Von Manès Sperber
I
Ich schreibe diese Zeilen mitten in der Stadt, deren Namen ich als Kleinkind im gestammelten Gebet täglich wiederholte, noch ehe ich den Namen meiner Familie oder meines Geburtsortes kannte. Jeruschalajim – diese fünf Silben, die für mich noch während langer Jahre ihren seltsamen Klang behalten sollten, glichen jenen Gelöbnissen, die uns zuweilen viel stärker an das Leben binden als ihre Erfüllung. So wußte ich denn wie alle meinesgleichen, daß Jerusalem die Stadt war, in die wir eines Tages zurückkehren würden: »Im nächsten Jahr!«, so hieß es in einem oft wiederholten Wunsch, der zugleich die messianische Hoffnung ausdrückte.
Ich lernte die Propheten übersetzen, vor allem Jesajas, dessen Botschaft mich Ungläubigen noch heute angeht, und Jeremias, dessen Leiden am eigenen Volk mich entdecken ließ, daß Liebe eine unversiegbare Quelle von Unglück sein kann. Jeremias, in dessen Reden ich zum ersten Mal der großen rhetorischen Poesie begegnete, klagte: »Sie sagen: ›Frieden, Frieden‹ aber es ist kein Friede!« Während der 65 Jahre, die seit meiner ersten Begegnung mit den Propheten verflossen sind, hat mich diese Klage wie der bedrängende Kehrreim eines Liedes begleitet, das seit Jahrtausenden nutzlose Mahnung bleibt.
Gott sandte die Propheten, um dem von ihm auserwählten Volke abwechselnd strafendes Unheil anzudrohen und das Glück des sich unaufhaltsam vermehrenden Lebens zu versprechen. Zornig oder erbarmungsvoll, stets sagte er ihnen die Dauer, die unverlierbare Dauer zu und das Land Kanaan, die noch zu erobernde und immer wieder verlierbare Heimat.
Jerusalem ist eine sehr alte Stadt, aber es ist nicht Jeruschalajim, das hat Nebukadnezar zerstört; es ist auch nicht die Stadt des zweiten und nicht die des herodischen Tempels, welche im Jahre 70 von Titus erobert und im zweiten Jahrhundert, nach dem endgültigen Sieg der Römer über das rebellische Gottesvolk, dem Erdboden gleichgemacht wurde. Seither ist diese Stadt oft genug neu erbaut und wieder zerstört worden, zumeist mit Berufung auf den gleichen Gott, den Gott meiner Ahnen. In den zwei Jahrtausenden unserer Zeitrechnung haben das gelobte Land und seine Hauptstadt das seltsame Schicksal erlitten, von seinen Eroberern stürmisch begehrt und gerühmt, aber nicht geliebt zu werden. Man lese die Berichte glaubwürdiger Reisender aus den vergangenen Jahrhunderten, etwa den Chateaubriands, und man wird erfahren, wie die Stadt der heiligen Stätten verkam, welch barbarischer Verwahrlosung das Land von seinen Eroberern ausgeliefert wurde. Es ist allerdings wahr: Diese schnell versteinerte, versandete, versumpfte Erde mußte man immer wieder urbar, die Scholle ohne Aufhör mit Wasser betrunken machen, damit sie vergesse, undankbar zu sein. Solches aber kann nur zustande bringen, wer dieses Land so liebt, wie man ein von tödlicher Krankheit bedrohtes Kind umsorgt. Das haben in den letzten achtzig Jahren junge Juden, nur sie, zustande gebracht. Die zwar stets gefährdete und dennoch bewahrte Dauer genügte ihnen nicht mehr; sie wollten, daß ihr Volk wie jedes andere seinen Bestand fortab nicht nur in der stets wechselnden Zeit, sondern in seinem eigenen, unverwechselbaren Raume gründe.
Während nun mein Blick auf den Wällen ruht, welche die viel umstrittene Stadt umschließen, suche ich ohne Hast, mit Gleichmut zu erforschen, welcher Art mein Judesein ist, mir selbst darüber Aufschluß zu geben, was mir heute und hier das Judentum bedeutet, zu welchem ich nicht nur durch die Geburt, sondern weit mehr noch deshalb gehöre, weil ich es auch unter den schlimmsten Bedingungen stets so gewünscht habe. Und das geschah von Anbeginn nicht wegen, sondern trotz seiner Auserwähltheit. Ob diese nun eine unentrinnbare Gabe oder eine zu schwere Bürde ist – diese Frage hat mich nur in jungen Jahren bekümmert, denn früh genug entdeckte ich, daß die Gnade uns anhaftet wie ein Höcker den Schultern. Nicht leichter als von diesem kann man sich von der Gnade, der erdrückendsten aller Lasten, befreien.
Auch weil ich die Bedrohlichkeit der Auserwähltheit nie vergessen konnte, wollte es mir nicht gelingen, das einzigartige Schicksal des jüdischen Volkes mit vernünftigen Gründen zu erklären. Und weniger als je wüßte ich heute zu sagen, warum gerade wir alles überdauert, so vieles überlebt haben. Seit langem scheint mir der Preis viel zu hoch für solche Dauer in der Zeit und das ungewollte Überall und Nirgendwo im Raum. Obschon dieses Schicksal ein historisch und philosophisch unentwirrbares Problem bleibt, dessen Lösung weit mehr Fragen aufwirft, als sie beantwortet, ist mir das Judesein so natürlich wie etwa einem Tiroler Bauern die Gewißheit, daß er gerade dort hingehört, wo sein Dorf liegt. Somit ist mein Selbstverständnis eine alltägliche Selbstverständlichkeit gegenüber Juden und Nichtjuden, gegenüber dem Glück und dem Unglück, ein Jude zu sein – im Jahre 70 der christlichen Zeitrechnung oder im Jahre 135 oder ein Jahrtausend später, in der Epoche der Kreuzzüge, oder schließlich nach der bürgerlichen Emanzipation und dem Beginn der Taufepidemien, der ebenso stürmischen wie erfolglosen Versuche recht vieler deutscher oder französischer Juden, sich selbst zu entfliehen.
Ein tätiger Zeitgenosse im 20. Jahrhundert, bleibe ich so ein Gefährte meiner Ahnen auf all ihren Wegen und Zeuge der Freveltaten, deren auserwählte Opfer sie wurden, wie der Wunder, die sie schließlich vor der völligen Ausrottung bewahrt haben.
Um so unverständlicher mag es scheinen, daß mir die als Klagemauer bezeichnete Westwand des Tempelhofes, dieses Ziel so vieler Pilger, nicht viel bedeutet. In der Tat weniger als zum Beispiel die Akropolis von Athen. Um es deutlicher zu sagen und zu erklären: Nicht nur den Bestand des jüdischen Volkes, sondern auch seinen Glauben und alles, was an ihm erhaltenswert sein könnte, hat der Verlust des Tempels und mit ihm die Abschaffung der Priesterschaft nachhaltig, ja entscheidend gefördert. Der Judaismus wurde gerettet, weil er fortab an keinen Raum und an keine Institution, weil er an nichts Verlierbares mehr gebunden war. Man denke an die Akropolis: Sie drängt ihren Bewunderern keinerlei Glauben an Zeus auf oder an Athene oder die anderen Bewohner des Olymps. In ihren Tempeln überlebt nur der schöpferische Mensch, die Götter aber sind die nach dem Ebenbilde des Menschen geformten Werke, denen unser Blick ein Dasein verleiht.
Erst als Gott seinen Tempel verlor und heimatlos wurde wie sein Volk, triumphierte er über die heidnischen Götter und die Lockung des Götzendienstes, der die Nachfahren Jakobs in Kanaan zu oft erlagen. Erst in der Diaspora verringerte sich diese Anfechtung, sie verschwand schließlich ganz, als der Christianismus, in eine Kirche verwandelt, unter anderem durch den Marienkult und die Vergötzung der parochialen Schutzheiligen Erbe des Heidentums wurde.
Nicht nur weil ich ungläubig bin, sondern weil ich zum Judentum gehöre, wittere ich in allen heidnischen Praktiken die feige Selbsterniedrigung des Menschen vor Tieren, Ungeheuern und idolisierten Mitmenschen. Und darin bin ich gewiß strenger als so viele orthodoxe Juden, die sich in ihrem Glaubensdurst manchen Aberglauben der Wirtsvölker zu eigen gemacht haben.
Gäbe es einen Gott, so wäre er, meine ich, zweifellos der jüdische. Habe ich mich zwar im dreizehnten Lebensjahr vom Glauben an ihn gelöst, so ist doch mein ketzerischer Werdegang von Anbeginn durch den Widerwillen gegen jede Idolisierung bestimmt gewesen; deshalb wurde ich wie so viele meinesgleichen ein unversöhnlicher Feind Stalins, der seinerseits zum Judenfeind wurde, als er sich anschickte, die Anbetung seiner Vollkommenheit mit unbegrenzter Gewalt zu erzwingen.
Um diese einleitenden Bemerkungen abzuschließen, erinnere ich daran, daß der Judaismus auf der Unmittelbarkeit der Beziehungen zwischen Gott und den Menschen beruht. Dieses Verhältnis wurde durch die Priesterkasten verschleiert und immer wieder gestört; nicht sie, sondern die Propheten waren es, die selbst in Lebensgefahr die Wahrheit des Judentums verkündeten und jene Hoffnungen begründeten, dank denen die Juden, obschon immer wieder geschlagen, stets unbesiegt geblieben sind. Die Propheten forderten von ihnen weit mehr, als sie versprachen, und luden ihnen die Bürde des Menschendaseins auf, als ob sie eine Gnade wäre, die man täglich aufs neue durch Werke verdienen müßte.
II
Nie erfaßt das Wirtsvolk klar genug das Wesen, somit die bestimmenden Gründe des Andersseins der Minderheit, die in seiner Mitte und doch stets am Rande lebt, indes die Minderheit ihrerseits unbedingt die jeweils bestimmenden Beweggründe der Mehrheit rechtzeitig erkennen und deuten muß, um alles zu vermeiden, was bei der Majorität Mißstimmungen hervorrufen könnte. Diese betrachtet es als selbstverständlich, daß nur ihre Art, zu sein und zu handeln, daß nur ihre Wertmaßstäbe natürlich, daß sie die sittlicheren sind, das heißt dem allgemeinen Interesse am förderlichsten. Auch wenn die Koexistenz allen zur Gewohnheit geworden ist, so bleibt doch stets ein Restproblem, das scheinbar plötzlich, jedenfalls unerwartet das friedliche Miteinander der ungleichen Gemeinschaften zu beeinträchtigen droht. Das geschieht, wenn sich der Autochthonen der Verdacht bemächtigt, daß die anderen insgeheim darauf sinnen, die Vormachtstellung der Majorität zu erschüttern und damit den etablierten Selbstverständlichkeiten alle Geltung zu bestreiten. Man denke daran, wie unvereinbar das katholische Selbstverständnis mit dem Geltungsanspruch einer lutheranischen Minderheit werden kann. Oder man denke an die in Stein gemeißelte »beschämte Synagoge« an der Fassade des Straßburger Doms; sie trägt ein Band vor den Augen und macht sich so selber blind, weil sie es vorzieht, das Licht der unanfechtbaren Wahrheit nicht zu erblicken; daneben sieht man die beschämende Ecclesia triumphans, die verfolgende Unschuld.
In der Mehrheit aufzugehen und so die eigene Identität zu verlieren, ist je nachdem die Befürchtung oder das Begehren vieler Angehörigen einer Minderheit, sofern diese nicht die herrschende Schicht ist. Beherrscht, erniedrigt, entrechtet und verfolgt, blieben jedoch die Juden zumeist frei von jener Befürchtung wie von jenem Begehren, denn für sie war es selbstverständlich, daß sie ihrem Gott und damit sich selbst unter allen Umständen treu bleiben müßten. Später, im vierten Jahrhundert ihres Exils, wurde ihnen diese Treue zum Verhängnis, das ihnen auf der christlichen Erde wie der eigene Schatten überall hin folgte. Damals verflüchtigte sich die bis dahin gehegte christliche Hoffnung auf eine zweite Parusia, auf eine Wiederkehr des Heilands, »ohne die« – so hieß es in einer Schrift – »es nicht möglich ist, an die erste zu glauben, weil diese nicht alle Prophezeiungen erfüllt hat … Aus diesem Grunde«, – hieß es weiter – »weigern sich die Juden zu glauben, daß es der Messias war, der damals gekommen ist.«
Ein Zeitgenosse des Autors dieses vor 1600 Jahren geschriebenen Textes, der Kirchenvater und Kirchenheilige Johannes Chrysostomos, der »Redner mit dem goldenen Munde«, predigte daher den erbarmungslosen Krieg gegen die Juden, um die Legitimität des christlichen Erlösungsanspruchs zu retten. Die Juden sollten Jesus als Messias endlich anerkennen oder ausgerottet werden, wenn sie in ihrer christfeindlichen Verstocktheit zu verharren wagten. Dieser Priester, der ebenso unversöhnlich wie erfolglos die Paganisierung der Kirche bekämpfte, war der bedeutendste Initiator des organisierten Hasses gegen die Juden, der sich aus einer funktionellen Feindseligkeit in einen totalen Haß verwandeln sollte. Wer solches Gefühl hegt, bringt es zustande, den Gehaßten hemmungslos zu verachten und ihn dennoch so maßlos zu überschätzen, als ob dieser über eine geheime und um so gefährlichere Macht verfügte.
Seit meiner Kindheit weiß ich, daß »in jeder Generation Hasser aufgestanden sind, um uns zu vernichten«: von den Amalekiten bis zu den Verleumdern des französisch-jüdischen Offiziers Dreyfuß und bis zu jenen theologischen Antisemiten, die noch zu Beginn dieses Jahrhunderts in Ritualmord-Prozessen als Fachleute des Judenhasses auftraten und zu Progromen hetzten.
Man hat mich früh gelehrt, den offenen und verhohlenen Haß zu durchschauen, und mir zugleich eingeschärft, mich niemals zum Haß hinreißen zu lassen. Eine Romanfigur, einen Wunderrabbi, lasse ich sagen, daß wir, wir allein trotz aller Niederlagen nur deshalb unbesiegt geblieben sind, weil wir uns stets davor bewahrt haben, im Kampfe dem Feinde zu gleichen. Wir durften Haman, Titus oder den Zaren verabscheuen, aber nicht das persische, das römische oder das russische Volk. In einem Essay über den Haß habe ich zwar die Judenfeindschaft als psychologisch aufschlußreiches Beispiel analysiert, jedoch nicht vom jüdischen Standpunkt aus, sondern im Hinblick darauf, daß niemand dauerhaft hassen kann, ohne den Gehaßten zu entmenschen und sein Bild bis zur Unkenntlichkeit zu entstellen. Das tut man, um in der totalen Negation des Anderen die absolute Bestätigung des eigenen Wertes zu finden und so den Zweifel an ihm zum Schweigen zu bringen.
III
Mehr als der Glaube an ihre Auserwähltheit hat die Juden ihr Martyrium zu einem judäozentrischen Selbstverständnis gedrängt. Ohne diese Leidensgeschichte je zu vergessen, bewahre ich mich entschieden davor, judäozentrisch zu denken. Wie so viele meinesgleichen habe ich ohne Rückhalt an Bewegungen und Aktionen teilgenommen, die keinerlei jüdischen Bezug hatten. Seit meiner frühen Jugend fühle ich mich mitbetroffen, herausgefordert, persönlich angefordert durch die Ereignisse unserer Zeit, durch Hoffnungen und Leiden überall in der Welt – dies in nicht geringerem Maße als meine nichtjüdischen Freunde.
Die Antisemiten werfen den Juden seit jeher ihre zu rege Beteiligung an allen emanzipatorischen Bewegungen vor. Und es trifft in der Tat zu, daß ihr Anteil an den Befreiungsbewegungen unserer Zeit relativ größer gewesen ist als der anderer Intellektueller. Dies erklärt sich daraus, daß die Intelligenz fast aller religiösen oder nationalen Minoritäten sich zu den Malkontenten hingezogen fühlt, sofern sie für das Recht der Entrechteten und gegen jegliche Diskriminierung einstehen. Andererseits fördert die biblische Erziehung tatsächlich das Streben nach Gleichheit und nach ungeschmälerter Gerechtigkeit für alle.
Die allgemeine bürgerliche Emanzipation, die allen Minoritäten die Gleichberechtigung zusicherte, rief damit assimilatorische Neigungen bei jenen Juden hervor, die sich nicht im mindesten an den jüdischen Glauben gebunden fühlten. Dies geschah genau in dem Maße, wie sich die moderne Gesellschaft von der Herrschaft der institutionalisierten Konfessionen befreite und alle Verhältnisse verweltlichte. Die Juden, mit seltenen Ausnahmen Städter, säkulasierten sich weit schneller als ihre christlichen Nachbarn und glaubten nun, sich ungehindert der Umwelt integrieren zu können, da ja die Verschiedenheit des Glaubens fortab keine Schranke mehr zwischen ihnen und den Christen bilden sollte. Um aber alle Bande mit der Vergangenheit sofort und unwiderruflich zu lösen, ließen sich manche dieser Assi- milanten taufen. Der Fall Heine ist bis auf den heutigen Tag aufschlußreich geblieben, ebenso der des Konvertiten Karl Marx. Im Gegensatz zum Dichter, der trotz der Taufe sein Judentum weder verleugnete noch herabsetzte, war Karl Marx ein rabiater, ja extremer Antisemit, der aufs energischste seine unableugbare Abstammung zu verleugnen suchte, indem er sein Volk und dessen Gott in Wort und Schrift gehässig verleumdete.
In der Tat gelang die völlige Assimilation selbst den aus Mischehen hervorgegangenen Nachkommen zumeist erst in der zweiten, dritten oder gar vierten Generation. Die säkularisierten Antisemiten ihrerseits ersetzten mühelos die traditionelle religiöse Begründung ihres Judenhasses durch eine rassisch, national oder sozial begründete Ideologie. »Die Gründe des Hasses erschöpfen sich niemals; die von ihm inspirierten Taten und deren unvermeidliche Folgen vermehren im Gegenteil beinahe täglich seine Vorwände und Gründe … Der Mensch, der gehaßt wird, vermag nichts gegen den totalen Haß. Es ist nicht einmal sicher, daß dieser erlöschen würde, wenn sein Opfer sich selbst vernichtete.« Diese Zeilen, die ich meinem vor 25 Jahren veröffentlichten Essay über den Haß entnehme, sind nicht unter dem Eindruck der organisierten Judenausrottung geschrieben worden. Als Psychologe, der die seelischen Voraussetzungen des totalen Hasses prüfte, gelangte ich zum Ergebnis, daß der Hasser, dieser rastlose Hetzer und Verfolger, von einer Angst verfolgt wird, die ihn auch noch dann beklemmen würde, wenn er endlich auf dem Massengrab seiner Opfer tanzen könnte.
Für mein Sein als Jude und für mein weltliches Sein und Tun hat der Haß stets nur eine geringe Bedeutung gehabt – vielleicht eben deshalb, weil sich mir der Judenhaß recht früh als ein extrem aggressiver Verfolgungswahn enthüllt hat, als eine völlig falsche, daher stets mißlingende Überkompensation einer Geist und Gemüt beherrschenden Allophobie, einer amokläuferischen Angst vor den andern, die der Hassende jedoch vor sich selbst zu verheimlichen sucht. In seiner monomanischen Feindschaft redet er sich ein, daß er den Gehaßten unerreichbar überlegen ist und sie verachten, aber auch fürchten muß, weil sie von teuflischer Schlauheit sind.
Der oft zitierte und noch öfter mißdeutete Selbsthaß von Juden, der die endlose Flucht vor der eigenen Identität begleitet und bald ihre Ursache, bald ihre Folge sein kann – dieser Selbsthaß ist keineswegs spezifisch jüdisch, denn er bemächtigt sich eines jeden, der sich mit seinen Verächtern identifiziert, weil er wähnt, er könnte sie so nicht nur entwaffnen, sondern sogar zu seinen Gunsten umstimmen. So handeln Menschen, die das Urteil über sich selbst von dem des andern, eben des Feindes, abhängig machen. Von einem das seelische Gleichgewicht erschütternden Unsicherheitsgefühl bedrängt, fragen sie sich immerfort, was wohl der Gegner über sie denken mag; sie fürchten am meisten, jenen zu mißfallen, von denen sie sich angefeindet oder verachtet fühlen. Aus Angst, unterworfen zu werden, unterwerfen sie sich im voraus; sie verachten sich selbst und werden verächtlich in der Hoffnung, so der Verachtung zu entgehen. Sie verpfänden dem Feinde ihre Ehre und untergraben den eigenen Daseinsgrund.
Juden meiner Art werden in ihrem Selbstwertgefühl durch die antisemitische Entwertungs- und Erniedrigungstendenz keineswegs betroffen; sie durchschauen die Motive der Verächter und verachten sie. Es fällt mir zum Beispiel leicht, Dostojewskis Antisemitismus zu mißachten, aber zugleich sein Werk zu bewundern und den unglücklichen Menschen zu bemitleiden, der er gewesen ist. Wende ich zwar meine Augen von jedem in dem Augenblick ab, da er sich beschämt fühlt, so blicke ich jedem ins Gesicht, der mich oder meinesgleichen beschämen will. Ich rühme mich nicht der beispielhaften, wahrhaft beispiellosen Glaubenstreue meiner Ahnen – sie ist nur mein Erbe, nicht mein Verdienst –, jedoch bringt mir jeglicher antisemitische Spott sofort in Erinnerung, daß ich deren Nachkomme bin, indes die Spötter mit seltenen Ausnahmen von Leuten abstammen, die im Laufe der Jahrtausende ihren Glauben oft und stets opportun gewechselt haben. Sie verbrannten, was sie vorher angebetet, und beteten an, was sie verbrannt hatten.
Die Juden sind insgesamt nicht intelligenter, nicht klüger als ihre Nachbarn; sie sind nicht besser, sie sind nicht ärger; nicht geiziger und, obschon häufig hilfreicher, auch nicht großzügiger als andere; nicht hochmütiger und nicht bescheidener. Aber sie allein sind durch Jahrtausende vor allem jenen ihrer Lehrer, so den Propheten, treu geblieben, von denen sie mit schmerzlicher Strenge gerichtet und häufig verurteilt worden sind. Nein, ich vergesse nicht, wie oft meine Ahnen ihre Rücken erniedrigend tief beugen mußten, um ihr nacktes Leben zu retten. Aber sie blieben stets das Volk des harten Nackens, von dem die Bibel spricht. Und wäre es nicht verkehrt, auf etwas stolz zu sein, das man nicht selbst bewirkt, sondern nur erhalten hat, so würde ich mich dieses harten Nackens rühmen. Er mag – halb im Ernst gesprochen – der einzige Lohn sein, der uns für die fordernde Gnade der Auserwähltheit zuteil geworden ist.
IV
Dem eingangs erwähnten Unverständnis, mit dem das Wirtsvolk den Eigenheiten der eingesessenen Minderheit begegnet, entspricht eine mehr oder minder verfehlte Reaktion, ein spezifisches Unverständnis, mit dem die Minorität ihrerseits ihre Nachbarn zuweilen betrachtet.
Es handelt sich insbesondere um folgende Mißdeutungen: Die religiöse oder ethnische Minderheit neigt dazu, ihre eigene Wichtigkeit zu überschätzen, und verkennt deshalb, daß die Mehrheit ihre Entscheidungen im Hinblick auf ihre eigenen Interessen trifft, daß sie also nicht, um die anderen herabzusetzen, zu benachteiligen, sich selbst die meisten Vorteile zu sichern sucht. Jede Majorität ist egoistisch, jede Minorität wird es, sobald sie zur Mehrheit wird oder sich dieser einverleibt. Wer vor langer Zeit aus der Fremde gekommen ist, mag vergessen, daß er ein Zugewanderter ist, die Einheimischen aber vergessen es nie.
Die Juden bilden überall – außer in Israel – nicht nur eine ethnische, sondern auch eine konfessionelle Minderheit, die das verbriefte Recht ausübt, ihren Traditionen treu zu bleiben. Jedoch wittern sie Feindseligkeit, sooft man auf ihre Besonderheit gerade dann hinweist, wenn die nationale Zugehörigkeit erörtert wird. Diesen nur scheinbaren Widerspruch suchen, wie gesagt, viele Juden durch einen Bruch mit aller Tradition und unter Umständen durch die Taufe zu entgehen.
Nun, ich bin solch ein ungläubiger Jude. Nicht ein einziger der zahllosen Riten, die den Alltag und den Festtag der Gläubigen beherrschen, hat für mich noch Geltung. Desungeachtet habe ich nie die geringste Neigung empfunden, mein Judesein zu verleugnen oder mich ihm zu entfremden. Nicht religiös und nicht ein Israeli – was bin ich denn für ein Jude? Diese Frage läßt nur eine persönliche Antwort zu, gilt also jeweils nur für den einzelnen, in diesem Falle für mich. Sie mag für andere Juden in meiner Lage gar nicht gelten.
Ich bin ein Jude, weil ich in meiner Kindheit von einer alles umfassenden, alles durchdringenden jüdischen Erziehung geformt worden bin. Man lehrte mich, alles im Hinblick auf Gottes Gebote zu erkennen, zu verstehen und zu deuten; noch vor dem Schulalter las ich die Bibel im Original, daneben auch deutsch, etwa Grimms Märchen, und die Zeitung, die aus Wien kam. Man belehrte mich aufs eindringlichste über die von der biblischen Ethik angeordneten Lebensregeln, deren gebieterischste für mich unabänderlich geblieben ist: den Einklang von Glauben und Tun, von Theorie und Praxis zu erlangen und in seinem Sinne zu leben. Ich wage nicht zu behaupten, daß ich dieses Gebot stets befolgt habe, aber ich habe nie aufgehört, an jenen Lebensregeln zu ermessen, ob ich jeweils meinem Leben einen Sinn gab oder in Gefahr geriet, es sinnwidrig zu vergeuden.
So handeln, wie es gut wäre, daß alle handeln sollten; nie vergessen, daß man nicht nur für das eigene Tun verantwortlich ist, sondern für alles Übel, das man verhindern oder zumindest vermindern könnte; immer gemäß dem Rat handeln, den uns Rabbi Hillel hinterlassen hat: »Was du nicht willst, daß man dir antue, das tue auch keinem anderen an.« Und schließlich sich zu dem bekennen, was man als Wahrheit erkannt zu haben glaubt – und bliebe man mit ihr ganz allein. Doch sollte man, wenn möglich, nie allein bleiben und stets solidarisch sein.
Als ich wenige Jahre später auf Dostojewskis reumütig herausfordernden Satz stieß: »Wir alle sind an allem schuld!«, dünkte er mich im ersten Augenblick so übertrieben, als träte in ihm ein verkehrter Größenwahn zutage. Dann aber erkannte und fühlte ich zugleich, daß der Dichter recht hatte. Am Ende war es mir, als wiederholte er eine Botschaft, die ich bereits in meiner Kindheit empfangen hatte. Denn das ist mein Judaismus seit jeher: Solidarität mit den Juden, eindeutige, unanzweifelbare Identifikation mit ihnen – konnte es denn auch nach allem, was ihnen in diesem Jahrhundert angetan worden ist, anders sein?
Und auch das ist mein Judaismus: Solidarität mit allen, denen Unrecht getan wird. Das ist seit jeher mein Sozialismus gewesen; er ist es geblieben wie die häufig genug erfolglose und dennoch ungeduldige Bemühung um eine Welt, in der Theorie und Praxis sich versöhnen und für immer vereint sein würden.
Ich fühle mich keineswegs verpflichtet zu allem, was die Eigenen tun, ja zu sagen, sondern eher im Gegenteil dazu berechtigt, schärfer als sonst alles zu kritisieren, was bei ihnen ungerecht, unwürdig, zu anspruchsvoll oder opportunistisch und daher unecht sein kann. Solche Strenge habe ich selbst erfahren und sie mir ohne Zögern zu eigen gemacht. Jedoch hat es seither Jahre gegeben, da Jude sein unentrinnbares Leiden bedeutete und ein unaufhörliches Mitleiden; es blieb keine Strenge, sondern nur ein winziger Rest von Zuversicht zurück und der Wille zum Widerstand, doch zumeist keine Möglichkeit, ihn zu leisten.
Seither, seit Jahrzehnten, vergeht mir kaum ein Tag, ohne daß ich jener Zeit gedenke, da mein Volk im Herzen Europas bis zur Entmenschung gedemütigt und von den herrschenden Mördern ausgerottet wurde. Mir vergeht kaum ein Tag, an dem ich die Gleichgültigkeit vergessen könnte, mit der die Welt dies jahrelang geschehen ließ. Solche Einsamkeit nistet seither in meinesgleichen, im heitern Sonnenschein bricht vereisende Kälte herein, das Geschehene dringt in die Gegenwart ein, als ob es nicht Erinnerung, sondern eine unablässig wiederholte Gewalttat wäre.
Die Ereignisse, auf die ich hier anspiele, haben mein Judesein nicht verändert, aber sie haben – im Sinne des biblischen Gleichnisses – meinen Nacken noch mehr verhärtet, sie haben ihn versteinert. Die große Zuversicht, mit der ich eine alle Menschen und Völker versöhnende, verbindende Zukunft betrachtete – diese vertrauensvolle Erwartung hege ich zwar immer noch, aber recht oft fordere ich mit ihr den eigenen Spott oder eine böse Ungeduld heraus. Das Gedächtnis will nicht verkümmern, es erinnert an die Schiffe mit jüdischen Flüchtlingen, die auf den Ozeanen kreuzten und schließlich jämmerlich zugrunde gehen mußten, weil kein Hafen, kein einziges Land, nicht das mächtigste und nicht das schwächste, ihnen auch nur ein provisorisches Asyl gewähren wollte; es erinnert mich an die Aufständischen des Warschauer Ghettos, die wie in einer menschenleeren Mondlandschaft einen übermächtigen Feind herausforderten; sie erhofften nichts mehr, weil sich selbst die Verzweiflung diesen jungen Menschen versagte: Sie starben im Nirgendwo. Wir aber leben – hilflos, schuldlos schuldig an ihrem Untergang, an allem.
Die jedenfalls verspätete Antwort an diese Jungen konnte nicht aus Polen, nicht aus Europa kommen, sondern nur aus dem jüdischen Palästina, das seine staatliche und nationale Selbstständigkeit in Kämpfen eroberte, die aussichtslos erschienen. Insgeheim doch wirksam von der abgeschüttelten britischen Mandatsmacht unterstützt, griffen alle arabischen Armeen das Land an. Der über sie alle nicht nur mit Waffen errungene Sieg war nicht zuletzt der Erfolg all jener, die das verwahrloste Land in eine menschliche Erde, in eine Heimat verwandelt hatten. Ohne diese Wiedergeburt einer jungen Nation auf der alten Erde hätte das Judentum es nicht zustande gebracht, die von den Deutschen organisierte, von anderen Völkern tatkräftig geförderte, von der übrigen Welt gleichgültig beobachtete Katastrophe seelisch und geistig zu überwinden. Sein Unglück hätte sich in eine unheilbare Krankheit verwandeln, die vitale Kraft und mit ihr den Willen zu leben zerstören können.
Dieser Sachverhalt wurde im Jahre 1967 noch einmal allen Zeitgenossen, den Juden wie den Nichtjuden, in den wenigen Wochen offenbar, die dem Sechstagekrieg vorangingen, als Nasser und alle anderen Führer der arabischen Staaten im voraus triumphierend verkündeten, daß ihre vereinten Armeen Israel, den Staat und das Volk vernichten, ein für allemal aus der Welt schaffen würden. In jenen Wochen schienen die westlichen Mächte wie von einer Lähmung befallen, sie bereiteten sich darauf vor, dem Untergang Israels tatenlos, jedoch mit einem tiefen Bedauern zu überstehen. Damals, in jenen Maiwochen und in den ersten Junitagen, begriffen die Juden, auch die assimiliertesten unter ihnen, auch jene, die gemäß der Außenpolitik Moskaus antizionistisch waren, daß Israels Untergang ihrem eigenen Dasein gefährlich werden mußte. Mochte Israel ihnen mehr oder minder gleichgültig sein, die drohende Vernichtung zerstörte ihr Gleichgewicht, sie ahnten, daß sie der Ausrottung nur provisorisch entkommen könnten.
Es gibt eine Erniedrigung, die weder der einzelne noch ein Volk überleben kann, ohne daß ihm seine Existenz fragwürdig und seine Identität ebenso unverhehlbar wie ungestehbar würde. Die Aufständischen des Warschauer Ghettos hatten nicht um ihr Leben, sondern um die Würde ihres Volkes gekämpft. Israels Männer und Frauen haben sodann das alte Volk aus der tiefsten Demütigung erhoben und seinen beinahe völlig vernichteten Daseinsgrund wiederhergestellt.
Ich bin nie ein Antizionist gewesen und bin heute ein entschiedener Gegner der Antizionisten, ob diese sich nun sozusagen ideologisch auf Moskau, auf die pseudorevolutionären Terroristen Europas oder Arabiens berufen. Doch bin ich auch weiterhin kein Zionist, weil ich nach wie vor nicht glaube, daß der Bestand einer israelischen Nation die Judenfrage der Diaspora lösen kann. Indes schätze ich die zionistische Bewegung seit 1933 weit höher ein, weil sie so viele Menschenleben vor der Ausrottung in Europa zu einer Zeit gerettet hat, als es leichter war, tausend Juden sterben zu lassen, als auch nur einen einzigen den Mördern zu entreißen.
Ein anderer Grund bestimmt mich überdies, für den unter zionistischer Ägide geschaffenen, wahrhaft demokratischen Staat einzustehen: Hier konnte der Kibbuz entstehen, die einzige Gemeinschaftsform, die in diesem Jahrhundert des pseudokommunistischen Despotismus die Idee des Sozialismus mit der Praxis der Lebensgemeinschaft vereint hat. Der Kibbuz erbringt den klaren Beweis dafür, daß man, ohne an Gott und an den von ihm gesandten Messias zu glauben, gemäß den fundamentalen Lebensregeln des prophetischen Judentums sich zu einem dauernden Bunde vereinigen kann, in dem niemand ein Objekt der anderen ist, sondern stets der Gefährte aller bleibt.
Setzt zwar ein solcher Verband die jüdische Abstammung seiner Mitglieder keineswegs voraus, so ist dennoch das Gelingen des Kibbuz nicht zuletzt aus dem Einfluß der gleichen Erziehung zu erklären, die auch mir zuteil geworden ist. Diese sozialistische Lebensgemeinschaft ist bislang ein jüdisches, ein israelisches Phänomen geblieben, indes so viele ähnliche Bemühungen, insbesondere in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, nach kurzer Zeit elendiglich gescheitert, in ideologischer und persönlicher Zwietracht zusammengebrochen sind.
V
Mit diesen Bemerkungen über mein Judesein wende ich mich in erster Linie an deutsche Leser, 34 Jahre nach dem Ende der Herrschaft Hitlers und seiner ungezählten Komplizen, denen Millionen Anhänger zur Seite standen. Gewiß, es wäre nicht unvernünftig, sich von der Vergangenheit völlig abzuwenden und dem zwar unausführbaren, aber verführerischen Rat zu folgen: »Laßt die Toten die Toten begraben!« Doch ist mein Wesen und besonders die Art meines Judeseins mit dem Vergessen unvereinbar. Ich muß meiner gottlosen »Religion des guten Gedächtnisses« treu bleiben. Das bedeutet weder Ranküne noch Rachsucht, sondern bewußtes Erleben der Zeit und Leben gegen die Zeit. Worum es mir hier, im Zusammenhang mit der Judenfrage, geht, das sollen die folgenden Auszüge aus einem Brief an einen christlichen Kollegen darlegen:
»Ja, Ihr Philosemitimus bedrückt mich, erniedrigt mich wie ein Kompliment, das auf einem absurden Mißverständnis beruht und das man überdies weder verdient hat noch verdienen möchte.
Sie überschätzten uns Juden in gefährlicher Weise und bestehen darauf, unser ganzes Volk zu lieben. Ich verlange nicht, ich will nicht, daß man uns oder irgendein anderes Volk in dieser Weise liebe … Im übrigen ist der Kampf gegen den Antisemitismus Eure Angelegenheit. Bedroht uns dieser Haß manchmal aufs gefährlichste, so ist er doch Eure Krankheit, er ist das Übel, das Euch verfolgt. Zwar hat er uns unsägliche Leiden bereitet, doch besiegen wir ihn ohne Unterlaß. Dies beweisen wir auch dadurch, daß wir frei bleiben von jedem Haß und daß wir uns Euch brüderlich verbunden fühlen bei der Verteidigung aller Werte, die das Dasein des Menschen auf dieser Erde rechtfertigen.
›Die Welt gehört euch, doch der Mord erfüllt die Welt. Warum? Gott ist gerecht: aus uns macht er Opfer, aus euch aber Henker.‹
Sie werfen mir diese Worte vor, die ich einem jüdischen Jungen in den Mund lege, der von christlichen Waffenbrüdern tödlich verletzt worden ist. Sie rufen mir die Schreckenstaten in Erinnerung, die meine Ahnen im Lande Kanaan begangen haben. Ich habe nichts davon vergessen. Aus diesem Grund habe ich nie auch nur einen einzigen Augenblick vermutet, daß mein Volk des totalen Hasses weniger fähig wäre als irgendein anderes. Jedoch haben wir niemals behauptet, ›neue, erlöste Menschen‹ zu sein.«
Kein Opfertod, keine Erlöser-Gnade vollbringt die so sehnlich erwartete Wandlung, denn das Kommen des Messias hängt von uns selbst ab, von den Werken aller.
Ich bin nie einer Idee begegnet, die mich so überwältigt und die Wahl meines Weges so beeinflußt hat wie die Idee, daß diese Welt nicht bleiben kann, wie sie ist, daß sie ganz anders werden kann und es werden wird. Diese einzige, fordernde Gewißheit bestimmt, seit ich denken kann, mein Sein als Jude und Zeitgenosse.
Quelle: Manès Sperber, Churban oder Die unfaßbare Gewißheit. Essays, Wien-München-Zürich: Europa Verlag, 1979, S. 43-65.