Jüdischer Witz zur christliche Erfindung eines jüdischen Rachegottes
Von Robert Raphael Geis (1906-1972)
Es gehört sicherlich zu dem Merkwürdigsten und Rätselhaftesten, wenn Christen ständig auf ihre Religion der Liebe pochen und dabei in einer grenzenlosen Naivität übersehen, wie sie Juden und die Ketzer des eigenen Glaubens gemartert und umgebracht haben. Welche erbitterte Feindschaft zwischen Katholizismus und Protestantismus gab es und gibt es teilweise noch heute, welch gehässiges Mißverstehen unter den verschiedenen reformierten Bekenntnissen, von der Einstellung gegen alle Enterbten und Entrechteten, ob Bauer, Arbeiter oder Farbiger ganz zu schweigen. Man kann sich des Eindruckes manchmal nicht ganz erwehren, das Christentum habe den jüdischen Rachegott erfunden, um den eigenen Gott in Himmels Höhe zu setzen und auf Erden ungestört hassend handeln zu können. Bittere Ironie, auf die der Jude oft – was blieb ihm sonst schon übrig – mit einem Witz reagiert. Ein solcher Witz sei hier angeführt:
Ein berühmter Prager Rabbiner stand mit einem hohen katholischen Würdenträger auf recht freundschaftlichem Fuß. Die beiden unterhielten sich oft und der katholische Geistliche konnte es dann selten unterlassen, auf die Vorzüge seines Glaubens hinzuweisen. Bei einem gemeinsamen Spaziergang sagte der Priester: euer Gott ist ein Gott der Rache, unser Gott aber ein Gott der Liebe. Das solltet ihr doch endlich einsehen. Darauf der Rabbi: ja, ja, ich weiß das schon lange und erfahre es oft. Unser Gott ist ein Gott der Rache, wir überlassen ihm die Rache und üben die Liebe. Bei euch ist es gerade umgekehrt. Ihr überlaßt Gott die Liebe, bei euch aber bleibt die Rache, o, welche Rache.
Quelle: Versuche des Verstehens. Dokumente jüdisch-christlicher Begegnung aus den Jahren 1918–1933, herausgegeben und eingeleitet von Robert Raphael Geis und Hans-Joachim Kraus, ThB 33, München: Chr. Kaiser, 1966, S. 81f.