Karl Rahner, Geheimnis des Herzens (1947): „Sein Herz heißt Herz Jesu Christi! Es ist ein end­liches Herz und doch das Herz Gottes. Wenn es uns liebt und so die Mitte unseres Herzens wird, ist alle Herzensnot von uns genommen. Denn sein Herz ist Gottes Herz und hat doch nicht die erschreckende Vieldeutigkeit seiner Unendlichkeit. Aus diesem Herzen sind Menschenworte emporgestiegen, innige Worte, Herzensworte, Worte Gottes, die doch nur einen Sinn, nur einen beglückenden Sinn haben. An seinem Herzen, in diesem Herzen wird unser Herz ruhig.“

Geheimnis des Herzens

Von Karl Rahner S. J., Pullach bei München

Purpurnes Geheimnis aller Dinge — spricht die Kirche in einem Hymnus von Gertrud von Le Fort —, Du einsames Herz, Du allwissendes Herz, Du weltüberwindendes Herz …

Herz, das ist — so steht in den metaphysischen Gesprächen der Hedwig Conrad-Martius —, „die Mitte des Menschen, in die sein ganzes Wesen, wie es sich in Seele, Leib und Geist gebiert, auseinanderfaltet und verströmt, wieder in eins genommen und gesetzt wird, in der es gleichsam zentral ver­knotet und befestigt ist, in der alle „Blutströme“, alle Wege des persönlichen Lebens zusammenlaufen, um von ihr wiederum auszugehen. Nichts kann der Mensch als ganzer, er ganz persönlich, sagen, wollen und tun, was nicht aus dieser Mitte seiner selbst stammt, in der allein eben sein ganzes Wesen in eins gesetzt ist. Alles andere ist leer, unsubstantiell und im persönlichen Sinne wesenlos“.

Herz nennen wir also die Einheit in der Vielfalt des Menschen, jenen letzten Grund des Wesens eines Menschen, aus dem heraus er in die Viel­falt seines Wesens, Denkens und Tuns ausgeht, aus dem sich all das ent­faltet, was er ist und wirkt, und in dem dieses alles doch ursprüng-lich eins war, im Ausgang eins bleibt und end-lich wieder eins wird. Herz nennen wir den inneren Grund des menschlichen Wesens, in dem der Mensch sein Alles in einem hat, all-ein ist. Herz ist die All-einigkeit des Menschen, seine Einigkeit, seine Innigkeit, seine Ein-samkeit. Und diese All-einigkeit des Herzens offenbart und verhüllt sich zumal in allem, was der Mensch sonst noch ist und tut. Denn diese ganze Vielfalt des Menschen in Sein und Tun wäre nicht, wenn sie nicht wie aus einem lebendigen Grund erblühte aus dem Herzen des Menschen, und sie verhüllt zugleich diesen verborgenen Grund, weil seine Wasser nie ganz an jene Oberfläche treten, die wir im Alltag Wesen und Tun des Menschen nennen.

Das Herz ist die All-einigkeit des Menschen. Aber darum ist der Mensch immer auch allein und einsam in dem Sinn, den der Alltag diesen Worten gibt, die Sprache des Marktes, die nicht mehr ahnt, welche Abgründe in menschlichen Worten verborgen sind. Denn dort, wo der Mensch ganz und unwiederholbar er selber ist und er ganz selber sein einmaliges Schicksal, dort, wo er nicht mehr sich und sein Werk in Stücken auf den Markt des Alltags tragen kann, dort also, wo er sein Herz ist, dort ist der Mensch mit dieser All-einigkeit seines Seins und Lebens auch allein und einsam. Allein, weil das Herz, das all-eine nie ein Gattungsbegriff ist, nie eine Münze ist, die durch viele Hände wandern kann, sondern immer nur je sich selbst und dem Gott, der es geschaffen, gehört. Und darum ist auch nur das Herz all-wissend, all-einwissend. Denn der Mensch weiß eigentlich nur, was ihm eigen ist. Denn was er sonst weiß, weiß er nur, weil es die Region seines eigenen Seins ist, in die hinein er die Vielfalt seines Lebens ausbreitet, die Welt, oder weil es das Geheimnis seines all-einen Herzens ist, Gott. Und darum ist alles innige, alles umfassende und ganze Wissen, das mehr ist als eine Summe von Gleichgültigkeiten, Wissen des Herzens, erlebtes und er­littenes Wissen der Mitte des Menschen, wo Geist und Leib, Licht und Liebe in einem Abgrund ungeschieden zusammenwohnen. Das Herz in sei­ner All-einigkeit ist all-wissend, weil es alles, was es weiß, in einem weiß, weil es sich selber besitzt.

Aber was ist dieses alleine, allein-wissende Herz des Menschen, das Herz, in dem die Welt innig wird und gesammelt, das Herz, das der dunkle Grund des Menschen und all seiner Taten ist? Ist dieses Wesen verweslich oder wesentlich? Schatten oder Wirklichkeit, Tod oder Leben? Ist die letzte Er­fahrung der Schrift an den rund tausend Stellen, wo sie vom Herzen spricht, die bittere Weisheit des Predigers: cor sapientium, ubi tristitia est, et cor stultorum, ubi laetitia (Der Weisen Herz weilt im Trauerhaus, doch im Haus der Freude das Herz der Toren [Pred 7,4]), oder der Glaube des Paulus, daß im Herzen der Morgenstern aufgeht und der Friede ewig froh­lockt? Wenn der Mensch sich sammelt in seinem Herzen, wenn alles Sein und Wirken aus der Zerstreuung letztlich immer wieder zurückfließt in den einen Grund, den wir das Herz nennen, was geschieht dann dort? Was er- – fährt der Mensch, wenn er so im Herzen erfährt, was er zu eigen hat, was er eigentlich ist? Ist der Grund das Nichts oder die Fülle? Ist Fülle und Wirklichkeit nur in der Vielfalt und ist Alleinigkeit nur ärmliche Verein­samung? Grenzt das alleine Herz an die Unendlichkeit, oder ist es als Ende aller Dinge und Wirklichkeit die Stelle, wo die Alleinigkeit zu sich selber kommt, um in ihre eigene Endlichkeit hineinzuversickern und zu verzwei­feln? Heißt Herz die Mündung aller Bäche unseres Seins ins Meer der Un­endlichkeit oder ist es das Tor, durch das alle sterbende Wirklichkeit sich müde hindurchträgt zum Tod, der bleibt? Ist das Zusammenrinnen all unse­rer Wirklichkeit im Herzen das Ende der Täuschung, wir seien etwas, weil die ungesammelte Vielfalt nicht merken ließ, daß ihre innige Summe nichts ist? Ist es nicht so, daß ein Mensch schon in der Alltagserfahrung um so enger und leerer erscheinen kann, je gesammelter, und um so reicher, je zerstreuter und ausgegossener er ist? Scheint es nicht so: wer sich besitzt, hat eben nur sich, und das andere besitzen kann nur, wer sich an es verliert? Ist so nicht Sammlung auf das eine Herz Zerstreuung des Alls, und Zerstreuung in das All seine einzig mögliche Sammlung? Gibt es also doch keine Alleinigkeit und ist die einzige, die es gibt, die Alleinig­keit des leeren Herzens? Das ist also die letzte Not, die innerste Not, die Herzensnot: daß das Herz des Menschen, die endliche Mitte der Welt, nur der Ort zu sein scheint, wo die eigene Armut des Menschen über sich selber erschrickt und besten Falls die Endlichkeit aller Dinge entlarvt wird, die nie alles in einem sein können. Müssen wir unser Herz lieben und suchen, weil wir nur so bei uns sind, oder hassen und fliehen, weil wir in unserem Grund nur die Nichtigkeit unseres eigenen Wesens besitzen?

Wir sind ja leicht mit einer Antwort bereit. So schnell, daß es vielleicht besser wäre, wir hätten sie nicht so rasch bei der Hand, daß wir die Frage nicht mehr verstehen. Wir sagen: Gott. Ach, das ist ehe Antwort, die ganze, gesetzt nur, daß wir sie verstehen. Ja, er ist die Alleinigkeit, die Fülle und nicht Leere, die Leben und nicht Tod ist. Er ist die Mitte, das Herz der Welt, in dem alle Wirklichkeit gesammelt und doch nicht in dumpfe Enge zusammengepreßt ist, der abgründige Schoß, in dem doch alles licht ist, die Einheit, die nicht durch Verneinung erkauft ist. Aus seinen Sergen strömen . alle Wasser ewig hinab in das Tal unserer Niedrigkeit und die Kammern dieser Berge bleiben ewig gleich voll. Er ist nicht bloß, wie unser Herz, das Heiz eines Menschen, sondern das Herz aller ^Wirklichkeit, die all-eine Innigkeit aller Dinge, die vor aller Vielfalt und Zerstreuung ist und solcher Vielfalt nie bedarf, um alles zu sein. Er kann eines, sein, ohne einseitig, alles sein, ohne all-gemein zu sein.

Aber haben wir damit eine Antwort für die Not unseres Herzens gefun­den? Haben wir das Herz unseres Herzens schon genannt, wenn wir Gott sagen? Ist damit schon gesagt, daß die Alleinigkeit auch unseres Her­zens Fülle und nicht Leere ist, Wirklichkeit und nicht verzweifelte Einsam­keit, daß die innige Allwissenheit unseres Herzens das Unendliche und nicht unsere Nichtigkeit umschließt? Oder gerät nicht gerade durch diese so schnell hingesagte Antwort unser Herz, die Mitte unseres Seins, erst in die äußerste Gefahr? Denn ist er das Herz unseres Herzens, — selbst wenn wir als Philosophen schnell und vorlaut ja sagen ist dann unsere Herzensnot, gebannt oder erst ihre letzte Not genannt?

Wir erklären so leicht mit der Weisheit der Welt Gott zum Herzen unseres Herzens, und wähnen damit gesagt zu haben, daß unser ist die volle Ein­heit und die eine Fülle, die unsere leere Einigkeit erfüllt, ohne daß sie ausgehen muß in die volle Zerstreuung. Aber auch wenn wir sagen, daß Gott das Geheimnis unseres Herzens, die Erlösung unserer Herzensnot ist, dann mäg, wenn wir das recht bedenken, es uns in Furcht und Zittern schei­nen, daß es das Furchtbarste ist, wenn Gott die Mitte unserer Mitte wird. Ist denn seine eigene Unendlichkeit, in der alles dasselbe ist, nicht nur für ihn erträglich? Er freilich ist immer alles in jeder seiner Eigenschaften und in jeder seiner Taten. Er hat sein ganzes Herz in allem, was er ist und tut, so daß alles bei ihm immer reich und innig zumal ist. Aber wenn er so zu uns kommt? Dann ist er auch uns in jedem alles. Er braucht nicht eigens zu sorgen, daß der Blitz seiner Allmacht, wenn er in unser Leben hineinfährt, für ihn auch das milde Licht seiner Weisheit sei. Er kann sein ganzes Sein in seine Macht hineinrauschen lassen, und seine Wasser sind doch von nirgends fortgeflossen und haben keine Möglichkeit frei­gegeben, die er nicht mehr mit seiner Wirklichkeit erfüllte. Er kann über uns als unerbittliches Gericht kommen, und für sein Ohr ist sein ewiges Verdammungsurteil noch der Jubel, der seine unermeßliche Güte preist. Aber für uns und unsere Enge ist gerade das furchtbar und erschreckend und läßt alle Fugen unserer Endlichkeit auseinanderweichen. Er ist immer er selber ganz, ist immer sein Herz, wie immer er mit uns handelt, ob er uns liebt oder an uns vorbeigeht, ob seine Macht oder seine Güte, sein Ge­richt oder seine Barmherzigkeit an uns offenbar wird. Aber gerade weil er so die eine, die all-eine Unendlichkeit alles Seins ist und bleibt, wie immer auch er sich an uns erzeigt, darum wissen wir, wenn wir an seine alleinige Unendlichkeit Berufung einlegen, nicht, wie er zu uns ist, wissen nicht, wenn wir ihn kühn als das Herz unseres Herzens erklären, ob das Gericht . oder die Gnade zur Mitte unseres Herzens wird. Gerade wenn wir sein Herz einsetzen wollen, damit die notvolle Rechnung unseres Herzens aufgehe, schreiben wir die rätselvolle Zahl seiner vieldeutigen Unendlichkeit, und die Rechnung unseres Herzens wird erst recht, erst eigentlich zu einem un­lösbaren Rätsel. Er soll die Mitte unseres Herzens sein und soll sich darum selbst uns schenken, er gibt das Herz seiner innigen, aber vieldeutigen Un­endlichkeit, und macht so alle Fügung unserer Endlichkeit zunichte, wird zur Bedrohung unseres Lebens, die uns aus jeder Sicherheit hinausscheucht.

Die Philosophen wissen nur von Gott, daß wir ihn nicht kennen und müssen den selig preisen, dem das Licht seines Geistes so weit leuchtet. Wenn sie mehr von ihm zu wissen vorgeben, lügen sie. Denn sie können nicht wis­sen, ob er uns aus Gnade liebt oder gerechten Gerichtes haßt. Und was wissen wir von ihm, wenn wir das nicht wissen? Wie irrsinnig wäre es, über ihn nachzudenken und seine Eigenschaften aufzuzählen, wenn wir nicht wüßten, ob sie auf uns herniederfallen wie ein vernichtender Blitz oder wie segnender Tau. Alle Weisheit der Welt kann das nicht wissen. Denn sie hat nie gewußt vom Gericht Gottes, dem wir alle verfallen waren. Ohne das aber bleibt alle Wahrheit tragische Naivität oder Bosheit.

Die Mitte unseres Herzens muß Gott sein, das Herz der Welt muß das Herz unseres Herzens sein. Er muß uns sein Herz schenken, damit unser Herz ruhig werde. Sein Herz muß es sein. Aber es darf nicht das Herz sein, das alles und jedes in unergründlicher Einheit umfaßt. Er muß zur Mitte unseres Wesens ein Herz machen, das wirklich das Herz des unend­lichen Gottes und doch ein Herz ist, daß nicht alles ist, das nur eines bedeutet, nur der Grund von einem ist. Er muß, damit das tödliche Er­schrecken über seine vieldeutige Unendlichkeit und unsere Herzensnot von uns weiche, sein Herz endlich werden lassen, zu der Eindeutigkeit werden lassen, die unser Leben ist, es eingehen lassen in unsere Enge, damit es die Mitte unseres Lebens werden könne, ohne daß es das enge Haus unserer Endlichkeit, in dem allein wir leben und atmen können, zerstört.

Und er hat es getan. Und sein Herz heißt Herz Jesu Christi! Es ist ein end­liches Herz und doch das Herz Gottes. Wenn es uns liebt und so die Mitte unseres Herzens wird, ist alle Herzensnot von uns genommen. Denn sein Herz ist Gottes Herz und hat doch nicht die erschreckende Vieldeutigkeit seiner Unendlichkeit. Aus diesem Herzen sind Menschenworte emporgestiegen, innige Worte, Herzensworte, Worte Gottes, die doch nur einen Sinn, nur einen beglückenden Sinn haben. An seinem Herzen, in diesem Herzen wird unser Herz ruhig. Wenn es uns liebt, dann wissen wir, daß die Liebe eines solchen Herzens nur Liebe ist und sonst nichts. In ihm wird das rätselvolle Geheimnis des Herzens der Welt, das Gott ist, zu dem purpurnen Geheimnis aller Dinge, daß Gott die Welt in ihrer Verlorenheit geliebt hat. Nur in diesem Herzen wissen wir, wer Gott uns sein will, nur an ihm verwandelt sich das Rätsel, in das alle Weisheit der Welt führt, zu dem beglückenden Geheimnis der Liebe. In ihm wird unser Herz allwis­send, weil es das eine weiß, ohne das alles Wissen nur Eitelkeit und Geistes­plage ist und alle Erfahrung unseres Herzens nur Verzweiflung wirkt, weil es weiß, daß es eins ist mit dem Herzen Gottes, an dem noch die Diebe und Mörder Verzeihung finden, mit dem Herzen, in dem unsere tiefsten Nächte Tage geworden sind, weil es sie mit uns getragen, mit dem Herzen, in dem alles sich in die eine Liebe verwandelt.

Wenn es unser Herz ist, kann unsere Vielfalt eingehen in die Alleinigkeit Gottes, ohne in ihr zu verbrennen. In ihm kann unsere Zerstreuung gesam­melt werden, ohne enge zu sein, kann unser Herz ausströmen in die Weite der Welt, ohne sich zu verlieren. Jesu Herz ist das Herz Gottes in der Welt, in dem allein sie ihren Gott findet als ihr seliges Geheimnis, in dem allein Gott wird zum Herzen unseres Herzens, in dem unser Wesen seine Mitte findet: einig und allumfassend zumal.

Quelle: Geist und Leben 20 (1947), S. 161–165.

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