Gerne werden bekannten Theologen bedeutungsschwere Sentenzen untergeschoben, so zum Beispiel Karl Barth die Worte: „Gott begabt nicht, ohne zu berufen – und er beruft nicht, ohne zu begaben.“ Tatsächlich entstammen diese Worte – in verkürzter Fassung – Ernst Käsemanns Kommentar zum Römerbrief (An die Römer, Tübingen: J.C.B. Mohr, 4. A., 1980, S. 305): „Gott begabt nicht, ohne zu berufen, und umgekehrt.“
Das Zitat findet sich nicht in Karl Barths Rede „Die Menschlichkeit Gottes“ von 1956. Dort heißt es:
„Die dem Menschen als solchem von der Menschlichkeit Gottes her zukommende Auszeichnung erstreckt sich aber auch auf alles das, womit der Mensch von Gott, seinem Schöpfer, als Mensch begabt und ausgerüstet ist. Diese Gabe, seine Humanität, ist durch des Menschen Sündenfall nicht ausgelöscht und auch in ihrer Güte nicht gemindert. Nicht weil er kraft seiner Humanität solchen Vorzug verdiente, ist der Mensch der zum Umgang mit Gott Erwählte. Er ist es allein durch Gottes Gnade. Er ist es aber als der nun eben von Gott so Begabte: in seiner besonderen Leiblichkeit, in der er freilich mit Pflanze und Tier auch noch genug gemein hat, und als vernünftig denkendes, wollendes, sprechendes, als zu eigener Verantwortung und spontaner Entscheidung bestimmtes, vor allem als von Haus aus mitmenschlich konstituiertes, verbundenes und verpflichtetes Wesen. Ihn als dieses Wesen in seiner besonderen Totalität meint, liebt und ruft Gott. Er als dieses Wesen, in Aktivierung dieser seiner besonderen Natur darf und soll ihn loben, seiner Gnade in Dankbarkeit dienstbar sein. Es ginge nicht an, seine Humanität, die Gabe Gottes, die ihn als dieses Wesen kennzeichnet, auch nur teilweise zu verdächtigen, gering zu schätzen oder gar schlecht zu machen. Wir können Gott nur in den von ihm bestimmten Grenzen des Menschlichen begegnen. Aber eben in diesen Grenzen dürfen wir ihm begegnen. Er verwirft das Menschliche nicht, im Gegenteil! Daran haben wir uns zu halten.“