Kirchlich-theologische Sozietät, Ein Wort an die Gemeinden zur Entnazifizierung (1946): „Darf ich denn als Christ andere anklagen und belastende Tatsachen gegen sie vorbringen? Die Ant­wort muss heißen: Wenn du ohne den Drang nach persönlicher Vergeltung nicht reden kannst, dann schweig! Wenn du aber im Namen unschuldiger Opfer, um der Sühne böser Taten willen, um der Sicherung des Volkes und vor allem der Jugend vor neuem Nationalsozialis­mus und Militarismus willen Tatsachen vorbringen kannst, dann rede und steh zu deiner Rede!“

Ein Wort der Kirchlich-theologischen Sozietät an die Gemeinden zur Entnazifizierung

Liebe Mitchristen!

Nationalsozialismus und Militaris­mus sind nach Wurzel, Geist und Taten unchristlich. Das hätten wir aus Gottes Wort erkennen sollen. Aber wir sind den falschen und bösen Weg gegangen und mit­gegangen aus Irrtum oder aus Torheit oder aus Angst. Wir können es nicht leugnen, daß wir Menschen mehr geliebt haben als Gott und daß wir uns vor Menschen mehr gefürchtet haben als vor Gott. Nun sind uns wohl die Augen aufgegangen über den furchtbaren Früchten dieser einst so verlockenden Bäume, und wir sind wohl bereit, anzuerkennen, daß Gott uns jetzt den Weg ver­sperrt hat, den wir freiwillig nicht mehr verlassen woll­ten und konnten, daß Gottes Gericht über die Menschen­vergötterung und Menschenverachtung bei uns ergangen ist. Aber dieses Gericht ist mit der ganzen Wahllosigkeit einer Katastrophe hereingebrochen; es hat Millionen vernichtet und hat uns Überlebende in willkürlicher Verschiedenheit getroffen, hat den einen Heimat, Hab und Gut genommen und die andern nahezu verschont, hat die einen an den Rand der Verzweiflung geführt und andere kaum gestreift. Da ist es nicht verwunder­lich, daß immer wieder die Frage nach der Schuld ge­stellt und darüber mit Leidenschaft gestritten wird. Wir hören es von ernsten Christen, und auch die Führer der Kirche haben es in der Stuttgarter Erklärung aus­gesprochen: Wir alle sind schuldig! Ja, wir sind wahr­haftig nach all dem, was in unsrem Volk und durch unser Volk geschehen ist, an den Bußruf der Propheten und des Herrn Christus selber erinnert. Wir hören die Einladung Gottes: „Suchet mich, so werdet ihr leben!“ und wir hören die Warnung: „O weh des sündigen Volkes! was soll man weiter an euch schlagen, so ihr des Abweichens nur desto mehr macht?“ Millionen Ermor­deter, Millionen Verhungerter, Millionen ihrer Heimat und Familie Beraubter klagen auch die an, die nur geschwiegen haben, und wir Christen dürfen nicht auf andere Steine werfen und uns selber rechtfertigen. Wir müssen vergeben und müssen gemeinsam die Lasten tragen und gemeinsam büßen und sühnen. Aber wir hören auch andere Stimmen, die sagen: Nein, es ist eine offene Ungerechtigkeit, daß nun alle in gleicher Weise büßen sollen, was nur ein bestimmter Teil des Volkes durch Mißbrauch von Macht und Ansehen, durch Fanatismus, Verbrechen und Verführung verschuldet hat. Jeder, der besonders eifrig auf dem Weg des Bösen mitgegangen und vorangegangen ist, wird nur zu gern mit einstimmen: „ja, wir sind alle schuldig und müssen jetzt einander alle vergeben“, weil er so seine besondere Schuld zum großen Haufen werfen kann. Mag es noch so wahr sein, daß alle mitverantwortlich sind, so gibt es doch deutlich Stufen und Grade der Beteiligung an dem Empörenden und Unmenschlichen, das geschehen ist. Müssen wir nicht auch diesen Stimmen recht geben? Ja, könnte man nicht mit gutem Grund sagen: nur die Führer und die Aktivisten sind schuldig und nicht die Verführten, die Schlächter und nicht ihre Opfer, die Tätigen und nicht die Leidenden und vollends nicht die tapfer Warnenden und Widersprechenden? Aber wer kann dann der Versuchung entgehen, den andern zu richten und sich selber freizusprechen? Wie sollen und können wir beides verbinden, das gemeinsame Schuld­bekenntnis und das nüchterne Urteil über das verschiedene Maß der Verschuldung, die Vergebung und die Forderung nach gerechter Strafe und Sühne?

Liebe Mitchristen! Wir haben es seit der Kapitulation wohl schon merken können, wie viele die Gunst der Kirche und den Schutz der christlichen Liebe suchten, nicht um Buße zu tun, sondern um ihre Stellung zu behaupten und der Strafe zu entgehen. Wir haben aber auch zu hören bekommen, wie viele sich ihrer Ver­gangenheit rühmen und andere verurteilen und ver­dammen. Und endlich haben wir in dieser Zeit auch Beispiele genug erlebt, daß harmlose und kleine Sünder Brot und Beruf, ja die Freiheit verloren, während die großen Sünder es verstanden, sich umzustellen und im Sattel zu bleiben. Sollen da die Christen sich wieder zurückziehen und bald verärgert, bald in stiller Er­gebung eben der Ungerechtigkeit der Welt ihren Lauf lassen? Nein, Freunde, Buße tun heißt wirklich büßen, sich dem Gericht stellen und bereit sein, willig zu sühnen und nach bester Kraft wiedergutzumachen. Buße tun heißt aber auch, Verantwortung für die andern zu tragen und entschlossen dem Unrecht zu wehren und furchtlos der Wahrheit und dem Recht zu dienen. Wenn wir glauben, daß Gott uns durch die Niederlage und den Zusammenbruch befreien wollte von Nationalsozia­lismus und Militarismus, dann haben wir auch fröhlich und dankbar den Weg in diese Freiheit zu gehen, so steil und schwer er für viele sein mag. Wir wissen wohl, daß uns nur die frohe Botschaft von Christus durch sei­nen Geist innerlich und wahrhaftig frei machen kann von Anmaßung und Angst, von Haß und Heuchelei, aber wir dürfen gerade darum nicht versäumen, das zu tun, was unsere Sadie ist und was in unsrer Macht liegt, mit der Vergangenheit zu brechen und abzurechnen, so menschlich und äußerlich und dem Mißbrauch und Unverstand ausgesetzt auch unsere Versuche sein mögen.

Wenn nun seit einigen Monaten das „Gesetz zur Be­freiung von Nationalsozialismus und Militarismus“ in Kraft und in Durchführung begriffen ist, so werden wir ein solches Gesetz um dieser seiner Absicht willen be­grüßen. Das Gesetz kann freilich nur von außen wirken, kann nur strafen und hindern, kann nur Sühne fordern und das öffentliche Leben säubern und sichern. Es kann aber nicht die Herzen bekehren oder vor Verbitterung und Verstockung beschützen. Was es aber kann in Strenge und Milde, um uns frei zu machen von einer bösen Vergangenheit und uns wieder ehrlich zu machen vor der Welt, das sollen wir fördern mit christlichem Mut und mit christlicher Demut vor Gott und den Menschen. Freilich hat das Gesetz Härten und Schwächen und es hat auch schon genug Kritiker gefunden, auch unter ehrlichen Christen. Es wird ihm vorgeworfen, es sei ein Rachegesetz der Feinde und wolle mit mechanischer Schroffheit die Mehrheit der oberen Schichten in Ächtung und Armut verstoßen oder es sei grundsätzlich ungerecht, weil es nachträglich Handlungen, ja sogar Gesinnungen mit Strafe bedrohe, welche bisher durch Recht und Ge- setz geschützt, ja geboten waren. Andere sagen, es sei zu milde, es biete zu viele Möglichkeiten zu großzügiger Amnestierung der Schuldigen oder es habe zu viele Lücken für die Schlauen und für die Heuchler, und wieder andere verurteilen es als unchristlich, weil es den bösen Geist der Angeberei und der raffinierten Selbstentschuldigung großziehe. Dürfen wir mit solchen und ähnlichen Gründen und kritischen Urteilen beiseite­stehen und die Verantwortung ablehnen für ein Gesetz, das so gewaltige Bedeutung für die Zukunft von Millio­nen hat, das für so viele eine neue Last der Sorge und Angst, ja der Bedrohung der Existenz und für uns alle eine starke Erprobung der Ehrlichkeit und der Gerech­tigkeitsliebe mit sich bringt? Wenn wir hier versagen, dann könnten wir bald wieder gespalten sein in Unter­drücker und Unterdrückte, in willenlose Masse und maßlose Herren oder aber könnte da und dort Em­pörung, Verbitterung oder Verzweiflung zu wildem Ausbruch kommen. Wir haben als Christen kein Recht, den Gesetzgebern zu mißtrauen oder dem Gesetz von vornherein Mißerfolg zu prophezeien, wohl aber haben wir die Pflicht, das Gesetz ehrlich nach Inhalt, Sinn und Absicht zu prüfen und dann das, was an uns ist, zu tun, daß es ohne Haß und Gunst der Menschen mithelfe zur Bereinigung der Vergangenheit und zur Sicherung der Zukunft in der Abwendung von dem heillosen Irr­weg des Nationalsozialismus und Militarismus.

Zum Gesetz selber sei hier nur einiges Grundsätzliche gesagt. Nach dem Gesetz sollen „alle, die die national­sozialistische Gewaltherrschaft aktiv unterstützt oder sich durch Verstöße gegen die Grundsätze der Gerechtigkeit und Menschlichkeit oder durch eigensüchtige Ausnutzung der dadurch geschaffenen Zustände verantwortlich gemacht haben, von der Einflußnahme auf das öffentliche, wirtschaftliche und kulturelle Leben ausgeschlossen und zur Wiedergutmachung verpflichtet“ werden. Wir müs­sen es dankbar als gerecht anerkennen, daß hier weder das ganze Volk noch nur die obersten Führer des Volkes vor menschliche Richter gestellt werden, sondern die zur Rechenschaft gezogen werden sollen, die besonderen Einfluß, besondere Schuld und besonderen Nutzen im Dritten Reich hatten. Wenn es dann heißt: „Die Be­urteilung des einzelnen erfolgt in gerechter Abwägung der individuellen Verantwortlichkeit und der tatsäch­lichen Gesamthaltung“ und wenn fünf Gruppen der Verantwortlichen unterschieden werden, so können wir das Vordringen zu gründlicher Einzelbehandlung und die Abstufung der Sühne und Säuberungsmaßnahmen nur gutheißen. Alle sollen also gesiebt werden, zunächst natürlich nach äußeren, festen Maßstäben, nach Rang, Tätigkeit und Verdienst im Dritten Reich, dann aber auch besonders nach den belastenden und entlastenden Tatsachen jedes einzelnen Falles und endlich nach dem Persönlichkeitswert, nach Charakter und Leumund. Einen neuen Weg des Rechts geht das Gesetz allerdings damit, daß es nicht nur den Geist eines bisherigen Rechts- und Staatssystems ablehnt, sondern gerade die besondere Treue zu ihm als gegen Gerechtigkeit und Menschlichkeit verstoßende Haltung verurteilt. Wir halten es für recht, daß nachdem so lange despotische, unmenschliche Befehle einerseits und feiger, menschen­unwürdiger Gehorsam andererseits Moral und Rechts­sinn zerstört haben, nun der Mensch auf eine ihm zu­mutbare Moral, Verantwortlichkeit und Gewissenhaftig­keit hin angesprochen wird, auch wenn wir wissen, daß ohne Gottes Gebot das menschliche Gewissen irrt. Einen neuen Weg des Rechts geht das Gesetz auch damit, daß es Anklage erheben läßt auf Grund nur vermuteter Schuld oder Mitschuld und dem Beklagten das Recht und die Aufgabe gibt, die Vermutung zu widerlegen. Wir halten es für recht, daß der Mensch auf seine Ehr­lichkeit und tapfere Verantwortungsbereitschaft hin angesprochen wird und nicht mehr blindlings gelobt oder verdammt wird, auch wenn wir wissen, wie gern der natürliche Mensch seine Schuld leugnet oder be­schönigt.

Gerade darum aber, liebe Mitchristen, sind wir nun auch verpflichtet als solche, die sich demütigen wollen unter die gewaltige Hand Gottes, uns ehrlich, nüchtern und furchtlos der menschlichen Anklage zu stellen, uns selber streng und gerecht zu prüfen ohne Beschönigung, ohne Verheimlichung, aber auch ohne Übertreibung, und dann, wenn uns menschliche Sühnemaßnahmen treffen sollten, sie willig anzunehmen in der frohen Gewißheit, daß der Vater im Himmel denen vergibt, die ihre Missetaten bekennen und lassen, und daß er es uns erst recht zum Besten dienen lassen wird, wenn uns ein Unrecht geschehen sollte. Wir wollen dafür beten, aber auch dafür arbeiten, daß dieses Gesetz nicht zu unserm Scha­den ausschlägt, daß nicht nachher die Mehrheit der Belasteten sich schuldlos entrechtet und verurteilt fühlt in Verbitterung gegen die Entlasteten und daß nicht nachher die Mehrzahl der Entlasteten die andern ver­achten und nur Nutznießer des Gesetzes zu werden be­gehren. Aber freilich wird und soll dem Christen man die Frage zu schaffen machen, wenn es ihm ehrlich um die Gemeinschaft der Sünder vor dem Gnadenstuhl Christi, um Vergebung und Barmherzigkeit, aber ebenso ehrlich auch um entschlossene Abkehr vom bösen Weg, um Reinigung und Säuberung von Vergiftung und Verseu­chung und in allem ehrlich und menschlich um gerechte Verteilung der Sühne für die Vergangenheit und der Lasten der Zukunft zu tun ist. Er wird sich fragen müssen: darf ich denn als Christ andere anklagen und belastende Tatsachen gegen sie vorbringen? Die Ant­wort muß heißen: Wenn du ohne den Drang nach persönlicher Vergeltung nicht reden kannst, dann schweig! Wenn du aber im Namen unschuldiger Opfer, um der Sühne böser Taten willen, um der Sicherung des Volkes und vor allem der Jugend vor neuem Nationalsozialis­mus und Militarismus willen Tatsachen vorbringen kannst, dann rede und steh zu deiner Rede! Ein Christ wird sich auch fragen müssen: darf ich mich denn selber rechtfertigen, wo ich mich doch vor Gott mitschuldig weiß? Die Antwort muß heißen: Wenn du zur Rechenschaft vor dem Gesetz gefordert bist, so geht es nicht um ein allgemeines Schuldbekenntnis und auch nicht um deine Selbstrechtfertigung, sondern um die ehrliche Prüfung deiner Vergangenheit nach den Maßstäben irdischer Gerechtigkeit, wodurch gerade deine Selbst­erkenntnis gereinigt wird von der Überheblichkeit des Pharisäers, aber auch von der frommen Selbsttäuschung unechter Demut. Bezeuge getrost deine Unschuld vor dem menschlichen Gesetz, aber wisse, daß Gott die Her­zen erforscht und vor ihm kein Sterblicher gerecht ist, und daß er von dem viel fordert, dem er viel gegeben hat.

Eines freilich steht fest: Du darfst dich nicht selber freisprechen und du darfst den andern nicht richten. Freuen wir uns, daß Gott uns in Christus freigesprochen hat und alle unsere Sünden vergibt, und daß wir alle vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden müssen, damit ein jeglicher empfange, was seine Taten wert sind. Wenn wir dem Recht dienen ohne Ansehen der Person, so richten wir nicht, sondern verhelfen der Obrigkeit zu rechtem Urteil in ihrem Amt, die Bösen zu strafen und die Guten zu loben. Und wenn wir ehr­lich Zeugnis geben von unserem Gewissen und unseren Taten, so rühmen wir uns nicht selber, sondern dienen vor Gott der Wahrheit, daß sie frei ans Licht komme, und beugen uns willig dem menschlichen Urteil. Lieber aber wollen wir Unrecht leiden als den Brüdern Ärger­nis geben und der Gemeinde Gottes zur Schande gereichen. Und lieber wollen wir den Nächsten entschuldigen als ihn mit dem Maß des Pharisäers messen. So sollen wir wahr sein in der Liebe und nicht um der Wahrheit willen die Liebe verleben, aber auch nicht um der Liebe willen der Wahrheit Abbruch tun. Wir glau­ben, daß nur gerecht sein kann, wer barmherzig ist, und nur aufrichtig sein kann, wer an die Vergebung der Sünden glaubt. So dienen wir in Demut vor Gott, in Verantwortung für alle und in freiem Gehorsam der Befreiung unseres Volkes von Nationalsozialismus und Militarismus. Und die Entlasteten werden dann die Gemeinschaft mit den Belasteten festhalten durch die Beugung unter die gemeinsame Schuld, und die Be­lasteten werden die Gemeinschaft mit den Entlasteten nicht verlieren durch das Zeugnis der befreienden Barm­herzigkeit und Vergebung Gottes. Wo aber ein Diener des Wortes selber zu den Belasteten vor dem Gesetz zählen sollte, hat er gern die Last besonderer Sühne zu tragen und so der Gemeinde seine Bußfertigkeit zu beweisen, damit sie ihn wieder mit gutem Gewissen bestätigen kann als den Botschafter an Christi Statt, der ihr das Wort der Buße und Gnade Gottes recht bezeugt. Wir alle aber wollen das Wort des Apostels als frohe Botschaft neu hören und glauben: „Ihr aber, liebe Brüder, seid zur Freiheit berufen. Allein sehet zu, daß ihr durch die Freiheit dem Fleisch nicht Raum gehet; sondern durch die Liebe diene einer dem andern“ (Gal. 5,13). „Der Herr kennt die Seinen. Es trete ab von Ungerechtigkeit, wer den Namen Christi nennt“ (2. Tim. 2,19), auch von der Ungerechtigkeit des Natio­nalsozialismus und des Militarismus.

Quelle: Kirche und Entnazifizierung. Denkschrift der Kirchlich-theologischen Sozietät in Württemberg, hrsg. in Verbindung mit Paul Schempp und Kurt Müller von Hermann Diem, Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag, 1946, S. 57-65.

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