Von Karl Rahner
Das Kind ist ein Mensch am Anfang. Das Christentum weiß um das Geheimnis des Anfangs, der alles schon in sich birgt und doch alles noch werden muß, der allem Kommenden Grund und Boden, Horizont und Gesetz ist und doch selbst sich erst noch in dem ausständigen Kommen finden muß. So wird auch das Kindsein als der Anfang des Menschseins gesehen. Es ist schon Geist und Leib in Einheit, es ist schon Natur und Gnade, Natur und Person, Selbstbesitz und Ausgesetztheit an Welt und Geschichte, und doch muß noch alles werden, muß noch eingeholt, erfahren werden, was schon ist, und diese Einheit von Anfang und Ausstand ist selbst noch einmal ein Geheimnis, das der Mensch tut und erleidet, aber nicht selbstmächtig verwaltet. Erst das vollendete Ende enthüllt ihm diesen seinen Anfang, in den er eingesetzt wurde, da er als Kind und als Kind Gottes begann. Erst am Abend ist der Morgen ganz aufgegangen.
Das Kind ist ein zwiespältiger Anfang. Die Aussage des Christentums macht die Wirklichkeit und vor allem die des Menschen nicht einfacher, als sie ist. Das Christentum hat so den Mut, die Zwiespältigkeit, die der Mensch in seinem Dasein erfährt, auch schon in seinem Anfang zu erkennen. Der Mensch ist nicht einfach der rein entsprungene Anfang in seinem geschichtlich verfaßten Einzeldasein. Trotz seiner ursprünglichen Unmittelbarkeit zu Gott als je einzelnes morgendliches Geschöpf aus Gottes Hand ist er der Anfang, der inmitten der schon gesetzten, schon vom Menschen getanen Geschichte entspringt. Und diese Geschichte ist vom Anfang an auch schon Geschichte der Schuld, der Gnadenlosigkeit, der verweigerten Antwort auf den Anruf des lebendigen Gottes. Die Geschichte der Schuld der einen Menschheit von dem Anfang ihrer einen und ganzen Geschichte an ist auch ein Moment der Geschichte des Einzelnen. Die begnadende Liebe, in der Gott selbst mit der Fülle seines Lebens sich dem Einzelnen zuwendet, ist nicht einfach ein selbstverständliches inneres Moment in einer Liebe, die Gott zu einer vom Anfang her unschuldigen Menschheit tragen könnte, sondern ist eine Liebe trotz der geschichtsmächtig gewordenen Schuld am Anfang der Menschheit. Diese Situation des geschichtlichen Daseins, die den Einzelnen innerlich bestimmt und derzufolge der Einzelne nicht von dem Anfang und vom Wesen der Menschheit her, sondern nur von dem erlösenden Christus her mit der ihm notwendigen Gnade, mit der reinen, bergend-heiligenden Nähe Gottes rechnen kann, nennt die Sprache der Überlieferung die Erbsünde. Und darum weiß das Christentum, daß das Kind und sein Anfang zwar umfangen sind von der Liebe Gottes durch die Zusage der Gnade, die durch Gott in Christus Jesus immer und an jedem Menschen im universalen Heilswillen Gottes geschieht. Aber es kann den Anfang der Kindheit darum doch nicht bukolisch-harmlos sehen, als eine reine Quelle, die erst innerhalb des verwalt- und beherrschbaren Raumes menschlicher Sorge nachträglich getrübt werde, während sie vorher schlechthin so sei, wie sie selbst aus den ewigen Quellen Gottes entspringt, und die darum auch innerhalb der empirischen Geschichte des Einzelnen und der Menschheit wieder völlig von jeder Trübung befreit werden könne. Nein, das Christentum sieht auch schon das Kind unausweichlich als den Anfang gerade jenes Menschen, zu dessen Existentialien Schuld, Tod, Leid und alle Mächte der Bitterkeit des Daseins gehören. Weil aber all dies umfangen bleibt durch Gott, seine größere Gnade und sein größeres Erbarmen, darum ist dieser Realismus, mit dem das Christentum auch dem Anfang des Menschen im Kind und seinem Ursprung begegnet, kein verhohlener Zynismus. Das Wissen von Schuld und Tragik auch des Anfangs ist vielmehr eingebettet in das Wissen von der noch früheren und noch späteren Seligkeit der Gnade und der Erlösung dieser Schuld und Tragik, da der Christ eben diese Gnade und Erlösung erfährt und an sich geschehen läßt.
Quelle: Rechenschaft des Glaubens. Karl-Rahner-Lesebuch, hrsg. v. Karl Lehmann und Albert Raffelt, Freiburg i.Br.: Herder, 1979, S. 69f.