Julius Schniewind über die Versuchung Jesu nach Matthäus 4,1-11 (NTD, 1936): „Der Kampf in der Versuchung geht um das, was Jesus allein für sich entscheidet. Denn er, Jesus, ist wirklich Wundertäter gewesen, aber er empfängt seine Wunder allein von Gott, und seine Gottessohnschaft heißt Gehorsam.“

Die Versuchung Jesu in Matthäus 4,1-11, vgl. Lk. 4,1-13 (; Mk. 1,12f.)

Von Julius Schniewind

1 Da wurde Jesus vom Geist in die Wüste hinaufgeführt, um vom Teufel versucht zu werden, 2 Und als er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, hungerte ihn zuletzt. 3 Und der Versucher trat heran und sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn, so sprich, daß diese Steine Brot werden. 4 Er aber antwortete und sprach: Es steht geschrieben: „Nicht von Brot allein lebt der Mensch, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Munde kommt.“ 5 da nimmt ihn der Teufel mit in die heilige Stadt und stellte ihn auf die Zinne des Tempels 6 und spricht zu ihm: Bist du Gottes Sohn, so wirf dich hinab- denn es steht geschrieben: „Er wird seinen Engeln Befehl geben deinetwegen, und auf den Händen werden sie dich tragen, daß du deinen Fuß nicht an einen Stein stößt.“ 7 Jesus sprach zu ihm: Wiederum steht ge­schrieben: „du sollst den Herrn deinen Gott nicht versuchen.“ 8 Wiederum nimmt ihn der Teufel mit auf einen sehr hohen Berg und zeigt ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlich­keit 9 und sprach zu ihm: Dies alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mir huldigst. 10 da spricht Jesus zu ihm: Hebe dich fort, Satan! denn es steht geschrieben: „du sollst dem Herrn deinem Gott huldigen und ihm allein dienen.“ 11 Da verläßt ihn der Teufel und siehe, Engel traten herzu und dienten ihm.
v. 4: 5.Mose 8,3 v. 6: Ps. 91,11f. v. 7: 5.Mose 6,16 v. 10: 5.Mose 6, 13

Unsere Erzählung ist nur bei Matthäus und Lukas überliefert. Denn die Ver­suchungsgeschichte, die wir bei Markus lesen, muß das Bruchstück einer andersartigen Überlieferung sein. Sie berührt sich nur darin mit unserer Erzählung, daß Jesus vierzig Tage in der Wüste ist, und daß die Engel ihm dienen. Auch ist unsere Geschichte bei Matthäus und Lukas eine breite und ziemlich einhellig überlieferte Erzählung, während der Markusbericht nur zwei Verse umfaßt. – Man rechnet unsere Geschichte üblicherweise zu Q, der besonderen Überlieferung von Reden und Sprüchen, die Matthäus und Lukas gemeinsam haben, über Markus hinaus. Es liegt eine gewisse Schwierigkeit darin, daß hier eine breite Erzählung der Reden-Quelle angehören müßte. Doch sahen wir (Einleitung S. 4ff.), daß die Grenzen zwischen Reden- und Erzählungsüberlieferung flüssig sind. Worte wie Mt. 3,7ff.12 sind nie ohne kurze Erzählung überliefert worden (vgl. Einl. S. 6); andererseits liegt alles Gewicht unserer Erzählung auf den Worten – auf dem Wort Gottes, mit dem Jesus den Satan besiegt. Jesus und der Teufel fechten miteinander in Sprüchen der Schrift; wir haben hier also eine Art Streitgespräch, ähnlich den in Mk. 2/3 und Mk. 11/12 überlieferten, nur daß es hier um die letzte Frage und den letzten Gegner geht. Was ist diese letzte Frage?

So wie unser Text lautet, meint er sicherlich die Messiasfrage. Jesus empfängt in der Taufe den Zuspruch: Dies ist mein geliebter Sohn, und eben hieran knüpft die Versuchung an: „Bist du Gottes Sohn“ … (Man hat von hier aus vermutet, daß auch eine Erzählung von Jesu Taufe erhalten haben müsse; aber diese Überlieferung wird für uns nirgends greifbar.) Die Messiaswürde bedeutet, daß die Wunder der Mosezeit wiederkehren; ähnliches sahen wir schon zu 2,15, vgl. 5,20 ff.: die Messiaszeit soll der Mosezeit entsprechen. Jesus ist vierzig Tage in der Wüste, wie Mose vierzig Tage am Sinai, einsam vor Gott, das Gesetz empfängt (2.Mose 34,28) und wie Elia, Mose folgend, zum Horeb, dem Berge Gottes, zieht und dort vierzig Tage weilt (1.Kön. 19,8). Lind nun ist es nicht Zufall, daß Jesu Worte V. 4, 7 und 10 alle aus dem 5. Buch Mose stammen, aus Stellen, in denen beschrieben wird, wie Gott Israel in der Wüste versucht, auf die Probe des Gehorsams stellt; dabei heißt es ausdrücklich, daß „Gott der Herr dich erzogen hat, wie ein Mann seinen Sohn erzieht“ (5.Mose 8,5). Israel ist Gottes erstgeborener Sohn (2.Mose 4,22, Hos. 11,1; s.z. Mk. 1,9ff.); der Messias aber ist der eine Sohn des göttlichen Wohlgefallens. Wie Israel in der Wüste erprobt wird, so vollends der eine Sohn, der Messias. Und die Probe geht letztlich auf das erste Gebot Gottes; denn in jeder der drei Versuchungen (nicht erst in der letzten) will der Satan Jesus verleiten, dieses erste Gebot zu mißachten (vgl. S. 31 u. 33). Das Wort aus 5.Mose 6, mit dem Jesus endgültig triumphiert, steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Gelübde, das als tägliches Gebet von jedem frommen Israeliten gebetet wird: Höre Israel, der Herr unser Gott ist einziger Herr, und du sollst den Herrn deinen Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften (5.Mose 6,4.5). Jesus hat dies Grundbekenntnis ausgenommen (Mk. 12,29f., s. d.); es ist die stärkste Form des ersten Gebotes: Ich bin der Herr dein Gott, du sollst keine andern Götter haben neben mir (5.Mose 5,6.7).

Dem ent­sprechen dann die Wunder, die hier von Jesus erwartet werden. Das Brotwunder in der Wüste hat die Phantasie aufs lebhafteste beschäftigt; das Gespräch Jesu mit seinen Gegnern in Joh. 6 knüpft daran an. Und wenn von der Messiaszeit erwartet wird, daß Gott dann in festlichem Mahl mit den Seinen vereint ist (s.z. Mk. 6,42; Mt. 8,11), so wird auch dies als eine Parallele zwischen Mosezeit und Messiaszeit gesehen. Eben­so gibt es für das zweite Wunder (V. 5-7) ähnliche Erwartungen der Zeitgenossen: es wird vom Messias gesagt, daß er auf der Zinne des Tempels stehen und den Ge­drückten seines Volkes die Befreiung verkünden wird. Auch die Unerhörtheit des Wunders entspricht der Erwartung. Die falschen Messiasse werden sich durch Wunder beglaubigen (Mt. 24,24 Par. vgl. 2.Thess. 2,9); und in der Tat wird uns bei Jose­phus von Theudas (Apg. 5,36) berichtet, daß er durch sein Machtwort die Fluten des Jordan teilen will (vgl. Jos. 3!), und Simon Magus (Apg. 8,9.10) behauptet von sich, daß er durch die Lust fliegen könne. Das Bild des Messias hatte in der Erwartung und in den Selbstaussagen der tatsächlich austretenden Messiasse solche Züge der Magie ausgenommen, wenn endlich in V. 8ff. der Teufel vorgibt, er könne die Welt­herrschaft verleihen (deutlicher noch Lk. 4,6), so entspricht dies der Erwartung, daß der Antichrist vom Teufel die Macht nimmt (2.Thess. 2,9, Offb. 13,2), wie Gott seinem Messias die Macht über alle Welt verleiht (Ps. 2,8).

Die Antworten aber, die Jesus gibt, sind in nichts messianisch! In keiner Antwort wird davon gesprochen, was die Würde oder die Aufgabe des Messias sei. Vielmehr redet aus den Antworten die „Frömmigkeit“ Jesu (Schlatter), ein unmittelbares Ver­hältnis zu Gott, das dem entspricht, was jedes Menschen Verhältnis Zu Gott sein sollte. Jesus ist der Mensch, wie er sein soll, der neue Adam (Adam bedeutet Mensch), wie Adam der Versuchung unterliegt, so überwindet der neue Mensch die Versuchung, – der Christus, der neue Adam (s.z. Mk. 1,12f., vgl. Röm. 5,12ff.).

Die erste Antwort darf man schwerlich so auffassen, als sei gesagt, daß der Mensch nicht von leib­licher, sondern von geistlicher Speise lebe. Das paßt hier nicht in den Zusammenhang (anders ist Joh. 4,34); dieser läßt vielmehr an die Gefahr des Verhungerns denken. Jesus ist in der steinigen Wüste des Gebirges – im Gebirge spielt schon V. 1, nicht erst V. 8, und nun weist Jesus die Versuchung ab, seine Wundermacht zur Erhaltung des eigenen Lebens zu nutzen. Der Sinn seines Wortes ist dann der gleiche wie ihn der Spruch an seiner Urstelle 5.Mose 8,3 hat: Gott kann den Menschen erhalten, auch wenn das Brot gebricht, durch Gottes Wort, Befehl und Willen. Die gleiche Frage wie hier bei der Versuchung klingt aus den Stimmen unter dem Kreuz: Anderen hat er geholfen und kann sich selbst nicht helfen, ist er Gottes Sohn, so steige er herab vom Kreuz (Mt. 27,40ff. Par.). Und die Frage, ob Jesus König werden will (Messias heißt Gesalbter, König!), weil er als Wundertäter das Wundermahl spendet, kehrt bei der Speisungsgeschichte wieder, besonders deutlich Joh. 6,14 f.

Ebenso ist die Antwort zur zweiten Versuchung ein Wort, das als Warnung über jedem mensch­lichen Verhalten steht und z.B. Ps. 95,7ff., 1.Kor. 10,9.13; Hebr. 3,8.9 erscheint, jedesmal, wie an unserer Stelle, angeregt durch die Erzählungen vom Wüstenzug. Gott versuchen, ihn auf die Probe stellen, mit ihm experimentieren, das ist ein Urverhalten des Men­schen. Es steht hinter allem Zauber, aller Magie, es wird als die Ursünde gerade des frommen Gottesvolkes in allen Darstellungen der alttestamentlichen Geschichte und immer wieder bei den Propheten beschrieben. Und diese Ursünde gebärdet sich noch als besonders fromm, gerade wie hier der Teufel den Psalm (91,11.12) anführt. Ein erstaunliches „Wagnis“ des Vorsehungs-, des Wunderglaubens scheint besonders fromm. Aber es klingt nun durch sämtliche Wundergeschichten unserer Evangelien das eine hindurch (s.z. Mk. 1,36-38, 6,6, 8,11.12), daß Jesus jedes Wunder ablehnt, das Selbstzweck sein, als bloßer Machtbeweis dienen, also erweisen soll, daß Gott dem Wundertäter zu Gebote steht. Besonders deutlich wird das in der Abweisung der Zeichenforderung, von der Mk. 8,11ff. wie Joh. 6,30 in unmittel­barem Zusammenhang mit der Speisungsgeschichte erzählt wird. Jesu Gegner ver­langen genau das gleiche von ihm, womit ihn hier der Teufel versucht, einen Ausweis der ihm zu Gebote stehenden übernatürlichen Gottesmacht. Aber Jesus tut seine Wunder nach den Berichten sämtlicher Evangelien nur auf das Geheiß des Vaters, nur in steter Abhängigkeit von Gott (s.z. Mk. 1,43, 7,34, vgl. Joh. 2,4, 7,6, 11,41.42).

Bei der letzten Versuchung fällt auf, daß der Gedanke einer Huldigung vor dem Teufel überhaupt gewagt werden kann. Bei Luthers Übersetzung, die, was ebensogut möglich ist, „anbeten“ statt „huldigen“ sagt, tritt das Befremdliche noch stärker her­aus. Aber die Krage, ob man sich dämonischer Kräfte bedienen dürfe, um Gottes Sache zum Siege zu führen, ist so alt wie die Bibel und bis zum heutigen Tage nicht ver­stummt. Dostojewski hat sie im „Groß-Inquisitor“ eindringlich gestellt, gerade im Anschluß an unsere Versuchungsgeschichte. Man darf daran erinnern (M. Kähler), daß Muhammed einen ähnlichen Weg geht, wie den, der hier vom Teufel angeboten wird; und daran, daß Engel- und Dämonenbeschwörungen, gar die Anbetung von Engelmächten (sind es gute, sind es böse Mäch­te?) damals geläufig ist, und zwar nicht nur in den Mischreligionen des Hellenismus, sondern ebenso im frommen Juden­tum. – Es ergibt sich also, daß die dritte Versuchung organisch mit der zweiten zusammenhängt, ebenso wie die zweite von der ersten her gegeben war. Alles ist im Grunde nur eine einzige Versuchung: die Gottessohnschaft, die Vollmacht des Messias, zu mißbrauchen. Im Gegensatz dazu steht die eine Grundaussage aller Evangelien, daß Jesus nicht die eigene Ehre, nicht den eigenen Willen sucht, sondern Ehre und Willen des Vaters (Joh. 4,34; 5,36; 5,19; 8,50 u.ö.). Und damit ist sein Verhalten das, was von jedem Menschen gefordert ist, was dem ersten Gebot und ebenso der ersten Vaterunserbitte entspricht.

Mit dem Gesagten sind manche Fragen beantwortet, die sich zum Ganzen der Ge­schichte erheben. Man hat unsere Erzählung lange Zeit so aufgefaßt: Hier wird ein neues Messiasideal entfaltet; Jesus will ein Messias sein, der weder die Weltherrschaft begehrt, noch das Wunder, noch den Beifall. Aber „nicht eine Erschütterung seines Denkens, sondern ein Ansturm auf seinen Willen wird beschrieben“ (Schlatter). Daß Jesus das höchste Wunder tun könnte, wenn er es tun wollte, wird in Stellen wie Mt. 26,53; 27,39ff. (vgl. auch Mt. 11,5; 12,28) vorausgesetzt. Wenn also überhaupt von einem „neuen Ideal“ des Messias geredet werden dürfte, dann so, daß gerade das „neue Ideal“ das Wundertum voraussetzt! Ebenso steht ihm die Weltherrschaft zur Verfügung: er wartet auf das Kommen aller Völker zur Gottesherrschaft (Mt. 8,11, s.d.), wartet darauf, daß er zum Weltenrichter erhöht wird (Mt. 7,21ff., s. d.). Die Versuchung liegt also nicht darin, daß Jesus, weil ihm bestimmte Erwartungen un­erreichbar sind, auf sie verzichten muß, sondern vielmehr darin, daß er die ihm zu Gebot stehende Würde und Macht mißbrauchen könnte.

Fraglich bleibt, ob und wieweit die Erwartung des Wunders, wie sie die beiden ersten Versuchungen be­herrscht, schon mit dem vorchristlichen Messiasgedanken verbunden ist. Daß man für die messianische Zeit Wunder aller Art erwartet, steht fest, es geht auch aus Mt. 11,2ff. deutlich hervor. Aber es ist unklar, ob der Messias selbst diese Wunder tun soll oder ob sie innerhalb einer wunderbaren Weltverwandlung stehen, die Gott allein schenkt. Möglich ist auch hier, wie an anderen entscheidenden Stellen (der Messias als Prophet, der Messias zur Rechten Gottes, s.z. Mk. 9,7; 12,36), daß die jüdische Überlieferung Spuren verwischt hat, die allzu deutlich dem zuführten, was die Chri­sten von Jesus berichteten. Die Geschichte von der Zeichenforderung Mk. 8,11ff. (s.d.) zeigt, daß man von Jesus die entscheidende Beglaubigung seiner Würde im Wunder erwartete. Aber auch, wenn das Judentum keinen wundertätigen Messias gekannt hätte, bliebe unsere Grundauffassung bestehen: der Kampf in der Versuchung geht um das, was Jesus allein für sich entscheidet. Denn er, Jesus, ist wirklich Wundertäter gewesen, aber er empfängt seine Wunder allein von Gott, und seine Gottessohnschaft heißt Gehorsam (Röm. 5,19; Phil. 2,8; Hebr.5,8).

Und das in unserer Geschichte Entscheidende kehrt in der Überlieferung unserer Evangelien immer wieder. Daß Jesus der Versuchte ist, das wird bei Lukas als Überschrift über sein ganzes Erdenleben geschrieben (Lk. 4.13; vgl. 22,28). Dasselbe sagt der Hebräerbrief in eindring­lichen Worten (Hebr. 4,15; 5,7.8; 2,18). Man hat darüber hinaus gesagt, gerade diese drei Versuchungen aus Mt. 4,1-11 zeichneten sich im Leben und Wirken Jesu immer wieder ab (Holtzmann), die erste in den Speisungsgeschichten aller vier Evan­gelien (am deutlichsten Joh. 6,15), die zweite in der Forderung des Pharisäers nach einem Zeichen vom Himmel (Mt. 12,38ff.; 16,1ff. Par. u. a.), die dritte in der Ver­suchung durch Petrus (Mt. 16,22ff. Par.). Er ist „allenthalben versucht“. Und ebendies ist das entscheidende Wort der Leidensgeschichte aller Evangelien (Mk. 14,38 Par.), und das gleiche ohne das Wort ist schon Mk. 8,33;10,45, auch 14,34ff.; 15,34 gemeint, ebenso in Lk. 12,50; 23,31. Jesus kämpft mit dem Satan sein Leben lang, und er ist der Sieger; so wird es in Worten wie Mk. 3,27; Mt. 12,28; Lk. 10,18; 11,20 gesagt, und der Gang zum Kreuz ist der letzte Kampf (Joh. 12,31; 14,30; 16,11).

Hiermit treten zwei Fragen ganz zurück, die oft erörtert worden sind. Die erste Frage ist die nach der Versuchbarkeit Jesu. Eine ernsthafte Versuchung setzt die Möglichkeit des Fallens. Die höchste Versuchung also, um die es hier allein geht, setzt die Möglich­keit eines Abfalls von Gott. Nun ist es bezeichnend für die urchristliche Gemeinde, daß sie diese Möglichkeit nirgends auch nur streift und dennoch die entscheidende Tat Jesu gerade darin sieht, daß er wirklich und nicht zum Schein versucht wird und kämpft (Hebr. 2,18; 4,15; Mk. 15,34). Beides steht hart nebeneinander in der gesamten Bot­schaft des Neuen Testaments, daß Jesus ganz uns gleich ist (Hebr. 2,17) und daß er, ganz anders als wir, ohne Sünde versucht wird, erhaben über alles, was Sünde oder Ungehorsam heißt. Diese zwei Aussagen sind logisch nicht vereinbar, sie stehen aber als Wirklichkeit hinter jedem Wort des Neuen Testaments.

Damit ist schon die zweite Frage erörtert, die immer wieder an unsere Geschichte herangetragen wird, die Frage nach der Vertrauenswürdigkeit ihrer Überlieferung. Hat sich unsere Geschichte wirklich zugetragen? Hat Jesus seinen Jüngern erzählt von dem, was sich in der Einsamkeit zutrug? Und wie soll es sich zugetragen haben? Der Wortlaut in V. 5 (der Teufel tritt heran) läßt an ein Geschehen denken, das sich in unserer Wirklichkeit von Raum und Zeit vollzieht. Andrerseits lasten die zweite und die dritte Versuchung an eine Seinsform denken, die jenseits des Alltäglichen steht. So scheint Lukas es aufzufassen (Lk. 4,2). Rennt man dies „Ekstase“, so muß an das zu 3,13ff. Gesagte er­innert werden. Mit den Worten Ekstase oder Vision ist zur Würdigung und Bewertung solcher Geschehnisse noch nichts gesagt: ob es sich nämlich um Sinnestäuschungen han­delt oder um Wirklichkeiten, um Trug oder um Wahrheit. Wenn man, wie es neuer­dings vielfach geschieht, nicht für glaubhaft hält, daß unsere Erzählung auf Jesu eigenen Bericht zurückgehe, so fragt sich, was denn die Gemeinde, die uns unsere Ge­schichte überliefert, mit ihr hat sagen wollen. Es genügt nicht, darauf hinzuweisen, daß auch die Überlieferung von Buddha und die von Zarathustra Versuchungs­geschichten kennt. Von Kampf und Erprobung wissen Menschen überall, und daß „Hel­den und Heilige“ durch besondere Proben gehen müssen, davon weiß die Sage aller Völker. Das Einzigartige unserer Geschichte aber liegt in der Einzigartigkeit der Gottesfrage, die hier gestellt wird; die Ausle­gung hat gezeigt, daß die ganze Ver­suchungsgeschichte vom ersten Gebot her gestaltet ist. Und die christliche Gemeinde zeigt nun den, den sie als ihren Herrn anruft, aufs tiefste in die Not der Gottesferne hineingegeben. Aber der Versuchungsgeschichte steht das gleiche Zei­chen, so sahen wir, wie über allen Erzählungen von Jesu Leben und Sterben. Und hier ist nun mit aller Bestimmtheit zu sagen, daß selbst, wenn erst die alte Gemeinde unsere Erzählung gebildet hätte, sie das nur von der Wirklichkeit her wagen konnte, die „Jesus“ heißt: Einer, der „versucht ward allenthalben gleich wie wir, doch ohne Sünde“ (Hebr. 4,15), der alle Gottverlassenheit durchkämpft, von Anbeginn seines Lebens bis hin zum Kreuz, er und kein anderer ist der Sohn Gottes, ist der „Gott mit uns“ (1,23).

Quelle: Julius Schniewind, Das Evangelium nach Matthäus übersetzt und erklärt (1936), NTD 2, Göttingen 111964, S. 28-33.

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