Über die Wut in der Gesellschaft, den Homo optativus und den fehlenden Sinn im Leben
Juli Zeh hat jüngst im Cicero-Interview „Pädagogische Politik ist gefährlich“ von einem „transzendentalen Überforderungsphänomen“ gesprochen und dies wie folgt beschrieben: „Es ist in den westlichen Gesellschaften sehr vieles weggefallen an Orientierung von höheren Quellen, die irgendwie das Individuelle übersteigen, nennen wir es Schicksal oder nennen wir es Gott. Alles ist relativ, und der Einzelne ist grundsätzlich immer allein mit seinen Entscheidungen, die ganze Last der Welt ruht auf seinen Schultern. In einer solchen Situation fangen Menschen an, sich nach einer Form von Führung zu sehnen, die Demokratie nicht bieten kann und will.“ Diese Worte finden zu Ulrich Schnabels Artikel „Woher kommt die Wut?“ in der jüngsten Ausgaber der ZEIT, der den Kognitionswissenschaftler und Philosophen Alexander Batthyány wie folgt referiert:
„Bei der aktuellen Unzufriedenheit gehe es nicht um das Erreichen bestimmter Ziele, sondern häufig um ‚Ablehnung als Lebenshaltung‘. Denn diese gebe in einer Zeit großer Unsicherheit – so seltsam das klingen mag – eine gewisse innere Sicherheit. Für den Leiter des Viktor-Frankl-Forschungsinstituts, der in Wien und Budapest lehrt, lässt sich die politische Unzufriedenheit nur mit Blick auf tiefer liegende psychologische Mechanismen verstehen. Dazu zählen die verbreitete Angst vor Kontrollverlust ebenso wie das nagende Gefühl fehlender Sinnhaftigkeit, das viele Menschen umtreibe. ‚Gerade diese psychologischen Kräfte werden von den Strategen rechtsextremer Netzwerke gezielt ausgenutzt‘, sagt Batthyány. ‚Es ist fast beängstigend, mitanzusehen, wie die psychologischen Befunde gerade in die Praxis umgesetzt werden.'“
Der Chart zum Artikel „Unzufriedenheit und Zufriedenheit mit Demokratie“, der von Schnabel nicht erörtert worden ist, bietet einen eindrücklichen Beleg. Das Land mit der höchsten Demokratiezufriedenheit ist nicht etwa Schweden (75 %), sondern —– Indien (77 %). Angesichts von Armut und extremer sozialer Ungleichheit ist das nicht ohne weiteres für eine „westliche“ Logik erklärbar. Aber die karmabestimmte Welt- und Lebensanschauung lässt Lebens- wie auch Regierungsbedingungen als Fügungen leichter annehmen als dies einem individualisierten Homo optativus („Ich bin, was ich zu wählen weiß“) möglich ist.
Der Homo optativus sieht sich in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation um seine Wahlmöglichkeiten gebracht und kommt mit Einschränkungen, Widerfahrnissen sowie Zumutungen schwerlich zurecht. In der ge-äußerten Wut als Lebenshaltung vergemeinschaftet er sich mit Gleichgesinnten. Dazu noch einmal Schnabel:
„Für solche ‚emotionalen Kurzschlüsse‘ sind aber aus Sicht von Alexander Batthyány noch weitere psychologische Mechanismen verantwortlich. Der wichtigste davon hat mit dem Bedürfnis nach Sinnhaftigkeit zu tun: zu wissen, wohin man gehöre, wozu das eigene Leben gut sei. Das, sagt Batthyány, sei ein grundlegendes menschliches Anliegen. Bleibe es unerfüllt, sei das ein idealer Ausgangspunkt, um eine Wutstimmung anzuheizen. […] ‚Die Erfahrung der Wut ist geradezu ein Ersatz für die Erfahrung von Sinn‘, glaubt der Forscher. Das gelte besonders, wenn man sich mit anderen Wütenden zusammenschließe. ‚Man erfährt sich als Gemeinschaft, die einen höheren Auftrag verfolgt – lauter Zutaten eines sinnerfüllten Lebens, nur unter umgekehrten Vorzeichen.‘ Diese Art von Fanatisierung sei jedenfalls ‚eine der einfachsten und historisch vielfach erprobten Wege der Mobilisierung einer haltlosen und verunsicherten Masse.'“
Wohlfahrtsstaatliche Politik im demokratischen Gewand kann Menschen eben nicht den Sinn ihres Lebens garantieren und taugt auch nicht als Ersatzreligion.