums. Was die Theologie später «Naherwartung» nennen wird, umspannt die ganze neutestamentliche Szene. In ihrem Horizont hat Jesus gelebt und gelitten, und unter ihrem Zeitverständnis hat Paulus seine Christologie formuliert und seine Mission praktiziert. Dabei bedeutet für Paulus die Vorstellung der Zeit als befristeter nicht etwa eine Entleerung und Entwürdigung der Zeit und der in ihrem Horizont begegnenden Welt. Die Zeit ist für Paulus keineswegs eine belanglose Durchgangszeit, sie ist nicht Wartezimmerzeit. Der Horizont befristeter Zeit bedeutet keine Entwichtigung von Gegenwart (wie das häufig auch in der Theologie unterstellt wird); im Gegenteil: erst in ihm wird «Gegenwart» in jener emphatischen Weise erfahrbar, wie sie für Paulus kennzeichnend ist. Sein endgültiges und unwiderrufliches nũn, sein «Jetzt» laßt sich nur im Horizont befristeter Zeit aussagen; im Horizont induktiv unendlicher Zeit gibt es nichts End-gültiges, sondern nur Hypothetisches! Der Apokalyptiker Paulus ist Missionar. Ohne ihn und seine Sendungstätigkeit ist das geschichtliche Projekt Europa, das, was wir später «christliches Abendland» nennen, undenkbar. Im Horizont befristeter Zeit wandelt sich die Welt zur Geschichtswelt; diese spezifische Zeiterfahrung wird zur Wurzel des Verständnisses von Welt als Geschichte und damit zum Auftakt geschichtlichen Bewußtseins.
Der Apokalyptiker Paulus ist offensichtlich auch keineswegs ein Untergangsfanatiker. Er überzieht und vergiftet nicht die politische Landschaft mit zelotisch angeschärften Untergangsphantasien. Man lese nur einmal sein (uns heute eher irritierendes) nüchternes Plädoyer für den römischen Staat in Röm 13. Der Horizont befristeter Zeit macht die, die bewußt in ihm leben, weder zu Voyeuren noch zu Terroristen des eigenen Untergangs. Totalitäts- und aggressionsanfällig wurde das Christentum erst, seit es versucht, das apokalyptische Erbe völlig zu enttemporalisieren: etwa durch strikte Moralisierung. Das führte zur apokalyptischen Überanstrengung des sittlichen Handelns; und hier lauert tatsächlich die Gefahr des Fanatismus und der distanzlosen Praxis.
Zeiteskapismus der Theologie
Die Art, wie das Christentum zur Theologie wurde, hat den dramatischen Zusammenhang zwischen Gott und Zeit, wie er aus den Urschriften begegnet, immer mehr verstellt. Die Theologie hat — aus hier nicht zu erörternden Gründen[12] — das Zeit-Wort, das ihr aus dem biblischen Erbe aufgedrängt ist, vergessen oder halbiert oder entspannt. Sie lebt inzwischen vielfach von fremden, von geborgten Zeitverständnissen, die es fraglich machen, wie in Verbindung mit ihnen der Gott der biblischen Überlieferung überhaupt noch anzusprechen und zu denken sei. Von den geborgten Zeitverständnissen, die in der Theologie zu finden sind, nenne ich diese: die zyklische Zeit; die vom prästabilierten Kosmos eingerahmte Zeit; die linear-teleologische Zeit; das Fortschrittskontinuum, insofern es entweder evolutionistisch leer ins Unendliche wächst oder aber auch dialektisch verzögert und unterbrochen wird; die strikt lebensgeschichtlich psychologisierte und individualisierte Zeit, abgekoppelt von der Welt- und Natur zeit — und überhaupt neomythische Zeitvorstellungen. Selbst in der Theologie scheint Nietzsche mehr Chancen zu haben als das Erbe der Apokalyptik, sofern es als Temporalisierungsprogramm zu gelten hat.
Seit den Tagen des Markion und seinem dualistischen Axiom von der Heillosigkeit der Zeit und der Zeitlosigkeit des Heils gibt es so etwas wie eine gnostische Dauerversuchung der christlichen Theologie. Sie verschärft sich heutzutage im Dualismus zwischen Lebenszeit und Weltzeit. Können wir überhaupt noch die Rede von Gott in einen Zusammenhang mit der Weltzeit bringen? Huldigen wir hier nicht einem heimlichen Dualismus? Wir überlassen die Weltzeit einer leeren, anonymen Evolutionszeit und suchen nur die individuelle Lebenszeit in ein Verhältnis zu Gott zu bringen. Haben wir aber damit nicht — gut gnostisch — den Schöpfergott längst preisgegeben und huldigen wir nicht ausschließlich einem in den Tiefenräumen unserer Seelen vermuteten Erlösergott? Kann sich aber eine Theologie, die am Bekenntnis zum Schöpfergott festhält, der Spannung zwischen Kosmologie und Psychologie, zwischen kosmologischer und psychologischer Zeitauffassung entziehen? Um das mindeste zu sagen: Nicht die individuelle Lebenszeit, sondern gerade auch die Zeit der Anderen, nicht der Vorlauf in den eigenen Tod, sondern die Erfahrung des Todes der Anderen hält die eschatologische Unruhe wach.
Die Angst in den Ängsten
Die tödliche Krankheit der christlichen Religion ist nicht etwa Naivität, sondern — Banalität. Banal kann die christliche Religion werden, wenn sie in ihrem Kommentar zum Leben nur das verdoppelt, was ohne sie — und nicht selten gegen sie — ohnehin zum modernen Konsens wurde. Die Naivität der biblischen Religion hingegen lauert diesen Selbstverständlichkeiten auf. Sie tut es z.B. dadurch, daß sie bei Texten und Bildern der biblischen Apokalypse einen Augenblick länger verweilt und ihnen wenigstens etwas länger standhält, als dies der moderne Konsens zu erlauben scheint. Wenn die christliche Religion auf die apokalyptische Weisheit und ihre Zeitbotschaft rekurriert und in ihr Elemente einer gefährlichen Erinnerung vermutet, dann tut sie das nicht, um den Lauf der Zeit mit apokalyptisch gestimmter Schadenfreude zu kommentieren; sie tut es vielmehr, um die Quellen unserer Angst aufzuspüren.
Wovor ängstigen wir uns? Es gibt ja viele angebbare Quellen unserer einzelnen Ängste — nicht zuletzt auch im religiös-kirchlichen Leben. Um sie aufzuspüren und zu beruhigen, können der Rat und die Kritik der Psychologie durchaus hilfreich sein, hilfreich, damit solche Ängste endlich verschwinden: Ängste, die lähmen und einschüchtern, die uns kleinmachen und unaufrichtig, unfrei und leicht beherrschbar … Aber gibt es nicht so etwas wie eine tiefersitzende Angst in allen unseren einzelnen Ängsten, eine Angst, die uns alle durchstimmt? Wenn wir weniger Angst vor unserer Angst hätten, wüßten wir vermutlich genauer, was uns wirklich ängstigt!
Vermutlich war der archaische Mensch immer geängstigt vom Gefühl des nahen Endes seines Lebens und seiner Welt; und diese mythische Angst hat auch seine Arbeit an der Welt gelähmt. Etwas von dieser mythischen Angst schlägt auch in den gegenwärtigen Katastrophenängsten durch. Doch für den modernen Menschen gibt es eine radikaler gewordene Angst. Es gibt eine Angst nicht nur davor, daß alles zu Ende gehen und etwa der Planet dem Untergang geweiht sein könnte, sondern — tiefersitzend — eine Angst davor, daß überhaupt nichts mehr zu Ende geht, daß es überhaupt kein Ende gibt. Es gibt eine Angst davor, daß alles und alle hineingerissen sind in das Gewoge einer antlitzlosen und gnadenlosen Zeit, die schließlich jeden von hinten überrollt wie das Sandkorn am Meer und die alles gleichgültig macht wie der Tod. Auch ein atomar explodierender Planet bliebe schließlich dem endlosen Tod einer Zeit «ohne Finale ins Nichts» ausgeliefert. Diese Art der Zeitherrschaft treibt jede substantielle Erwartung aus; sie erzeugt jene heimliche Identitätsangst, die an der Seele der modernen Menschen frißt. Sie ist schwer entzifferbar, weil sie unter den Chiffren von Fortschritt und Entwicklung längst erfolgreich eingeübt ist, ehe wir sie, für Augenblicke, auf dem Grund unserer Seelen entdecken.
«Aufs Schlimmste zu»
Eines der berühmten Stücke von Samuel Beckett trägt den Titel «Endspiel». In ihm fragt der eine Dialogpartner, namens Hamm, voller Angst: «Was ist los? Was passiert eigentlich?» Und der andere, namens Clov, antwortet ihm: «Irgendetwas geht seinen Gang.» Das sind Dialogfetzen aus der Tragödie vom Erlöschen des Lebens — vom lautlosen Erlöschen des Lebens, ohne jegliches apokalyptisches Geschrei. «Irgendetwas geht seinen Gang». An dieser Zeit ohne Finale stirbt der Mensch, der Mensch, wie wir ihn bisher geschichtlich kennengelernt haben. Die von Nietzsche als Tod Gottes verkündete Majestät der Zeit fordert ihre Opfer. Die Herrschaft der Zeit ohne Ende fordert das Ende des Menschen ein. Keiner wußte das besser als Nietzsche selbst. Entsprechend redet er häufig von der «Abschaffung des Menschen», er spricht jedenfalls vom Tod des Subjekts, er hält das Subjekt für eine bloße Fiktion und das «Ich» wie den bisherigen Menschen überhaupt für den eigentlichen Anthropomorphismus[13]. Und was ist mit Nietzsches Traum vom neuen Menschen, vom erhöhten Menschen, vom Übermenschen, der aus seiner Botschaft von der Zeit ohne Finale geboren werden soll? Mir fällt dazu nur die Vision vom ganz und gar zeitunempfindlichen Menschen ein, vom Menschen als sanft funktionierender Maschine, vom Menschen als computerisierter Intelligenz, die sich nicht zu erinnern braucht, weil sie von keinem Vergessen bedroht ist, vom Menschen als einer Digitalintelligenz ohne Geschichte und ohne Passion. Gewiß, auch das wäre ein Triumph der Zeit über Gott, über Gott — und über die Menschen. Kein Finale könnte je so schlimm sein wie gar kein Finale.
In dem Text «Auf’s Schlimmste zu» von Samuel Beckett steht dies zu lesen: «Verlangend, daß alles vergehe. Trübe vergehe. Leere vergehe. Verlangen vergehe. Vergebliches Verlangen, daß vergebliches Verlangen vergehe.»
JOHANN BAPTIST METZ, 1928 in Auerbach (Bayern) geboren. 1954 zum Priester geweiht; Doktor der Philosophie und der Theologie; Professor für Fundamentaltheologie an der Universität Münster. Von seinen zahlreichen Veröffentlichungen sind besonders zu erwähnen: Zur Theologie der Welt (Mainz 51985); Glaube in Geschichte und Gesellschaft (Mainz 51992); Jenseits bürgerlicher Religion (Mainz 41984). Anschrift: Kapitelstraße 14, 48145 Münster.
Quelle: Concilium 29, 1993, S. 458-462.
[1] Friedrich Nietzsche, Werke in 3 Bänden (Darmstadt 21960 = ed. Schlechta I-III) hier: II, 126ff.
[2] F. Nietzsche, Werke III, aaO. 853 (Nachlaß).
[3] Vgl. z.B. die Zeitbibliographie bei H. Lübbe, Im Zug der Zeit (Berlin 1992) 25-35.
[4] F. Nietzsche, Werke II, aaO. 127.
[5] Zu den nachfolgenden Nietzsche-Zitaten vgl. J.B. Metz, Theologie versus Polymythie oder Kleine Apologie des biblischen Monotheismus, in: O. Marquard (Hg.), Einheit und Vielheit (XIV. Deutscher Kongreß für Philosophie) (Hamburg 1990) 170-186, spez. 175f; abgekürzte Fassung in: Herder Korrespondenz, April 1988.
[6] F. Nietzsche, Werke III, aaO. 895 (Nachlaß).
[7] München 1992.
[8] Sie erinnert an die Lehre von der «Ewigkeit der Welt», die Augustinus als unvereinbar mit der Lehre von der Schöpfung erklärt. Vgl. z.B. E. Behler, Art. Ewigkeit der Welt, in: J. Ritter/K. Gründer (Hg,), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2 (Basel 1972), 844-848.
[9] K. Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen (Stuttgart 1956) 177.
[10] Vgl. z.B. J.B. Metz, Für eine anamnetische Kultur, in: H. Loewy (Hg.), Holocaust: Die Grenzen des Verstehens (Reinbek 1992) 35 ff.
[11] Einzelheiten dazu bei J.B. Metz/T.R. Peters, Gottespassion (Freiburg 1991).
[12] Vgl. meinen in Anm. 5 angegebenen Text.
[13] Zu den einschlägigen Belegen aus Nietzsches Werk vgl. nochmals Anm. 5.