Hans-Georg Gadamer, Selbstdarstellung (1975): „Der hermeneutische Versuch, Sprache vom Dialog aus zu denken bedeutete letzten Endes die Überholbarkeit jeder Fixierung durch den Fortgang des Gesprächs. So wird die terminologische Fixierung, die im konstruktiven Bereich der modernen Wissenschaft und ihrer Verfügbarmachung des Wissens für jedermann ganz angemessen ist, im Felde der Bewegung des philosophischen Gedankens eigentümlich verdächtig.“

Selbstdarstellung

Von Hans-Georg Gadamer

Als ich im Jahre 1918 mit dem Reifezeugnis das Gymnasium zum Heiligen Geist in Breslau verließ und, noch im letzten Jahre des Ersten Weltkrieges, mich an der Breslauer Univer­sität umzusehen begann, war es keineswegs entschieden, daß ich im akademischen Fach der Philoso­phie meinen Weg gehen würde.

Mein Vater war Naturforscher und allem Bücherwissen ab­hold, obwohl er seinen Horaz trefflich gelernt hatte. Er hatte daher während meiner Kindheit auf mannigfache Weise ver­sucht, mich für die Naturwissenschaften zu interessieren, und war über seinen Mißerfolg recht enttäuscht. Denn daß ich es mit den ‚Schwätzprofessoren‘ halten würde, war vom Beginn meines Studiums an klar. Er ließ mich zwar gewähren, aber war zeit seines Lebens recht unzufrieden mit mir.

Studium damals war wie der Beginn einer langen Odyssee. Vieles zog einen an, von vielem kostete man etwas, und wenn am Ende nicht meine literaturwissenschaftlichen, historischen und kunstgeschichtlichen Neigungen die Oberhand behielten, sondern das philosophische Interesse, so war das weniger eine Abkehr von dem einen und eine Hinwendung zu dem ande­ren, als der Weg eines langsamen Eindringens in disziplinierte Ar­beit überhaupt. In der Verwirrung, die der Erste Weltkrieg und sein Ende über die deutsche Szene gebracht hatte, war die fraglose Einformung in eine fortbestehende Tradition nicht mehr möglich. So wurde allein schon die Ratlosigkeit ein Antrieb zu philosophischem Fragen.

Auch im Bereich der Philosophie war freilich ein bloßes Fortsetzen dessen, was die ältere Generation geschaffen hatte, für uns Jüngere nicht mehr angängig. Der Neukantianismus, der bis dahin eine echte, wenn auch umstrittene Weltgeltung besaß, war in den Materialschlachten des Stellungskrieges ebenso zugrunde gegangen wie das stolze Kulturbewußtsein des libera­len Zeitalters und sein auf Wissenschaft gegründeter Fortschrittsglaube. Wir, die wir damals jung waren, suchten eine neue Orientierung in einer desorientierten Welt. Dabei waren wir praktisch auf die innerdeutsche Szene beschränkt, in der Verbitterung und Neuerungssucht, Armut und Hoff­nungslosigkeit und der ungebrochene Lebenswille der Jugend miteinander im Streite lagen. Ihr kultureller Ausdruck war eindeutig. Der Expressionismus in Leben und Kunst wurde die beherrschende Macht. Während die Naturwissenschaften ihren Aufschwung fortsetzten, der insbesondere in der Gestalt der Einsteinsehen Relativitätstheorie von sich reden machte, war es in den weltanschaulich bedingten Gebieten des Schrifttums und der Wissenschaft eine wahre Katastrophenstimmung, die um sich griff und den Bruch mit den alten Traditionen betrieb. Der Zusammenbruch des deutschen Idealismus (so hieß ein damals oft zitiertes Buch von Paul Ernst) war nur die eine, die akade­mische Seite des neuen Zeitgefühls. Die andere weit umfassen­dere fand ihren Ausdruck in dem sensationellen Erfolg von Oswald Spenglers »Untergang des Abendlandes«, dieser Ro­manze aus Wissenschaft und welthistorischer Phantasie, »be­wundert viel und viel gescholten« – und am Ende ebensosehr der Niederschlag einer welthistorischen Stimmung wie ein eigener Antrieb zur Infragestellung des neuzeitlichen Fortschrittsglaubens und seiner stolzen Leistungsideale. In dieser Lage tat auf mich eine ganz zweitrangige Schrift eine geradezu revolutionäre Wirkung. Es war das Buch von Theodor Lessing (der in späterer, noch mehr verwirrter Zeit einem Attentat von nationalistischer Seite zum Opfer fallen sollte) »Europa und Asien«, das das gesamte europäische Leistungsdenken von der Weisheit des Ostens her in Frage stellte. Erstmals relati­vierte sich mir damals der allumfassende Horizont, in den ich durch Herkunft, Erziehung, Schule und mich umgebende Welt hineingewachsen war. So etwas wie Denken begann. Bedeu­tende Schriftsteller stellten eine gewisse erste Anleitung dar. Ich erinnere mich des gewaltigen Eindrucks, den Thomas Manns »Betrachtungen eines Unpolitischen« schon auf den Primaner gemacht hatten. Die schwärmerische Entgegenset­zung von Kunst und Leben, die aus Tonio Kröger sprach, rührte mich an und der schwermütige Klang in Hermann Hesses frühen Romanen bezauberte mich.

Eine erste Einführung in die Kunst des begrifflichen Den­kens empfing ich von Richard Hönigswald, dessen wohlzise­lierte Dialektik mit Eleganz, wenn auch nicht ohne eine ge­wisse Eintönigkeit, die transzendental-idealistische Position des Neukantianismus gegen allen Psycho­logismus verteidigte. Seine Vorlesung über »Grundfragen der Erkenntnistheorie« stenographierte ich mit und übertrug sie dann: die beiden Hefte überließ ich inzwischen dem von Hans Wagner ins Le­ben gerufenen Hönigswald-Archiv. Sie waren eine gute Ein­führung in die Transzendentalphilosophie. So kam ich schon mit einer gewissen Vorbereitung im Jahre 1919 nach Marburg.

Dort sah ich mich bald mit neuen Studienerfahrungen kon­frontiert. Denn anders als die Univer­sitäten in den Großstäd­ten führten die ‚kleinen‘ Universitäten damals noch ein wirk­liches akademisches Leben, ein ‚Leben in Ideen‘ in Humboldts Sinne, und in der philosophischen Fakultät gab es überall, in jedem Fach, bei jedem Professor, einen ,Kreis‘, so daß man in vielseitige Interessen hineingezogen wurde. Damals begann in Marburg die Kritik an der historischen Theologie, die im An­schluß an Barths Römerbrief-Kommentar durch die sogenannte dialektische Theologie vorgetragen wurde. Damals wurde mehr und mehr unter den jungen Leuten am Methodologismus der neukantianischen Schulen Kritik geübt und demgegenüber Busserls phänomenologische Deskriptionskunst gepriesen. Vor allem aber durchdrang die Lebensphilosophie, hinter der das europäische Ereignis Friedrich Nietzsche stand, unser ganzes Weltgefühl, und in Verbindung damit beschäftigte das Pro­blem des historischen Relativismus, wie es von Wilhelm Dil­they und Ernst Troeltsch diskutiert wurde, die jungen Ge­müter.

Dazu kam im besonderen, daß damals der Kreis um den Dichter Stefan George in die akademische Welt einzudringen begann. Es waren vor allem die höchst wirksamen und faszi­nie­renden Bücher Friedrich Gundolfs, die eine neue kunstvolle Sinnlichkeit in den wissenschaftlichen Umgang mit Dichtung brachten. Überhaupt war alles, was aus diesem Kreise kam, Gundolfs Bücher so gut wie das Nietzsche-Buch von Ernst Bertram, Wolters’ pamphletkundige Rhetorik, Salins kristalli­nische Feinheit und mit besonderer Ausdrücklichkeit der dekla­matorische Angriff Erich von Kahlers auf Max Webers be­rühmte Rede über »Wissenschaft als Beruf«, eine einzige große Provokation. Es waren Stimmen einer entschlossenen Kultur­kritik. Aber anders als ähnliche Klänge von anderen Seiten, die angesichts der typischen Unbefriedigung studentischer Anfän­ger, wie ich einer war, ein gewisses Gehör fanden, hatte man hier das Gefühl, daß etwas daran war. Eine Macht stand hinter den oft monotonen Deklamationen. Daß ein Dichter wie George mit dem magischen Klang seiner Verse und der Wucht seiner Person eine so gewaltige Formungswirkung auf Men­schen ausübte, blieb dem nachdenklichen Gemüt eine blei­bende Frage und stellte für das Begriffsspiel des philosophi­schen Studiums ein nie ganz vergessenes Korrektiv dar.

Überhaupt konnte ich mich dem nicht verschließen, daß die Erfahrung der Kunst die Philoso­phie etwas angeht. Daß die Kunst das wahre Organon der Philosophie sei, wenn nicht gar ihr überlegener Widerpart, das war eine Wahrheit, die der Philosophie der deutschen Romantik bis ans Ende der ideali­stischen Ära ihre umfassende Aufgabe gestellt hatte. Die Uni­versitätsphilosophie der nachhegelschen Epoche hatte die Ver­kennung dieser Wahrheit mit ihrer eigenen Verödung zu be­zahlen. Das galt und gilt für den Neukantianismus so gut wie für den neuen Positivismus bis heute. Diese Wahrheit wieder­zugewinnen, wies uns unser geschichtliches Erbe an.

Gewiß war es keine befriedigende Auskunft, sich gegen die Zweifel des historischen Relativis­mus, die den begrifflichen Wahrheitsanspruch der Philosophie grundsätzlich in Frage stellten, auf die Wahrheit der Kunst zu berufen. Dies Zeugnis ist einerseits zu stark. Denn niemand wird den Fortschritts­glauben der Wissenschaft überhaupt je auf die Gipfel der Kunst ausdehnen wollen und etwa in Shakespeare einen Fort­schritt über Sophokles oder in Michelangelo einen Fortschritt über Phidias sehen. Andererseits ist das Zeugnis der Kunst aber auch zu schwach, sofern das Kunstwerk die Wahrheit, die es verkörpert, dem Begriff vorenthält. In jedem Falle war die Bildungsgestalt des ästhetischen Bewußtseins ebensosehr im Verblassen wie die des historischen Bewußtseins und seines Denkens in ‚Weltanschauungen‘. Das hieß aber nicht, daß die Kunst, auch nicht, daß die Begegnung mit geschichtlichen Denktraditionen ihre Faszination verlor. Im Gegenteil, die Aussage der Kunst wie die der großen Philosophen erhob nun erst recht einen verwirrenden, unabweisbaren Anspruch auf Wahrheit, der sich durch keine ‚Problemgeschichte‘ neutralisie­ren und unter die Gesetze strenger Wissenschaftlichkeit und methodischen Fortschritts beugen ließ. Unter dem Einfluß einer neuen Kierkegaard-Rezeption nannte sich das damals in Deutschland ‚existenziell‘. Es ging um Wahrheit, die nicht so sehr in allgemeinen Aussagen oder Erkenntnissen als in der Unmittelbarkeit des eigenen Erlebens und in der Unvertretbar­keit der eigenen Existenz ihren Ausweis haben sollte. Dosto­jewskij vor allem schien uns davon zu wissen. Die roten Piper-Bände der Dostojewskijschen Romane flammten auf jedem Schreibtisch. Die Briefe van Goghs, Kierkegaards ‚Entweder-oder‘, das er Hegel entgegenhielt, zogen uns an, und hinter all den Kühn­heiten und Gewagtheiten unseres existenziellen En­gagements stand – eine noch kaum sichtbare Bedrohung des romantischen Traditionalismus unserer Bildungskultur – die Riesengestalt Friedrich Nietzsches mit seiner ekstatischen Kri­tik an allen, aber auch an allen Illusionen des Selbstbewußtseins. Wo war der Denker, dessen philosophische Kraft diesen Anstößen gewachsen war?

Auch in der Marburger Schule brach sich das neue Zeit­gefühl Bahn. Der musische Enthusiasmus, mit dem der scharfe Methodologe der Marburger Schule, Paul Natorp, auf seine alten Tage in die mystische Unsagbarkeit des Urkonkreten ein­zudringen suchte und außer Platon und Dostojewskij, Beet­hoven und Rabindranath Tagore, die mystische Tradition von Plotin und Meister Eckart – bis zu den Quäkern – beschwor, hinterließ seine Eindrücke, und nicht minder die wilde Dämo­nie, mit der Max Scheler – als Vortragsgast in Marburg – seine durch­dringende phänomenologische Begabung demonstrierte, die er auf immer neuen, uner­warteten Feldern bewies. Dazu kam der kühle Scharfsinn, mit dem Nicolai Hartmann seine eigene idea­listische Vergangenheit durch kritische Argumen­tation abzustreifen suchte, ein Denker und Lehrer von impo­nierender Beharrlichkeit. Als ich meine Plato-Dissertation schrieb und 1922 promoviert wurde, viel zu jung, stand ich vorwiegend unter dem Einfluß Nicolai Hartmanns, der zu Natorps Systematik idealistischen Stils in Opposition getreten war. Was in uns lebte, war die Erwartung einer philosophi­schen Neuorientierung, die sich ins­be­sondere an das dunkle Zauberwort ‚Phänomenologie‘ knüpfte. Aber nachdem selbst Husserl, der mit all sei­nem analytischen Genie und seiner un­ermüdlichen deskriptiven Geduld stets auf letzte Evi­denz drang, keine bessere philosophische Anlehnung gefunden hatte als die beim transzendenta­len Idealismus neukantischer Prä­gung – von woher sollte Denkhilfe kommen? Heidegger brachte sie. Andere begriffen von ihm aus, was Marx, andere, was Freud, wir alle am Ende, was Nietzsche war. Mir selbst ging an Heidegger auf, daß wir jetzt erst das Philoso­phieren der Griechen ‚wiederholen‘ konnten, jetzt, nachdem die von Hegel geschriebene, von der Problemgeschichte des Neukan­tianismus ausgeschriebene Geschichte der Philosophie ihr fundamentum inconcussum, das Selbstbewußtsein, eingebüßt hatte.

Von nun hatte ich eine Ahnung von dem, was ich wollte – freilich ging es nicht um einen neuen, allumfassenden System­gedanken. Kierkegaards Hegel-Kritik war nicht vergessen. Einen ersten Niederschlag fand die neue Reduktion der Philo­sophie auf tragende Grunder­fahrungen der menschlichen Exi­stenz, die es mir jenseits allen Historismus aufzuklären galt, in meinem Aufsatz in der Festschrift zu Paul Natorps 70. Geburtstag ‚Zur Systemidee in der Philosophie‘ (1924). Eine Art Dokument meiner Unreife, war es auch ein Zeugnis meines neuen Engagements und der Inspiration, die mir an Heidegger geworden war. Gelegentlich hat man diesen Aufsatz als eine Antizipation der Heideggerschen Wendung gegen den trans­zen­dentalen Idealismus gedeutet – im historischen Sinne ganz zu unrecht. Das Kömehen Wahrheit darin war höchstens, daß die paar Monate, die ich im Sommer 1923 in Freiburg bei Heideg­ger gewesen war, kaum zu solcher ,Inspiration‘ geführt hätten, wenn nicht schon aller­hand dafür bereitlag. Jedenfalls war es die Anlehnung an Heidegger, die mir gegenüber den Marbur­ger Lehrern, Natorps umfassenden Systemkonstruktionen und dem naiven Objektivis­mus der Hartmannsehen Kategorialforschung, Abstand zu gewinnen erlaubte. Aber der Auf­satz war recht vorlautes Zeug.

Ich habe erst, als ich mehr wußte, schweigen gelernt. Bei meiner Habilitation 1928 hatte ich außer dem genannten Aufsatz nur noch einen ebenso vorlauten Logos-Aufsatz von 1923 über Hartmanns ,Metaphysik der Erkenntnis‘ als philosophi­sche Publikation vorzulegen. Aller­dings hatte ich inzwischen klassische Philologie studiert, und meine Aufnahmearbeit in das philologische Seminar Paul Friedländers ,Der Aristote­lische Protreptikos und die entwick­lungsgeschichtliche Betrach­tung der Aristotelischen Ethik‘ habe ich später zu einem Auf­satz ausgebaut, den Richard Heinze für den ,Hermes‘ ange­nommen hatte – eine Jaeger-Kritik, deren später Erfolg mir schließlich im Kreise der Philologen Anerkennung ver­schaffte – und das, obwohl ich mich als Schüler Heideggers bekannte.

Was war es, was mich und andere an Heidegger so anzog? Natürlich wußte ich das damals nicht zu sagen. Heute stellt es sich mir so dar: Hier wurden die Gedankenbildungen der phi­losophischen Tradition lebendig, weil sie als Antworten auf wirkliche Fragen verstanden wur­den. Die Aufdeckung ihrer Motivationsgeschichte verlieh diesen Fragen etwas Unaus­weich­liches. Verstandene Fragen können nicht einfach zur Kenntnis genommen werden. Sie werden zu eigenen Fragen.

Es war zwar auch der Anspruch der neukantianischen Pro­blemgeschichte gewesen, in den Problemen die eigenen Fragen wiederzuerkennen. Aber der Anspruch dieser überzeitlichen, ,ewigen‘ Probleme, sich in immer neuen systematischen Zu­sammenhängen zu wiederholen, war unausgewiesen, und in Wahrheit waren diese ,identischen‘ Probleme mit voller Naivi- tät aus dem Baumaterial der idealistischen und neukantiani­schen Philosophie entwendet. Gegen solche angebliche Ober­zeitlichkeit war der Einwand der historisch-relativistischen Skepsis überzeugend und ließ sich nicht abwehren. Erst als ich an Heidegger lernte, das historische Denken in die Wieder­gewinnung der Fragestellungen der Tradition einzubringen, machte das die alten Fragen so verständlich und lebendig, daß sie zu den eigenen wurden. Was ich damit beschreibe, ist die hermeneutische Grunderfahrung, wie ich das heute nennen würde.

Vor allem schlug uns die Intensität in ihren Bann, mit der Heidegger die griechische Philoso­phie beschwor. Daß sie mehr ein Gegenbild als ein Vorbild seines eigenen Fragens sein sollte, wurde uns kaum bewußt. Heideggers Destruktion der Metaphysik galt jedoch nicht nur dem Bewußtseinsidealismus der Neuzeit, sondern ebenso seinen Ursprüngen in der griechi­schen Metaphysik. Seine radikale Kritik stellte die Christlich­keit der Theologie wie die Wissen­schaftlichkeit der Philosophie in Frage. Gegenüber der Blutlosigkeit akademischen Philoso­phierens, das sich in einer entfremdeten kantischen oder hegel- schen Sprache bewegte und immer aufs neue den transzenden­talen Idealismus zu vollenden oder zu überwinden strebte, erschienen Plato und Aristoteles mit einem Male als Eideshel­fer des Philosophierens für jeden, dem die Systemspiele der akademischen Philosophie unglaubwürdig geworden waren – unglaubwürdig auch in der Form jenes offenen Systems der Probleme, Kategorien, Werte, auf das hin phänomenologische Wesensforschung oder problemgeschichtlich begründete Katego­rialanalyse sich verstanden. An den Griechen ließ es sich lernen, daß das Denken der Philoso­phie nicht dem systemati­schen Leitgedanken einer Letztbegründung in einem obersten Grund­satz folgen muß, um Rechenschaft geben zu können, sondern immer schon unter einer Leitung steht: es hat im Weiterdenken ursprünglicher Welterfahrung die Begriffs- und Anschauungs­kraft der Sprache, in der wir leben, zu Ende zu denken. Das zu lehren, schien mir das Geheim­nis des platoni­schen Dialogs.

Unter den deutschen Platoforschern war es damals vor allem Julius Stenzel, dessen Arbeiten in ähnliche Richtung wiesen, zumal, da er angesichts der Aporien des Selbstbewußtseins, in das sich der Idealismus und seine Kritiker in gleicher Weise verstrickt sahen, an den Griechen die ‚Abdämpfung der Subjektivität‘ beobachtete. Mir erschien dies gleichfalls, und selbst schon, bevor Heidegger mich zu belehren begann, als die rätselhafte Überlegenheit der Griechen, daß sie aus selbstver­gessener Hingabe an das Denken sich der Bewegung des Ge­dankens in maßloser Unschuld überließen.

Schon früh hatte ich – aus dem gleichen Grunde – an Hegel Interesse gefaßt, soweit ich ihn verstand, und gerade weil ich ihn nur so weit verstand. Vor allem seine ‚Logik‘ hatte für mich wirklich etwas von griechischer Unschuld, und bot mir – ineins mit den genialen, nur leider miserabel edierten Vorle­sungen zur Geschichte der Philosophie – die Brücke zu einem nichthistoristischen, sondern wahrhaft spekulativen Verständnis des platonischen und aristotelischen Denkens.

Das Wichtigste aber lernte ich von Heidegger. Da war vor allem das erste Seminar, an dem ich teilnahm. 1923, noch in Freiburg, über das sechste Buch der Nikomachischen Ethik. Damals wurde für mich die Phronesis, die Arete der ‚praktischen Vernunft‘, eines allo eidos gnōseōs, einer ‚anderen Art von Einsicht‘, ein wahres Zauberwort. Zwar forderte es einen unmittelbar heraus, als Heidegger eines Tages die Abgrenzung von Techne und Phronesis analysierte und bei dem Satz: phronēseōs de ouk esti lēthē (In der Vernünftigkeit gibt es keine Vergeßlichkeit) erklärte: »Das ist das Gewissen.« Aber diese pädagogisch spontane Übertreibung visierte den entschei­denden Punkt an, von dem aus auch Heidegger selber später in ‚Sein und Zeit‘ die neue Stellung der Seinsfrage vorbereitet hat. Man denke an Wendungen wie ‚Gewissen-Habenwollen‘.

Mir war damals keineswegs klar, daß man Heideggers Bemerkung noch in ganz anderer Wei­se verstehen konnte, nämlich im Sinne einer geheimen Kritik an den Griechen. Dann hieß dieses Wort: Nur als eine von keinem Vergessen bedrohte Wissens-Gewißheit vermochte das griechische Den­ken das ursprünglich menschliche Phänomen des Gewissens zu denken. – Mir war durch Heideggers provokative Bemerkung jedenfalls ein Weg gezeigt worden, fremde Fraugen zu eigenen werden zu lassen und sich zugleich die Vorgreiflichkeit von Begriffen bewußt zu machen.

Der zweite wesentliche Punkt der Belehrung war, daß Heidegger mir bei Aristoteles (in einigen privaten Zusam­menkünften) am Text demonstrierte, wie haltlos der angebliche ‚Realismus‘ des Aristoteles war und daß Aristoteles auf dem gleichen Boden des Logos stand, den Plato mit seiner Sokratesnachfolge bereitet hatte. Jahre später hat uns Hei­degger – im Anschluß an ein von mir gehaltenes Seminar-Referat – auseinandergesetzt, daß dieser Plato und Aristote­les gemeinsame neue Boden des dialektischen Philosophierens nicht nur die Kategorienlehre des Aristoteles trägt, sondern auch seine Begriffe von Dynamis und Energeia aufzuschlüsseln vermöge (was Walter Bröcker in seinem Aristoteles-Buch spä­ter durchgeführt hat).

So sah meine erste praktische Einführung in die Universali­tät der Hermeneutik aus.

Daß es das war, wurde mir freilich nicht sogleich klar. Erst langsam wuchs die Einsicht, daß der uns auf den Leib gerückte Aristoteles, dessen begriffliche Präzision auf ungeahnte Weise mit Anschauung, Erfahrung, Wirklichkeitsnähe bis an den Rand gefüllt war, nicht einfach das neue Denken selber aus­sprach. Heidegger folgte vielmehr dem Prinzip des Platoni­schen Sophistes, den Gegner stärker zu machen, so gut, daß er uns fast wie ein Aristoteles redivivus erschien, der durch Kraft der Anschauung und Kühnheit eigener originaler Begriffsbil­dung alles in seinen Bann schlug. Immerhin war diese Identi­fikation, zu der Heideggers Interpretationen uns verführten, für mich eine gewaltige Herausforderung. Ich wurde dessen inne, daß meine bisherigen Studien, die mich durch viele Ge­biete, insbesondere Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte, geführt hatten, selbst auf dem Felde der antiken Philosophie nichts taugten, auf dem ich meine Dissertation geschrieben hatte. So begann ich ein neues planmäßiges Studium der klassischen Philologie (unter der Leitung Paul Friedländers), bei dem mich neben den griechischen Philosophen vor allem der durch den damals neu zugänglich gewordenen Hölderlin ange­strahlte Pindar anzog – und die Rhetorik, deren zur Philoso­phie komplementäre Funktion mir damals aufging und die mich bis in die Ausarbeitung meiner philosophischen Herme­neutik begleitet hat. Alles in allem verdanke ich diesen Stu­dien, daß ich mir die kraft­volle Identifikation, zu der einen Heideggers Denken einlud, meinerseits immer schwerer machte. Im Ionewerden der Andersheit der Griechen gleichwohl zu ihnen zu stehen, in ihrem Anderssein Wahrheiten zu entdecken, die vielleicht verschüttet, vielleicht aber heute noch in unbe­wältigter Weise wirksam waren, wurde das mir mehr oder minder bewußte Leitmotiv aller meiner Studien. Denn in Heideggers Deutung der Griechen lag ein Problem, das mich insbesondere nach ,Sein und Zeit‘ nicht mehr losließ. Gewiß war es für Heideggers Absicht damals möglich, dem existenzialen Begriff von ‚Dasein‘ die pure Vorhandenheit als Gegen­begriff und äußerstes Derivat zuzuordnen, ohne zwischen dem griechischen Seinsverständnis und dem ,Gegenstand der natur­wissenschaftlichen Begriffsbildung‘ zu differenzieren. Aber auch darin lag eine Provokation, und ich folgte ihr so weit, daß ich mich auf Heideggers An­regung hin in die Aristotelische Physik und die Entstehung der modernen Wissenschaft, vor allem in Galilei, vertiefte. Teile eines unvollendeten Physik-Kommentars werden vielleicht noch einmal publiziert werden.

Die hermeneutische Situation, von der ich ausging, war durch das Scheitern des idealistisch-romantischen Restaura­tionsversuchs gegeben. Der Anspruch, in die Einheit der philo­sophi­schen Wissenschaften auch die empirischen Wissenschaf­ten der Neuzeit zu integrieren, der in dem Begriff einer ,spekulativen Physik‘ (im Titel einer Zeitschrift!) seinen Ausdruck fand, war unerfüllbar.

Es konnte nicht um eine Wiederholung dieses Versuchs ge­hen. Aber die Gründe dieser Un­möglichkeit klarer zu erken­nen, mußte sowohl dem Wissenschaftsverständnis der Neuzeit ein schärferes Profil geben als auch dem griechischen Begriff von ,Wissenschaft‘, den der deut­sche Idealismus noch einmal zu erneuern unternommen hatte. Daß Kants ,Kritik der Urteils­kraft‘, insbesondere die der ,teleologischen Urteilskraft‘, in die­sem Problemzusammen­hang bedeutsam wurde, versteht sich von selbst, und manche meiner Schüler haben später von da aus weitergearbeitet.

Für die griechische Wissenschaftsgeschichte gilt ja offenbar anderes als für die Geschichte der modernen Wissenschaft. Da­mals ist in platonischer Zeit der Versuch gelungen, den Weg der Aufklärung, der Forschung und der Welterklärung in die Traditionswelt griechischer Religion und griechischer Lebens­anschauung zurückzubinden. Plato und Aristoteles, und nicht Demo­krit, haben die Wissenschaftsgeschichte des späteren Altertums beherrscht, und diese war keineswegs die Geschichte eines wissenschaftlichen Niedergangs. Die hellenistische Fach­wissenschaft, wie man das heute nennt, hat sich nicht gegen die ,Philosophie‘ und ihre Vor­ein­genommenheit wehren müssen, sondern hat eben durch die griechische Philosophie, durch den ,Timaios‘ und die Aristotelische Physik, ihre Freigabe erfahren, wie ich kürzlich in einer Arbeit unter dem Titel ,Gibt es die Materie?‘ zu zeigen versucht habe. In Wahrheit ist aber auch noch der Gegenentwurf der Galilei-Newtonschen Physik von dort her bestimmt. Eine Studie über ‚Antike Atomtheorie‘ (1934) war das einzige Stück aus diesem Studienkreis, das ich damals publiziert habe. Sie sollte die kindliche Voreingenom­menheit korrigieren, die die moderne Wissenschaft für Demo­krit, den großen Unbekannten, besitzt. Der Größe Demokrits geschieht damit nicht der geringste Abbruch.

Aber im Zentrum meiner Studien blieb Plato. Mein erstes Plato-Buch ‚Platos dialektische Ethik‘, aus meiner Habilitations­schrift hervorgegangen, war eigentlich ein steckengebliebenes Aristoteles-Buch. Mein Ausgangspunkt war die Dublette der beiden aristotelischen Abhandlungen über die ‚Lust‘ (Eth. Nic. H 10-13 und K 1-5). Unter genetischen Gesichtspunkten kaum lösbar, sollte das Problem auf phänomenologische Weise ge­fördert werden, das heißt, ich wollte dieses Nebeneinander, wenn auch nicht historisch-genetisch ‚erklären‘, so doch, wo­möglich, in seiner Berechtigung erweisen. Das konnte nicht ge­schehen, ohne beide Abhandlungen auf den Platonischen ‚Philebos‘ zu beziehen, und in dieser Absicht ging ich an eine phänomenologische Interpretation dieses Dialogs. Ich war da­mals noch nicht imstande, die universale Bedeutung des ‚Philebos‘ für die Platonische Zahlenlehre und überhaupt für das Problem des Verhältnisses von Idee und ,Wirklichkeit‘ zu wür­digen. Mir lag zweierlei am Herzen, beides unter dem gleichen methodischen Vorzeichen: die Funktion der Platonischen Dia­lektik von der Phänomenologie des Dialogs aus und die Lehre von der Lust und ihren Erscheinungsformen durch eine phäno­menologische Analyse der wirklichen Lebensphänomene aufzu­klären. Die phänomenologische Deskriptionskunst, die ich an Husserl (in Freiburg 1923) und an Heidegger zu lernen ver­sucht hatte, sollte einer ‚an den Sachen selbst‘ orientierten In­terpretation antiker Texte zugute kommen. Das ist ganz leid­lich gelungen und fand Anerkennung, freilich nicht bei dem bloßen Historiker, der ja immer in dem Wahn lebt, es sei trivial zu verstehen, was dasteht. Es gelte zu erforschen, was dahinter ist. So konnte Hans Leisegang in seinem Bericht über die Platoforschung der Gegenwart (Archiv für Geschichte der Philosophie 1932) meinen Beitrag verächtlich beiseite schieben, indem er aus meinem eigenen Vorwort zu meiner Arbeit zitierte: »Ihr Verhältnis zur historischen Kritik ist schon dann ein positives, wenn diese – in der Meinung, keine Förderung durch sie zu finden – das, was sie sagt, für selbstverständlich befindet.«

In Wahrheit war ich inzwischen ein Stück klassischer Philo­loge geworden, schloß dieses Studium mit dem Staatsexamen ab (1927) und habilitierte mich bald darauf (1929). Worum es sich hier handelt, ist ein methodischer Gegensatz, den ich spä­ter in meinen hermeneutischen Analysen zu klären unternahm – freilich bei all denen ohne Erfolg, die zu Reflexionsarbeit nicht bereit sind, sondern nur das ‚positive‘ Forschung nennen, wobei etwas Neues heraus­kommt (auch wenn es ebenso un­verstanden bleibt wie das Alte).

Immerhin war der Start gelungen. Als Lehrer der Philoso­phie lernte ich jedes Semester Neues, damals noch unter den kargen Bedingungen eines Stipendiaten oder Lehrbeauftragten, aber mein Lehren war dafür immerhin den eigenen For­schungsplänen ganz angepaßt. So war es vor allem Plato, in den ich tiefer eindrang, wobei mich insbesondere die Zusam­menarbeit mit J. Klein in Richtung auf das Mathematische und Zahlentheoretische förderte. Kleins klassische Abhandlung ‚Die griechische Logistik und die Entstehung der Algebra‘ (1936) ist damals entstanden.

Man wird nicht gerade sagen können, daß diese Studien, die sich über ein Jahrzehnt hinzogen, das Schauerspiel der Zeit­ereignisse bedeutungsvoll spiegeln. Höchstens indirekt, sofern ich nach 1933 eine größere Studie über sophistische und plato­nische Staatslehre vorsichtshalber abbrach, aus der ich nur zwei Teilaspekte publizierte: ‚Plato und die Dichter‘ (1934) und ‚Platos Staat der Erziehung‘ (1942).

Beides hatte seine Geschichte. Die erste kleine Schrift ent­wickelte die noch heute von mir für allein richtig gehaltene Deutung, daß der Platonische Idealstaat eine bewußte Utopie darstellt, die mehr mit Swift als mit ‚politischer Wissenschaft‘ zu tun hat. Die Veröffentlichung dokumentierte zugleich meine Stellung zum Nationalsozialismus durch das vorangestellte Motto: »Wer philosophiert, ist mit den Vorstellungen seiner Zeit nicht einig.« Das war zwar wohlgetarnt, als ein Goethezitat, das mit Goethes Charakterisierung der Platonischen Schriften fortfuhr. Aber wenn man sich schon nicht zum Mär­tyrer machen oder freiwillig in die Emigration gehen wollte, stellte ein solches Motto für den verständigen Leser im Zeit­alter der ‚Gleichschaltung‘ immerhin eine Betonung der eige­nen Identität dar – ähnlich wie Kar[ Reinhardts bekannte Un­terzeichnung der Vorrede seines Sophokles-Buches: »Im Januar und September 1933«. Daß man die politisch relevanten The­men im übrigen fortan eifrig vermied (und überhaupt die Pu­blikation außerhalb von Fachzeitschriften), entsprach dem glei­chen Gesetz der Selbsterhaltung. Es bleibt bis zum heutigen Tage wahr, daß ein Staat, der in philosophischen Fragen von Staats wegen eine ‚Lehre‘ als die ‚richtige‘ auszeichnet, wissen muß, daß seine besten Leute in andere Felder ausweichen, wo sie nicht von Politikern – und das heißt von Laien – zensuriert werden. Ob schwarz, ob rot, daran ändert kein Geschrei etwas. – So arbeitete ich unbemerkt weiter und fand begabte Schüler, von denen ich hier nur Walter Schulz, Volkmann Schluck und Arthur Henkel nenne. Zum Glück milderte damals die natio­nalsozialistische Politik – in der Vorbereitung des Krieges im Osten – den Druck auf die Universitäten, und meine akademi­schen Chancen, die jahrelang gleich Null waren, besserten sich. Ich erhielt – nach zehnjähriger Dozententätigkeit – endlich den längst beantragten Professortitel. Ein Lehrstuhl für klassi­sche Philologie in Halle winkte mir, und schließlich erhielt ich 1938 eine Berufung auf das philosophische Ordinariat in Leip­zig, das mich vor neue Aufgaben stellte.

Das zweite Stück ‚Platos Staat der Erziehung‘ war auch eine Art Alibi. Es war schon während des Krieges. Ein Professor der technischen Hochschule Hannover namens Osenberg hatte Hitler von der kriegsentscheidenden Rolle der Wissenschaft überzeugt und dadurch Vollmachten zur Schonung und Pflege der Naturwissenschaften und insbesondere ihres Nachwuchses erwirkt. Diese sogenannte Osenberg-Aktion hat vielen jungen Forschern das Leben gerettet. Sie erregte natürlich den Neid der Geisteswissenschaften, bis schließlich ein findiger PG auf die schöne Idee einer ‚Parallelaktion‘ kam, die Musils Erfin­dung Ehre machte. Es war ‚der Einsatz der Geisteswissenschaf­ten für den Krieg‘. Daß es sich in Wahrheit um den Einsatz des Krieges für die Geisteswissenschaften – und um nichts ande­res – handelte, war nicht zu verkennen. Um nun einer Mit­arbeit im philosophischen Sektor zu entgehen, wo so schöne Themen wie ‚Die Juden und die Philosophie‘ oder ,Das Deut­sche in der Philosophie‘ auftauchten, wanderte ich in den Sek­tor der klassischen Philologie aus. Dort ging alles manierlich zu, und unter dem Schutz von Helmut Berve entstand ein in­teressantes Sammelwerk ‚Das Erbe der Antike‘, das nach dem Kriege eine unveränderte zweite Auflage finden konnte. Mein Beitrag, ‚Platos Staat der Erziehung‘, führte die Studie über Plato und die Dichter weiter und wies immerhin auf die Richtung meiner neueren Studien hin, wenn seine letzten Worte ‚die Zahl und das Sein‘ waren.

Eine einzige Monographie habe ich in der ganzen Zeit des Dritten Reiches veröffentlicht, ‚Volk und Geschichte im Den­ken Herders‘ (1942). In dieser Studie arbeitete ich vor allem die Rolle des Kraftbegriffs in Herders Geschichtsdenken her­aus. Sie vermied jede Aktualität. Trotzdem erregte sie Anstoß, vor allem bei denen, die sich damals über ähnliche Themen hatten vernehmen lassen und geglaubt hatten, etwas mehr ‚Gleichschaltung‘ nicht vermeiden zu können. Mir war diese Arbeit aus einem bestimmten Grunde lieb. Ich hatte dieses Thema erstmals 1941 in einem Kriegsgefangenenlager französi­scher Offiziere in einem französischen Vortrag behandelt. In der Diskussion hatte sich eine Situation ergeben, in der ich sagte, ein Imperium, das sich über die Maßen ausdehne, sei ‚auprès de sa chute‘. Die französischen Offiziere sahen sich be­deutsam an und verstanden. (Ob ich in dieser makabren und irrealen Situation auf anonyme Weise dem einen oder anderen meiner späteren französischen Kollegen begegnet bin, von denen ja manche dabei gewesen sein könnten?) Der politische Funktionär, der mich begleitet hatte, war über diese Bemer­kung seinerseits ganz begeistert. Solche geistige Klarheit und rückhaltlose Unbefangenheit spiegele unsere Siegesgewißheit besonders wirksam. (Ob er das glaubte oder ob er nur mit­spielte, vermochte ich nicht zu entscheiden. Jedenfalls nahm er keinen Anstoß, und ich mußte meinen Vortrag sogar in Paris wiederholen.)

Im ganzen war es klüger, sich unauffällig zu verhalten. Die Resultate meiner Studien teilte ich nur in Vorlesungen mit. Da konnte man sich ungehindert und unbefangen bewegen. Selbst über Busserl habe ich in Leipzig ungestört Übungen abgehal­ten. Manches, was ich erarbeitet hatte, trat zuerst in Arbeiten meiner Schüler in die Öffentlichkeit, insbesondere in Volkmann-Schlucks ausgezeichneter Dissertation ‚Plotin als Inter­pret der Platonischen Ontologie‘ (1940).

Seit ich Professor in Leipzig war und dort – nach Theodor Litts Rücktritt – der einzige Fachvertreter, konnte ich meinen Unterricht nicht mehr so gut den eigenen Forschungsplänen an­passen. Ich hatte neben den Griechen und ihrem spätesten und größten Nachfahren, Regel, die ganze klassische Tradition, von Augustin und Thomas bis Nietzsche, Husserl und Hei­d­egger, zu vermitteln – freilich, als der halbe Philologe, der ich war, jeweils am Text. Daneben behan­delte ich in Semina­ren auch schwierige poetische Texte von Hölderlin, Goethe, Rilke vor allem. Letzterer war, dank dem hochgezüchteten Manierismus seiner Sprache, damals der wahre Dichter der akademischen Resistance. Wer wie Rilke redete oder wie Hei­degger, der Hölderlin auslegte, stand abseits und zog die Ab­seitsstehenden an.

Die letzten Kriegsjahre waren natürlich sehr gefährlich. Doch hatten die zahlreichen Bomben­angriffe, die man zu über­stehen hatte und die die Stadt Leipzig wie die Arbeitsmittel der Universität in Trümmer legten, auch ihr Gutes: der Partei­terror wurde durch die entstehenden Notstandssituationen an­derweitig gebunden. Der Unterricht an der Universität, von einem Notraum in den andem wechselnd, wurde bis kurz vor Kriegsende fortgesetzt. Als die Ameri­kaner Leipzig besetzten, studierte ich gerade die neu erschienenen Bände 2 und 3 von Werner Jaegers ,Paideia‘ – auch ein seltsames Faktum, daß dieses Werk eines ,Emigranten‘ in deut­scher Sprache, in einem deutschen Verlag, in den Jahren höchster Kriegsnot erscheinen konn­te. Totaler Krieg?

Nach Kriegsende mußte ich – als Rektor der Universität Leipzig – andere Dinge tun. An Fort­führung philosophischer Arbeit war jahrelang nicht zu denken. Jedoch entstand an den freien Wochenenden der Großteil der Dichtungsinterpretatio­nen, die heute den zweiten Band meiner Kleinen Schriften bil­den. Mir kam vor, ich hätte niemals so leicht gearbeitet und ge­schrieben wie in diesen karg zugemessenen Stunden, gewiß ein Ausdruck dessen, daß wäh­rend der unproduktiven, politi­schen und administrativen Alltagsarbeit sich etwas anstaute, das sich so entlud. Sonst blieb mir das Schreiben auf lange hinaus eine rechte Qual. Immer hatte ich das verdammte Ge­fühl, Heidegger gucke mir dabei über die Schulter.

Herbst 1947, nach zweijähriger Rektoratstätigkeit, folgte ich einem Ruf nach Frankfurt am Main und kehrte damit voll und ganz in mein akademisches Lehramt und in die Forschungs­arbeit zurück – so gut die Arbeitsverhältnisse es zuließen. In den zwei Jahren, die ich in Frank­furt tätig war, suchte ich der Notlage der Studenten Rechnung tragen, nicht nur durch inten­siven Unterricht, sondern auch durch einige Publikationen, so von Aristoteles Meta­physik XII (griechisch und deutsch) und von Diltheys Grundriß einer Geschichte der Philoso­phie, die beide der Klostermann-Verlag damals rasch herausbrachte. Wichtig war auch der große Kongreß in Mendoza (Argentinien) im Februar 1949, bei dem wir einerseits mit alten jüdischen Freunden, andererseits mit den Philosophen anderer Länder (Italien, Frankreich, Spanien, Südamerika) zu erstem Kontakt gelangten.

Daß ich 1949 den Ruf auf die Nachfolge von Karl Jaspers annahm, bedeutete den neuen Beginn einer ‚akademischen‘ Tätigkeit in einer akademischen ,Welt‘. Wie ich zwanzig Jahre in Marburg Student und Dozent gewesen war, sollte ich von nun an über ein Vierteljahrhundert in Heidelberg tätig sein, und trotz der Vielfalt der Aufgaben des Wiederaufbaus, die uns alle in Anspruch nahmen, war es mir möglich, mich erneut von der Politik und Hochschulpolitik weitgehend zu entlasten und mich auf die eigenen Arbeitspläne zu konzentrieren, die endlich 1960 in ,Wahrheit und Methode‘ zu einem ersten Ab­schluß gelangten.

Daß ich überhaupt, bei meinem passionierten Engagement als Lehrer, zu der Abfassung eines größeren Buches kam, ver­dankte ich dem natürlichen Bedürfnis, darüber nachzudenken, wie sich all die verschiedenen Wege des Philosophierens, denen man im Unterricht zu folgen hatte, von der philosophischen Situation der Gegenwart aus zu wirklicher Aktualität erheben ließen. Die Einordnung in einen apriori konstruierten Ge­schichtsgang (Regel) schien mir ebenso unbefriedigend wie die relativistische Neutralität des Historismus. Ich hielt es mit Leibniz, der von sich gesagt hat, er billige fast alles, was er lese. Aber anders als dieser große Denker empfand ich in dieser Erfahrung nicht einen Stimulus zum Entwurf einer großen Synthese. Vielmehr begann ich mich zu fragen, ob Philosophie sich unter solche synthetische Aufgabe überhaupt noch stellen dürfe und sich nicht vielmehr für den Fortgang hermeneuti­scher Erfahrung auf radikale Weise offen halten müsse, einge­nommen von dem je Einleuch­tenden und sich aller Wiederver­dunkelung des Eingesehenen nach Kräften widersetzend … Philosophie ist Aufklärung, aber gerade auch Aufklärung ge­gen den Dogmatismus ihrer selbst.

Tatsächlich ist die Entstehung meiner ‚hermeneutischen Phi­losophie‘ im Grunde nichts anderes als der Versuch, über den Stil meiner Studien und meines Unterrichts theoretisch Rechen­schaft zu geben. Die Praxis war das erste. Von jeher war ich fast ängstlich bemüht, nur nicht zu viel zu sagen und mich nicht in theoretische Konstruktionen zu versteigen, die nicht voll von der Erfahrung eingelöst wurden. Da ich fortfuhr, als Lehrer mein Eigentliches zu geben und insbesondere mit mei­nen engeren Schülern intensiven Kontakt zu pflegen, blieben für die Arbeit an dem Buch nur die Ferien. Fast 10 Jahre nahm diese Arbeit in Anspruch, und in dieser Zeit vermied ich mög­lichst jede Ablenkung. Als das Buch erschien – erst während des Druckes war mir der Titel ‚Wahrheit und Methode‘ dazu eingefallen –, war ich mir gar nicht sicher, ob es nicht zu spät kam und eigentlich überflüssig war. Denn daß eine neue Gene­ration heranrückte, die teils technologischen Erwartungen, teils ideologiekritischen Affekten verfallen war, konnte man bereits ahnen.

Die Sache mit dem Titel des Buches war schwierig genug. Meine Fachgenossen im In- und Ausland erwarteten es als eine philosophische Hermeneutik. Aber als ich dies als1 Titel vor­schlug, fragte der Verleger zurück: Was ist das? In der Tat war es besser, damals das noch fremde Wort in den Untertitel zu verbannen.

Im übrigen trug die beharrlich fortgesetzte akademische Lehrtätigkeit zunehmend mehr ihre Früchte. Mein alter Freund Karl Löwith kehrte aus der Fremde zurück und lehrte neben mir in Heidelberg, eine gesunde Spannung schaffend. Einige Jahre höchst fruchtbarer Wechselwir­kung gab es mit Jürgen Habermas, den wir als jungen Extraordinarius zu uns beriefen, nachdem ich erfahren hatte, daß es zwischen Horkheimer und Adorno seinetwegen zu einem Gegensatz gekommen sei. Wer Max und Teddy auch nur ein wenig in ihrer geistigen Waffen­brüderschaft auseinanderzubringen vermocht hatte, mußte schon etwas sein, und in der Tat bestätigte das eingeforderte Manuskript das Talent des jungen Forschers, das mir schon längst aufgefallen war. – Aber es fanden sich auch leiden­schaftlich der Philosophie ergebene Schüler, von denen ich hier nur einige nenne, die im akademischen Fach der Philoso­phie inzwischen als Lehrer tätig sind. Von Frankfurt hatte ich eine große Gruppe von Studenten mitgebracht, zu denen Die­ter Henrich gehörte, der vom Marburger Erzkantianismus Eb­binghaus’ und Klaus Reichs seine erste Prägung erfahren hatte. In Heidelberg fanden sich manche andere dazu. Ich nenne wie­der nur diejenigen, die als Forscher oder Lehrer im Fach der Philosophie tätig sind: Wolfgang Bartuschat, Rüdiger Bubner, Theo Ebert, Heinz Kimmerle, Wolfgang Künne, Ruprecht Pflaumer, J. H. Trede, Wolfgang Wieland. Einige kamen spä­ter erneut von Frankfurt, wo Wolfgang Cramer – abseits von der spektakulären Frankfurter Schule – eine intensive Wirkung übte, so Konrad Cramer, Friedrich Fulda, Reiner Wiehl. Mehr und mehr kamen auch Ausländer und fügten sich in den Kreis meiner Schüler ein, insbesondere aus Italien Valerio Verra und G. Vattimo, aus Spanien E. Lledo, und eine größere Zahl von Amerikanern, von denen ich manchem bei Amerikareisen in den letzten Jahren in Amt und Würden wiederbegegnet bin.

Was ich lehrte, war vor allem hermeneutische Praxis. Her­meneutik ist vor allem eine Praxis, die Kunst des Verstehens und des Verständlichmachens. Sie ist die Seele allen Unter­richts, der Philosophieren lehren will. Was es dabei vor allem zu üben gilt, ist das Ohr, die Sensibilität für die in Begriffen liegenden Vorbestimmtheiten, Vorgreiflichkeiten, Vorprägun­gen. So galt ein gut Stück meiner Bemühungen der Begriffs­geschichte. Mit Hilfe der Deutschen Forschungsgemeinschaft habe ich eine Reihe begriffsgeschichtlicher Kolloquien veranstaltet und darüber auch berichtet, die inzwischen vielfache ähn­liche Bestrebungen ausgelöst haben. Die Gewissenhaftigkeit im Gebrauch von Begriffen verlangt begriffsgeschichtliche Bewußt­heit, damit man nicht der Willkür des Definierens anheimfällt oder der Illusion, man könne ver­bindliches philosophisches Sprechen normieren. Begriffsgeschichtliche Bewußtheit wird zur kritischen Pflicht. Auf andere Weise suchte ich diesen Auf­gaben zu dienen, indem ich eine ganz der Kritik gewidmete Zeitschrift, die »Philosophische Rundschau« ins Leben rief, ge­meinsam mit Helmut Kuhn, dessen kritisches Talent ich schon früh, vor 1933, an den letz­ten Jahrgängen der alten Kantstudien bewundern gelernt hatte. Unter der straffen Füh­rung von Frau Käte Gadamer-Lekebusch sind zwanzig Jahr­gänge dieser Zeitschrift herausgekommen, bis wir sie neuer­dings jüngeren Händen anvertrauten.

Aber im Mittelpunkt meiner Tätigkeit stand nach wie vor der akademische Unterricht in Heidelberg. Erst nach meiner Emeritierung (1968) habe ich in größerem Umfang meine Ideen zur Hermeneutik, die auf breites Interesse stießen, auch im Ausland zu vertreten versucht, mittlerweile vor allem auch in Amerika.

Hermeneutik und griechische Philosophie blieben die beiden Schwerpunkte meiner Arbeit. Ich darf den inneren Zusammen­hang, der meine Gedanken bewegt, kurz zur Darstellung brin­gen.

Da war zunächst die in »Wahrheit und Methode« entwickelte Hermeneutik.

Was war diese philosophische Hermeneutik? Wie unter­schied sie sich von der romantischen Tradition, die mit Schleier­macher, der eine alte theologische Disziplin vertiefte, anhob, in Diltheys geisteswissenschaftlicher Hermeneutik gipfelte und als eine Methodenlehre der Geisteswissenschaften gemeint war? Mit welchem Recht konnte mein eigener Versuch eine ,philosophische‘ Hermeneutik heißen?

Es ist leider nicht überflüssig, auf diese Frage einzugehen. Denn viele sahen und sehen in dieser hermeneutischen Philoso­phie eine Absage an methodische Rationalität. Viele andere, insbesondere seit Hermeneutik ein Modewort geworden ist und eine jegliche ,Interpretation‘ sich Hermeneutik nennen möchte, mißbrauchen das Wort und die Sache, für die ich das Wort er­griffen hatte, umgekehrt derart, daß sie darin eine neue Metho­denlehre sehen, mit der sie in Wahrheit methodische Unklar­heit oder ideologische Bemäntelung legitimieren. Wieder an­dere, die dem Lager der Ideologiekritik angehören, erkennen darin zwar Wahrheit, aber nur die halbe Wahrheit. Es sei gut und schön, daß Tradition in ihrer vorgreifliehen Bedeutung er­kannt werde, aber es fehle das Entscheidende dabei, die kriti­sche und emanzipatorische Reflexion, die von ihr befreie.

Vielleicht hilft es der Klärung, wenn ich die Motivation mei­ner Fragestellung so darlege, wie sie mir tatsächlich erwachsen ist. Es könnte dadurch deutlich werden, daß es die Methoden­fanatiker so gut wie die radikalen Ideologiekritiker sind, die in Wahrheit nicht genug reflektieren. Die einen behandeln die – unbestrittene – Rationalität von ‚trial and error‘ wie die ultima ratio menschlicher Vernünftigkeit, die anderen erkennen zwar die ideologische Voreingenommenheit solcher Rationalität, ge­ben aber über die eigenen ideologischen Implikationen ihrer Ideologiekritik nicht genügend Rechenschaft.

Wenn ich eine philosophische Hermeneutik versuchte, so er­gab es sich aus der Vorgeschichte der Hermeneutik von selbst, daß die »verstehenden« Wissenschaften den Ausgangspunkt bildeten. Aber zu ihnen trat noch eine bisher unbeachtet ge­bliebene Ergänzung. Ich meine die Erfahrung der Kunst. Denn beides, die Kunst wie die geschichtlichen Wissenschaften, sind Erfahrungsweisen, in denen unser eigenes Daseinsverständnis unmittelbar ins Spiel kommt. Die begriffliche Hilfe für die so in die rechte Weite gestellte Problematik des ‚Verstehens‘ bot sich in Heideggers Entfaltung der existentialen Struktur des Verstehens, die er ehedem ,Hermeneutik der Faktizität‘, Selbst­auslegung des faktischen, das heißt, des sich vorfindlichen menschlichen Daseins genannt hatte. Mein Ausgangspunkt war also die Kritik des Idealismus und seiner romantischen Tradi­tionen. Es war mir klar, daß die Bewußtseinsgestalten unserer ererbten und erworbenen geschichtlichen Bildung, das ästhetische Bewußtsein und das historische Bewußtsein, entfremdete Gestalten unseres wahren geschichtlichen Seins darstellen und daß die ursprünglichen Erfahrungen, die durch Kunst und Ge­schichte vermittelt werden, nicht von da aus zu begreifen sind. Die beruhigte Distanz, in der ein bürgerliches Bildungsbewußtsein seinen Bildungsbesitz genoß, verkannte, wie sehr wir dabei selber im Spiele sind und auf dem Spiele stehen. So versuchte ich vom Begriff des Spieles aus die Illusionen des Selbstbewußtseins und die Vorurteile des Bewußtseinsidealismus zu überwinden. Spiel ist ja niemals ein bloßes Objekt, sondern hat sein Dasein für den, der es mitspielt, und sei es auch nur in der Weise des Zuschauers. Die Unangemessenheit der Be­griffe Subjekt und Objekt, die Heidegger schon in seiner Expo­sition der Seinsfrage in ‚Sein und Zeit‘ erwiesen hatte, ließ sich hier in concreto demonstrieren. Was Heidegger in seinem Den­ken dann zur ‚Kehre‘ geführt hat, versuchte ich meinerseits als eine Grenzerfahrung unseres Selbstverständnisses zu beschrei­ben: als das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein, das mehr Sein als Bewußtsein ist. Was ich damit formulierte, war weniger eine Aufgabe für die methodische Praxis der Kunst- und Ge­schichtswissenschaft, ja es galt auch nicht in erster Linie dem Methodenbewußtsein dieser Wissenschaften, sondern aus­schließlich oder vorrangig dem philosophischen Gedanken der Rechenschaftsgabe. Wie weit ist Methode ein Garant für Wahr­heit? Die Philosophie muß von Wissenschaft und Methode for­dern, daß sie ihre Partikularität im Ganzen der menschlichen Existenz und ihrer Vernünftigkeit erkennen.

Am Ende war das Unternehmen selbstverständlich selber wirkungsgeschichtlich bedingt und wurzelte in einer ganz be­stimmten deutschen philosophischen und kulturellen Überlieferung. Die sogenannten Geisteswissenschaften hatten wohl nir­gends so stark wie in Deutschland wissenschaftliche und welt­anschauliche Funktionen in sich vereint – oder besser: sich die weltanschauliche, ideologische Bestimmtheit ihrer Interessenahme so konsequent hinter dem Methodenbewußtsein ihres wissenschaftlichen Verfahrens verborgen. Die unauflösliche Einheit aller menschlichen Selbsterkenntnis drückte sich an­derswo klarer aus, in Frankreich in dem weiten Begriff der ,lettres‘, im Englischen in dem neu eingebürgerten Begriff der ‚humanities‘. Mit der Anerkennung des wirkungsgeschichtli­chen Bewußtseins war daher vor allem eine Berichtigung der Selbstauffassung der historischen Geisteswissenschaften, die auch die Kunstwissenschaften einschließen, impliziert.

Die Problemdimension ist damit aber keineswegs voll aus­gemessen. Auch in den Naturwissenschaften gibt es so etwas wie eine hermeneutische Problematik. Auch ihr Weg ist nicht einfach der des methodischen Fortschritts, wie inzwischen etwa durch Thomas Kuhn gezeigt worden ist und was in Wahrheit zu den Einsichten zusammenstimmt, die vor allem Heidegger in ‚Die Zeit des Weltbildes‘ und in seiner Interpretation der Aristotelischen Physik (Phys. B 1) impliziert hatte. Das ‚Paradigma‘ ist für den Einsatz wie für die Deutung methodischer Forschung entscheidend und ist offenkundig nicht selbst das einfache Resultat einer solchen. ‚Mente concipio‘ hatte schon Galilei gesagt.

Dahinter tut sich indes eine noch viel weitere Dimension auf, die in der prinzipiellen Sprachlichkeit oder Sprachbezogenheit gelegen ist. In aller Welterkenntnis und Weltorientierung ist das Moment des Verstehens herauszuarbeiten – und damit die Universalität der Hermeneutik zu erweisen. Natürlich kann mit der prinzipiellen Sprachlichkeit des Verstehens nicht gemeint sein, daß alle Welterfahrung sich nur als Sprechen und im Sprechen vollzöge. Allzu bekannt sind all jene vorsprachlichen und übersprachlichen Innewerdungen, Stummheiten, Schweig­samkeiten, in denen sich unmittelbare Weltbetroffenheit aus­drückt – und wer wird leugnen, daß es reale Bedingungen menschlichen Lebens, daß es Hunger und Liebe, Arbeit und Herrschaft gibt, die nicht selber Rede und Sprache sind, son­dern ihrerseits den Raum bemessen, innerhalb dessen Mitein­ander-Reden und Aufeinander-Hören statthaben kann. Das ist so wenig strittig, daß es vielmehr gerade solche Vorgeformtheiten menschlichen Meinens und Redens sind, die die herme­neutische Reflexion erforderlich machen. Einer am sokratischen Gespräch orientierten Hermeneutik muß nicht erst entgegen- gehalten werden, daß Doxa nicht Wissen, daß das scheinhafte Einverständnis, in dem man so daherlebt und daherredet, kein wirkliches Einverständnis ist. Aber selbst noch die Aufdeckung des Scheinhaften, wie sie das sokratische Gespräch leistet, voll­zieht sich im Element der Sprachlichkeit. Das Gespräch läßt uns sogar im Scheitern der Verständigung, im Mißverständnis und in dem berühmten Eingeständnis des Nichtwissens mög­lichen Einverständnisses gewiß sein. Die Gemeinsamkeit, die wir menschlich nennen, beruht auf der sprachlichen Verfaßtheit unserer Lebenswelt. Noch jeder Versuch, Verzerrungen zwischenmenschlicher Verständigung durch kritische Reflexion und Argumentation einzuklagen, bestätigt diese Gemein­samkeit.

Der hermeneutische Aspekt kann also nicht auf die herme­neutischen Wissenschaften von Kunst und Geschichte, nicht auf den Umgang mit ,Texten’, aber auch nicht, in Erweiterung, auf die Erfahrung der Kunst selbst beschränkt bleiben. Die Universalität des hermeneutischen Problems, die schon Schleiermacher erkannt hatte, geht auf das All des Vernünfti­gen, das heißt auf all das, worüber man sich zu verständigen suchen kann. Wo Verständigung unmög­lich scheint, weil man ,verschiedene Sprachen spricht‘, ist die Hermeneutik nicht etwa am Ende. Dort stellt sich die hermeneutische Aufgabe vielmehr gerade in ihrem vollen Ernst, nämlich als die Aufgabe, die ge­meinsame Sprache zu finden. Die gemeinsame Sprache ist aber nie schon eine feste Gegebenheit. Sie ist zwischen Sprechenden spielende Sprache, die sich so einspielen muß, daß Verständi­gung beginnen kann, und das selbst da, wo verschiedene ,Ansichten’ sich unversöhnbar entgegenstehen. Die Verständigungs­möglichkeit kann zwi­schen vernünftigen Wesen nie verneint werden. Selbst der Relativismus, der in der Vielfalt menschli­cher Sprachen zu liegen scheint, ist keine Schranke für die Ver­nunft, deren Wort allen gemeinsam ist, wie schon Heraklit ge­wußt hat. Das Lernen fremder Sprachen und ebenso das Spre- chenlernen des Kindes bedeutet eben nicht allein die Aneig­nung von Verständigungsmitteln. Dieses Lernen stellt vielmehr eine Art Vorschematisierung möglicher Erfahrung und ihren ersten Erwerb dar. Das Hereinwachsen in eine Sprache ist ein Weg der Welterkenntnis. Nicht nur solches ‚Lernen‘ – alle Erfahrung vollzieht sich in beständiger kommunikativer Fortbildung unserer Weltkenntnis. In einem viel tieferen und allgemeineren Sinne, als die von August Boeckh für das Ge­schäft des Philologen geprägte Formel es meinte, ist Erfahrung immer ‚Erkenntnis von Erkanntem‘. Wir leben in Überlieferungen, und diese sind nicht ein Teilbereich unserer Welterfah­rung, nicht eine sogenannte kulturelle Überlieferung, die allein aus Texten und Denkmälern bestünde und einen sprachlich verfaßten und geschichtlich dokumentierten Sinn weitervermit­telte. Vielmehr ist es die Welt selbst, die kommunikativ erfah­ren und als eine ins Unendliche offene Aufgabe uns beständig übergeben wird (traditur). Sie ist nie die Welt eines ersten Tages, sondern immer schon uns überkommen. Überall da, wo etwas erfahren, wo Unvertrautheit aufgehoben wird, wo Ein­leuchten, Einsehen, Aneignung erfolgt, vollzieht sich der her­meneutische Prozeß der Einbringung in das Wort und in das gemeinsame Bewußtsein. Selbst die monologische Sprache der modernen Wissenschaft gewinnt gesellschaftliche Realität nur auf diesem Wege. Hier scheint mir die Universalität der Her­meneutik, die etwa Habermas so entschieden bestreitet, wohl­begründet. Habermas ist, so meine ich, nie über ein idealisti­sches Verständnis des hermeneutischen Problems hinausgekom­men und engt mich zu Unrecht auf ‚kulturelle Überlieferung‘ im Sinne Theodor Litts ein. Die ausgedehnte Diskussion dieser Frage hat in dem Suhrkampband ‚Hermeneutik und Ideologie­kritik‘ ihre Dokumentation gefunden.

Unserer philosophischen Tradition gegenüber haben wir es mit der gleichen hermeneutischen Aufgabe zu tun. Philosophie­ren fängt nicht mit Null an, sondern hat die Sprache, die wir sprechen, weiterzudenken und weiterzusprechen, und wie in den Tagen der antiken Sophistik heißt das auch heute, die ihrem ursprünglichen Sagesinn entfremdete Sprache der Philo­sophie auf das Sagen des Gemeinten und auf die unser Spre­chen tragenden Gemeinsamkeiten zurückzuführen.

Wir sind durch die moderne Wissenschaft und ihre philosophische Generalisierung für diese Aufgabe mehr oder minder blind geworden. Im Platonischen ,Phaidon‘ stellt Sokrates die Forderung auf, er möchte den Weltenbau und das Naturgesche­hen so verstehen, wie er ver­stehe, warum er hier im Gefängnis sitze und nicht das ihm gemachte Fluchtangebot ange­nommen habe –, nämlich weil er es für gut hielt, auch einen ungerech­ten Urteilsspruch auf sich zu nehmen. Die Natur so zu ver­stehen, wie Sokrates sich hier selbst versteht, ist eine Forde­rung, die durch die Aristotelische Physik auf ihre Weise erfüllt worden ist. Mit dem, was Wissenschaft seit dem 17. Jahrhun­dert ist und was erst wirklich Wissenschaft von der Natur und wissenschaftlich gegründete Beherrschung der Natur ermöglicht hat, ist diese Forderung aber nicht mehr vereinbar. Genau das ist der Grund, warum die Hermeneutik und ihre methodischen Konsequenzen aus der Theorie der modernen Wissenschaft nicht so viel zu lernen haben wie aus älteren Traditionen, an die es sich zu erinnern gilt.

Die eine ist die Tradition der Rhetorik, wie sie als letzter Vico mit methodischer Bewußtheit gegen die moderne Wissen­schaft, die er Critica nannte, verteidigt hat. Schon in meinen klas­sischen Studien hatte ich die Rhetorik, die Redekunst wie ihre Theorie, besonders bevorzugt. Zumal die Rhetorik in einer noch lange nicht genug beachteten Weise auch der Träger der älteren Tradition der ästhetischen Begriffe gewesen ist, wie noch an Baumgartens Bestimmung der Ästhetik deutlich wird. Man muß es heute mit Nachdruck sagen: Die Rationalität der rhetorischen Argumentationsweise, die zwar ‚Affekte‘ ins Spiel zu bringen sucht, aber grundsätzlich Argumente geltend macht und mit Wahrscheinlichkeiten arbeitet, ist und bleibt ein weit­aus stärkerer gesellschaftlicher Bestimmungsfaktor als die Gewißheit der Wissenschaft. So habe ich mich in ‚Wahrheit und Methode‘ ausdrücklich auf die Rhetorik bezo­gen und von man­cher Seite, insbesondere in den Arbeiten von Chaim Perelman, der von der Rechtspraxis ausgeht, dafür Bestätigung gefunden. Es heißt nicht die Bedeutung der modernen Wissenschaft und ihrer Anwendung für die technische Zivilisation von heute ver­kennen, wenn man darauf besteht. Im Gegenteil. Es sind gewiß ganz neue Probleme der Vermittlung, die die moderne Zivilisa­tion aufwirft. Aber die Lage hat sich dadurch nicht im Prinzip ver­ändert. Die ,hermeneutische‘ Aufgabe der Integration der Monologik der Wissenschaften in das kommunikative Bewußtsein, und das schließt ein: die Aufgabe, praktisch, sozial, poli­tisch Vernünftigkeit zu üben, ist dadurch nur um so dringlicher geworden.

In Wahrheit ist es ein altes Problem, das wir seit Plato ken­nen. Sokrates hat alle, die sich auf ihr Wissen beriefen, Staats­männer, Dichter, aber auch die wirklichen Könner ihrer hand­werklichen Kunst, dessen überführt, daß sie das ,Gute‘ nicht wissen. Aristoteles hat den struk­turellen Unterschied, der hier vorliegt, durch die Scheidung von Techne und Phronesis be­stimmt. Das läßt sich nicht wegdiskutieren. Auch wenn sich diese Unterscheidung mißbrau­chen läßt und etwa die Berufung auf das ‚Gewissen‘ oft undurchschaute ideologische Abhängig­keiten verschleiern mag, ist es doch ein Mißverständnis dessen, was Vernunft und Vernünftigkeit sind, wenn man sie nur in der anonymen Wissenschaft und als Wissenschaft anerkennen will. So ist es mir für meine eigene hermeneutische Theorien­bildung überzeugend geworden, daß wir dieses sokratische Vermächtnis einer ‚menschlichen Weisheit‘, die gemessen an der göttergleichen Unfehlbarkeit des von der Wissenschaft Ge­wußten Unwissenheit ist, wieder aufnehmen müssen. Dafür kann uns die von Aristoteles entwickelte ,praktische Philoso­phie‘ als Modell gelten. Das ist die zweite Traditionslinie, die es zu erneuern gilt.

Das aristotelische Programm einer praktischen Wissenschaft scheint mir das einzige wissenschaftstheoretische Vorbild dar­zustellen, nach dem die ‚verstehenden‘ Wissenschaften gedacht werden können. Denn in der hermeneutischen Reflexion auf die Bedingungen des Verstehens kommt heraus, daß dessen Möglichkeiten sich in einer sich sprachlich formulierenden, nie mit Null anfangenden, nie mit Unendlich endenden Besinnung artikulieren. Aristoteles zeigt, daß praktische Vernunft und praktische Einsicht nicht die Lehrbarkeit von Wissenschaft be­sitzen, sondern selber in Praxis, und das heißt in der inneren Bindung an Ethos, ihre Möglichkeit gewinnen. Daran gilt es sich zu erinnern. Das Vorbild der praktischen Philosophie muß an die Stelle jener ‚Theoria‘ treten, deren ontologische Legiti­mation allein in einem Intellectus infinitus gefunden werden könnte, von dem unsere auf keine Offenbarung gestützte Da­seinserfahrung nichts weiß. Dies Vorbild muß aber auch all denen entgegengehalten werden, die menschliche Vernünftig­keit unter den Methodengedanken der ‚anonymen‘ Wissen­schaft beugen. Der Perfektionierung des logischen Selbstver­ständnisses der Wissenschaft gegenüber scheint mir dies als die eigentliche Aufgabe der Philosophie, auch und gerade ange­sichts der praktischen Bedeutung der Wissenschaft für unser Leben und Überleben.

Die ‚praktische Philosophie‘ bedeutet aber noch mehr als ein bloßes methodisches Vorbild für die ‚hermeneutischen‘ Wissen­schaften. Sie ist auch so etwas wie ihre sachliche Grundlage. Die methodische Sonderart der praktischen Philosophie ist nur die Folge der durch Aristoteles in ihrer begrifflichen Eigenart herausgearbeiteten ‚praktischen Vernünftigkeit‘. Deren Struk­tur läßt sich vom modernen Wissenschaftsbegriff aus überhaupt nicht fassen. Selbst die dialektische Verflüssigung, die den tra­ditionellen Begriffen durch Regel abgewonnen worden ist und manche alten Wahrheiten der ‚praktischen‘ Philosophie er­neuert hat, droht einen neuen undurchschauten Dogmatismus der Reflexion. Der Reflexionsbegriff, der der Ideologiekritik zugrunde liegt, impliziert nämlich einen abstrakten Begriff von zwangsfreiem Diskurs, der die eigentlichen Bedingungen menschlicher Praxis aus dem Auge verliert. Ich mußte das als eine illegitime Übertragung der therapeutischen Situation der Psychoanalyse zurückweisen. Es gibt im Felde der praktischen Vernunft keine Analogie für den ‚wissenden‘ Analysten, der die produktive Reflexionsleistung des Analysanden leitet. In der Frage der Reflexion scheint mir Brentanos auf Aristoteles zurückgehende Unterscheidung des reflexiven Inneseins von der objektivierenden Reflexion dem Erbe des deutschen Idea­lismus überlegen. Das gilt in meinen Augen selbst noch gegen­über der transzendentalen Reflexionsforderung, die von Apel und anderen an die Hermeneutik gerichtet worden ist. Das alles ist in dem vielgelesenen Band ‚Hermeneutik und Ideolo­giekritik‘ (Suhrkamp) wohl dokumentiert.

So haben mich mehr als die großen Denker des deutschen Idealismus die Platonischen Dialo­ge geprägt, indem sie mich ständig begleiteten. Sie sind ein einzigartiger Umgang. Wenn immer sonst wir, durch Nietzsche, durch Heidegger belehrt, die Vorgreiflichkeit der griechischen Begrifflichkeit, von Aristote­les bis Hege[ und bis zur modernen Logik, als eine Grenze empfinden mögen, jenseits derer unsere eigenen Fragen ohne Antwort und unsere Intentionen unbefriedigt bleiben – Platos Dialogkunst ist auch noch dieser Scheinüberlegenheit, die wir als Erben der judäo-christlichen Überlieferung zu besitzen mei­nen, zuvorgekommen. Gewiß hat gerade er, mit der Ideenlehre, mit der Dialektik der Ideen, mit der Mathematisierung der Physik und mit der Intellektuierung dessen, was wir ‚Ethik‘ nennen würden, den Grund zu der metaphysischen Begrifflichkeit unserer Tradition gelegt. Aber er hat zugleich alle seine Aussagen mimetisch begrenzt, und wie Sokrates es mit seiner gewohnten Ironie bei seinen Gesprächspartnern zu erreichen wußte, so beraubt auch Plato durch seine Kunst der Dialog­dichtung seinen Leser seiner vermeintlichen Überlegenheit. Mit Plato philosophieren, nicht: Plato kritisieren, ist die Aufgabe. Plato kritisieren ist vielleicht ebenso einfältig, wie Sophokles vorzuhalten, daß er nicht Shakespeare ist. Das klingt paradox, aber nur für den, der gegen die philosophische Relevanz der poetischen Imagination Platos blind ist.

Freilich muß man es erst lernen, Plato wirklich mimetisch zu lesen. In unserem Jahrhundert ist dafür einiges geschehen, ins­besondere durch Paul Friedländer, aber auch durch manche in­spirierte, wenn auch nicht so gründlich fundierte Bücher aus dem Kreis des Dichters Stefan George (Friedemann, Singer, Hildebrandt) sowie durch die Arbeiten von Leo Strauss und seinen Freunden und Schülern. Die Aufgabe ist aber noch weit von ihrer Lösung. Sie besteht darin, die begrifflichen Aussagen, die im Gespräch begegnen, mit Genauigkeit auf die dialogische Wirklichkeit zu beziehen, aus der sie erwachsen. Da gibt es eine ‚dorische Harmonie‘ von Tat und Rede, Ergon und Logos, von der bei Plato nicht nur mit Worten die Rede ist. Sie ist vielmehr das eigentliche Lebensgesetz der Sokratischen Dia­loge. Sie sind im wörtlichen Sinne ‚hinführende Reden‘. Erst von ihr her schließt sich auf, was die oft sophistisch wirkende und tatsächlich oft die schlimmste Verwirrung betreibende Widerlegungskunst des Sokrates in Wahrheit intendiert. Ja, wenn menschliche Weisheit so wäre, daß sie von einem zu dem anderen übergehen könnte, wie Wasser von einem Gefäß zum anderen an einem Wollfaden herübergeleitet werden kann … (Symp. 175 d) Aber so ist menschliche Weisheit nicht. Sie ist das Wissen des Nichtwissens. An ihr wird der andere, mit dem Sokrates das Gespräch führt, seines eigenen Nichtwissens über­führt –, und das bedeutet: es geht ihm etwas über sich selbst auf und sein Leben in Vermeintlichkeiten. Oder, um es mit einer kühnen Wendung aus Platos 7. Brief zu sagen: Nicht seine These allein, sondern seine Seele wird widerlegt. Das gilt sowohl von den Knaben, die sich Freunde glauben und doch noch gar nicht wissen, was Freundschaft ist (Lysis), wie von den berühmten Feldherren, die glauben, die Tugend des Sol­daten in sich zu verkörpern (Laches), oder von den ehrgeizigen Staatsmännern, die ein allem anderen Wissen überlegenes Wis­sen zu besitzen meinen (Charmides), – es gilt ebenso von all denen, die den professionellen Lehrern der Weisheit folgen, und am Ende gilt es von dem einfachsten Bürger selbst, der von sich glauben muß und glauben machen muß, daß er ,gerecht‘ ist, als Kaufmann, Händler, Bankier so gut wie als Hand­werker usw. Aber offenkundig ist es nicht Fach-Wissen, auf das es dabei ankommt, sondern eine andere Art von Wissen jenseits aller speziellen Ansprüche und Kompetenzen wissen­der Überlegenheit, jenseits aller sonst bekannten Technai und Epistemai. Dies andere Wissen meint die ‚Wendung zur Idee‘, die hinter allen Bloßstellungen der vermeintlich Wissenden liegt.

Aber auch das heißt nicht, daß Plato am Ende eine Lehre hat, die man von ihm lernen kann: die ‚Ideenlehre‘. Und wenn er diese ‚Lehre‘ in seinem Parmenidesdialog kritisiert, heißt das erst recht nicht, daß er damals an ihr irre geworden ist. Es heißt vielmehr, daß die Annahme von ‚Ideen‘ nicht so sehr eine ‚Lehre‘ war, sondern eine Fragerichtung bezeichnet, deren Implikationen zu entwickeln und zu diskutieren die Aufgabe der Philosophie, das heißt der Platonischen Dialektik, war. Dia­lektik ist die Kunst, ein Gespräch zu führen, und das schließt die Kunst ein, dies Gespräch mit sich selbst zu führen und der Verständigung mit sich selbst nachzugehen. Sie ist die Kunst des Denkens. Das aber bedeutet die Kunst, nach dem zu fra­gen, was man eigentlich mit dem meint, was man denkt und sagt. Man begibt sich damit auf einen Weg. Besser: man ist damit auf einem Wege. Denn es gibt so etwas wie eine ‚Naturanlage des Menschen zur Philosophie‘. Unser Denken bleibt nicht stehen bei dem, was einer mit diesem oder mit jenem meint. Denken weist stets über sich hinaus. Das Platonische Dialogwerk hat dafür seinen Ausdruck – es weist auf das Eine, das Sein, das ‚Gute‘, das sich in der Ordnung der Seele, der Stadtverfassung wie des Weltenbaues darstellt.

Wenn Heidegger die Annahme der Ideen als den Anfang der Seinsvergessenheit interpretiert, die in der bloßen Vorgestelltheit und der Objektivierung gipfelt, in die die technologische Ära des universal gewordenen Willens zur Macht ausläuft, und wenn er konsequent genug ist, auch das früheste griechische Seinsdenken als die Vorbereitung dieser in der Metaphysik sich ereignenden Seinsvergessenheit zu verstehen, so bedeutet dem­gegenüber die eigentliche Dimension der Platonischen Dialek­tik der Ideen im Grunde etwas anderes. Der ihr zugrunde lie­gende Überschritt auf das Jenseits alles Seienden hin ist ein Schritt über die ,einfältige‘ Annahme der Ideen hinaus und in letzter Konsequenz eine Gegenbewegung gegen die metaphysi­sche Auslegung des Seins als des Seins des Seienden.

Tatsächlich ließe sich die Geschichte der Metaphysik auch als eine Geschichte des Platonis­mus schreiben. Ihre Stationen wären etwa Plotin und Augustin, Meister Eckhart und Niko­laus von Kues, Leibniz, Kant und Regel, das heißt aber: alle jene Denkanstrengungen des Abendlandes, die hinter das substantiale Sein der Idee und überhaupt hinter die Substanzlehre der metaphysischen Tradition zurückfragen. Der erste Platoniker in dieser Reihe aber wäre kein anderer als Aristoteles selbst. Das glaubhaft zu machen, und zwar sowohl gegen die Instanz der Aristotelischen Kritik an der Ideenlehre als auch gegen die Substanzmetaphysik der abendländischen Tradition, wäre das Ziel meiner Studien auf diesem Felde. Ich stünde damit übrigens nicht ganz allein. Es hat Hegel gegeben.

Es wäre auch kein bloß ,historisches‘ Unternehmen. Denn dahinter stünde durchaus nicht die Absicht, die von Heidegger entworfene Geschichte der wachsenden Seinsvergessenheit durch eine Geschichte der Seinserinnerung zu ergänzen. Das wäre nicht sinnvoll. Wohl ist es angemessen, von wachsender Vergessenheit zu sprechen. So bestand Heideggers große Lei­stung in meinen Augen gerade darin, uns aus einer geradezu völligen Vergessenheit aufzu­rütteln, indem er uns lehrte, im Ernste zu fragen: Was ist das, das ,Sein‘? Ich erinnere mich, wie im Jahre 1924 Heidegger in einem Seminar über Cajetans ‚De nominum analogia‘ eine Diskussion mit der Frage be­endete: Was ist das, das Sein?, und wie wir uns über der Ab­surdität dieser Frage kopfschüttelnd ansahen. Inzwischen sind wir alle in gewissem Sinne an die Seinsfrage erinnert worden. Auch die Verteidiger der traditionellen metaphysischen Tradi­tion, die Kritiker Heideggers sein wollen, sind nicht mehr in der Selbstverständlichkeit befangen, mit der das in der meta­physischen Tradition begründete Verständnis von Sein fraglos galt. Sie verteidigen vielmehr die klassische Antwort als eine Antwort, das heißt aber, sie haben die Frage als Frage wieder­gewonnen.

Überall, wo Philosophieren versucht wird, geschieht in dieser Weise Seins-Erinnerung. Trotzdem gibt es, wie mir scheint, keine Geschichte der Seinserinnerung. Erinnerung hat keine Geschichte. Es gibt nicht in derselben Weise, wie es wachsende Vergessenheit gibt, eine wachsende Erinnerung. Er­innerung ist immer das, was einem kommt, was über einen kommt, so daß ein Wiedervergegenwärtigtes dem Vergehen und Vergessen eine Weile Halt gebietet. Seinserinnerung aber ist obendrein nicht Erinnerung an etwas vordem Gewußtes und jetzt Vergegenwärtigtes, sondern Erinnerung an vordem Ge­fragtes, ist Erinnerung an eine ver­schollene Frage. Alle Frage aber, die als Frage gefragt wird, ist nicht länger erinnerte. Als Erinnerung an das damals Gefragte ist sie das jetzt Gefragte. So hebt das Fragen die Geschichtlichkeit unseres Denkens und Erkennens auf. Philosophie hat keine Geschichte. Der erste, der eine Geschichte der Philosophie schrieb, die wirklich eine solche war, war auch der letzte: Regel. In ihm hob sich Ge­schichte in die Gegenwart des absoluten Geistes auf.

Aber ist das unsere Gegenwart? Ist auch nur Regel für uns diese Gegenwart? Gewiß soll man Regel nicht dogmatisch ein­engen. Wenn er vom Ende der Geschichte sprach, die mit der Freiheit aller erreicht sei, so hieß das, daß die Geschichte nur in dem Sinne zu Ende sei, daß kein höheres Prinzip als die Freiheit aller aufgestellt werden könne. Die steigende Unfrei­heit aller, die sich als das vielleicht unausweichliche Schicksal der Weltzivilisation abzuzeichnen begonnen hat, wäre in sei­nen Augen kein Einwand gegen das Prinzip. Es wäre nur »schlimm für die Tatsachen«. Gleichwohl fragen wir gegen Regel: Ist das Prinzip, das erste und letzte, worin der philoso­phische Gedanke des Seins endet, ‚Geist‘? Dagegen hat die Kritik der Junghegelianer sich polemisch orientiert, und nach meiner Überzeugung ist Heidegger es gewesen, der als erster eine positive Möglichkeit freilegte, die über die bloße dialek­tische Umkehrung hinausging. Denn das ist sein Punkt: ‚Wahrheit‘ ist nicht die volle Unverborgenheit, deren ideale Erfüllung am Ende die Selbstgegenwart des absoluten Geistes bliebe. Er lehrte uns vielmehr, Wahrheit als Entbergung und Verbergung zugleich zu denken. Die großen Denkversuche der Tradition, in denen wir uns immer wieder wie mitausgesprochen wissen, stehen alle in dieser Spannung. Was ausgesagt ist, ist nicht alles. Das Ungesagte erst macht das Gesagte zum Wort, das uns erreichen kann. Das scheint mir von zwingender Richtig­keit. Die Begriffe, in denen sich Denken formuliert, stehen gleichsam gegen eine Wand von Dunkelheiten. Sie wirken ein­seitig, festlegend, vorurteilsvoll. Man denke etwa an den grie­chischen Intellektualismus oder an die Willensmetaphysik des deutschen Idealismus oder an den Methodologismus der Neukantianer und Neupositivisten. Sie sagen sich auf ihre Weise aus, aber nicht ohne sich für sich selbst dabei unkenntlich zu werden. Sie sind in der Vorgreiflichkeit ihrer Begriffe befangen.

Aus diesem Grunde ist jeder Dialog mit dem Denken eines Denkers, den wir zu führen su­chen, indem wir ihn zu ver­stehen trachten, ein in sich unendliches Gespräch. Ein wirk­liches Gespräch, in dem wir ‚unsere‘ Sprache zu finden suchen – als die gemeinsame. Die historische Abstandnahme, und gar die Placierung des Partners in einem historisch überschaubar gemachten Ablauf, bleiben untergeordnete Momente unseres Verständigungsversuchs, in Wahrheit Formen der Selbstver­gewisserung, mit denen wir uns gegen den Partner verschlie­ßen. Im Gespräch aber versuchen wir uns für ihn zu öffnen, das heißt die gemeinsame Sache festzuhalten, in der wir zusammen stehen.

Wenn das so ist, dann steht es freilich schlecht mit einer eigenen Position. Bedeutet solche dialogische Unendlichkeit nicht in letzter Radikalität einen völligen Relativismus? Aber wäre das nicht selbst wieder eine solche Position und oben­drein eine, die sich in bekannter Weise in Selbstwiderspruch verstrickte? Am Ende ist es so wie beim Erwerb von Lebens­erfahrung auch: Eine Fülle von Erfahrungen, Begegnungen, Belehrungen, Enttäuschungen mündet nicht darin, daß man am Ende alles weiß, sondern daß man Bescheid weiß und Be­scheidenheit gelernt hat. In einem zentralen Kapitel meines Buches ‚Wahrheit und Methode‘ habe ich diesen ,personalen‘ Begriff von Erfahrung gegen die Verdeckung verteidigt, die er durch den institutionalisierten Prozeß der Erfahrungswissen­schaften erlitten hat und empfinde mich darin M. Polanyi ver­wandt. Die ‚hermeneutische‘ Philosophie versteht sich von da aus nicht als eine ‚absolute‘ Position, sondern als ein Weg der Erfahrung. Sie besteht darauf, daß es kein höheres Prinzip gibt als dies, sich dem Gespräch offenzuhalten. Das aber heißt stets, das mögliche Recht, ja die Überlegenheit des Gesprächs­partners im voraus anzuerkennen. Ist das zu wenig? Es scheint mir die Art Redlichkeit, die man von einem Professor der Philosophie allein verlangen kann –, die man aber auch ver­langen sollte.

Es scheint mir evident, daß der Rückgang auf die ursprüng­liche Dialogik menschlicher Welt­habe nicht hintergehbar ist. Das gilt auch dann, wenn letzte Rechenschaftsgabe, ‚Letztbegründung‘ gefordert oder ‚Selbstverwirklichung des Geistes‘ gelehrt wird. So mußte vor allem Hegels Denkweg erneut be­fragt werden. Heidegger hat die griechischen Hintergründe der Tradition der Metaphysik aufgedeckt und in Hegels dialek­tischer Auflösung der traditionellen Begrifflichkeit in seiner ‚Wissenschaft der Logik‘die radikalste Gefolgschaft gegenüber den Griechen erkannt. Aber seine Destruktion der Metaphysik hat dieselbe doch nicht ihres Sinnes beraubt. Insbesondere machte sich Hegels kunstvolle spekulative Überschreitung der Subjektivität des subjektiven Geistes geltend und bot sich als ein eigener Lösungsweg gegenüber dem neuzeitlichen Subjek­tivismus an. War hier die Intention nicht die gleiche wie in Heideggers Abkehr von der transzendentalen Selbstauffassung im Denken der ‚Kehre‘? War nicht auch Hegels Intention, die Orientierung am Selbstbewußtsein und an der Subjekt-Objekt-Spaltung der Bewußtseinsphilosophie hinter sich zu lassen? Oder sind da noch Unterschiede? Bedeutet die Orientierung an der Universalität der ‚Sprache‘, das Bestehen auf der Sprachlichkeit unseres Weltzuganges, das wir mit Heidegger teilen, gar einen Schritt über Heget hinaus, einen Schritt hinter Hegel zurück?

Zu einer ersten Ortsbestimmung meines eigenen Denkver­suches könnte ich in der Tat sagen, daß ich die Ehrenrettung der ‚schlechten Unendlichkeit‘ auf mich genommen habe. Frei­lich mit einer in meinen Augen entscheidenden Modifikation. Denn der unendliche Dialog der Seele mit sich selber, der das Denken ist, ist nicht zu charakterisieren als eine endlose Fort­bestimmung der zu erkennenden Gegenstandswelt, weder im neukantianischen Sinne der unendlichen Aufgabe noch im dialektischen Sinne des denkenden Hinaus-Seins über jede jeweilige Grenze. Hier hat für mich Heidegger einen neuen Weg gewiesen, indem er die Kritik an der metaphysischen Tradition in die Vorbereitung wendete, die Frage nach dem Sein auf neue Weise zu stellen, und sich dabei ,unterwegs zur Sprache‘ fand. Es ist der Weg der Sprache, die nicht in der Urteilsaussage und ihrem gegenständlichen Geltungsanspruch aufgeht, sondern die sich stets an das Ganze des Seins hält. Totalität ist nicht eine zu bestimmende Gegenständlichkeit. Kants Kritik an den Antinomien der reinen Vernunft scheint mir insofern gegen Hegel recht zu behalten. Totalität ist nicht Gegenstand, sondern der Welthorizont, der uns umschließt, und in den wir hineinleben.

Ich brauchte nicht erst Heidegger zu folgen, der Hölderlin gegen Hegel aufbaute und das Werk der Kunst als ein ur­sprüngliches Wahrheitsgeschehen deutete, um im dichterischen Werk ein Korrektiv für das Ideal objektiver Bestimmtheit und für die Hybris der Begriffe anzuerkennen. Das war mir viel­mehr von meinen allerersten eigenen Denkversuchen her ge­wiß. Es sollte meiner eigenen hermeneutischen Orientierung beständig zu denken geben. Der hermeneutische Versuch, Sprache vom Dialog aus zu denken – ein für einen lebens­langen Schüler Platos unausweichlicher Versuch -, bedeutete letzten Endes die Überholbarkeit jeder Fixie­rung durch den Fortgang des Gesprächs. So wird die terminologische Fixie­rung, die im konstruktiven Bereich der modernen Wissenschaft und ihrer Verfügbarmachung des Wissens für jedermann ganz angemessen ist, im Felde der Bewegung des philosophischen Gedankens eigentümlich verdächtig. Die großen griechischen Denker wahrten sich die Beweglichkeit der eigenen Sprache auch dort, wo sie – in thematischer Analyse – gelegentlich begriffliche Fixierungen vornahmen. Es gibt aber Scholastik, antike, mittelalterliche, neue und neueste. Sie begleitet die ‚Philosophie wie ihr Schatten. Daher wird der Rang eines. Denkens fast dadurch bestimmbar, wie weit es die Versteine­rungen aufzubrechen vermag, die der überlieferte philoso­phische Sprachgebrauch darstellt. Hegels programmatischer Versuch, den er als seine dialektische Methode handhabte, hat im Grunde viele Vorgänger. Selbst ein so zeremoniell gesinnter Denker wie Kant, der die lateinische Schulsprache stets mit im Sinne hatte, fand seine ‚eige­ne‘ Sprache, die zwar Neubildun­gen vermied, aber den traditionellen Begriffen viele neue Wen­dungen abgewann. Auch Husserls Rang bestimmt sich gegen­über dem zeitgenössischen und älteren Neukantianismus gerade dadurch, daß seine geistige Anschauungskraft überlieferte Kunstausdrücke und die deskriptive Geschmeidigkeit seines sprachlichen Vokabulars zur Einheit eines Stils verschmolz. Heidegger vollends berief sich geradezu auf das Vorbild Platos und Aristoteles‘, um die Neuartigkeit seines Sprachge­barens zu rechtfertigen, und man ist ihm dabei weit mehr gefolgt, als die erste provokatorische Wirkung und Verblüf­fung erwarten ließ. Die Philosophie befindet sich eben, im Unterschied zu den Wissenschaften und der Lebenspraxis, in einer eigentümlichen Schwierigkeit. Die Sprache, die wir sprechen, ist nicht für die Absichten des Philosophierens ge­schaffen. Philosophie verstrickt sich in einer konstitutiven Sprachnot, und diese Sprachnot wird um so fühlbarer, je kühner ein Philosophierender vorausdenkt. Im allgemeinen ist es das Kennzeichen des Dilettanten, daß er willkürlich Be­griffe ‚bildet‘ und eifrig seine Begriffe ‚definiert‘. Der Philosoph weckt die Anschauungskraft der Sprache, und jede sprachliche Kühnheit und Gewaltsamkeit kann am Platze sein, wenn sie es nur erreicht, daß sie in die Sprache derer eingeht, die mit­denken und weiterdenken, und das heißt, wenn sie nur den Horizont der Verständigung fortbewegt, ausdehnt, lichtet.

Es ist unvermeidlich, daß die Sprache der Philosophie, die ihren Gegenstand niemals vorfindet, sondern selbst erst auf­baut, sich nicht in Satzsystemen bewegt, deren logische Forma­lisierung und kritische Oberprüfung auf Schlüssigkeit und Eindeutigkeit hin die Einsichten der Philosophie vertiefen könnte. Diese Tatsache wird keine ,Revolution‘, auch nicht die durch die analysis of ordinary language proklamierte, aus der Welt schaffen. Um es am Beispiel zu illustrieren: Es kann: einen Gewinn an Klarheit bringen, wenn man die in einem Platonischen Dialog begegnenden Argumentationen mit logi­schen Mitteln analysiert, Inkohärenzen aufweist, Sprünge aus­füllt, Fehlschlüsse entlarvt usw. Aber lernt man so Plato lesen? Seine Fragen zu den eigenen zu machen? Gelingt es, an ihm zu lernen, statt sich eigene Überlegenheit zu bestätigen? Was für Plato gilt, gilt aber mutatis mutandis für alle Philosophie. Plato hat das in seinem 7. Brief, wie mir scheint, ein für allemal richtig beschrieben: Die Mittel des Philosophierens sind nicht es selbst. Plane logische Schlüssigkeil ist noch nicht alles. Nicht als ob die Logik nicht ihre evidente Gültigkeit hätte. Aber die Thematisierung des Logischen beschränkt den Frage­horizont auf formale Überprüfbarkeit und verstellt damit die Weltöffnung, die in unserer sprachlich ausgelegten Welt­erfahrung geschieht. Das ist eine hermeneutische Feststellung, bei der ich am Ende mit dem späten Wittgenstein eine gewisse Konvergenz zu bemerken meine. Er revidierte dort die nomi­nalistischen Vorurteile seines ,Traktats‘ zu Gunsten einer Zu­rückführung al es Sprechens auf Zusammenhänge der Lebens­praxis. Freilich blieb ihm der Ertrag dieser Reduktion auch weiterhin negativ. Er bestand für ihn in der Abweisung der unausweisbaren Fragen der Metaphysik und nicht darin, die unabweisbaren Fragen der Metaphysik – so unausweisbar sie sein mögen – wiederzugewinnen, indem man sie aus der Sprachverlaßtheil unseres In-der-Welt-Seins heraushört. Hier­für ist weit mehr als von Wittgenstein von dem Worte der Dichter zu lernen.

Da ist es genau so und niemand bestreitet es dort, daß es so ist: die begriffliche Explikation vermag den Gehalt eines dichterischen Gebildes nicht auszuschöpfen. Das ist minde­stens seit Kant anerkannt, wenn nicht gar schon seit Baum­gartens Entdeckung der ästhetischen Wahrheit (cognitio sensitiva). Aber unter hermeneutischem Aspekt muß das besonders interessieren. Der Dichtung gegenüber genügt nicht die bloße Scheidung des Ästhetischen vom Theoretischen und seine Be­freiung vom Druck der Regeln oder des Begriffes. Auch Dich­tung bleibt noch eine Gestalt der Rede, in der Begriffe zuein­ander in Beziehung treten. So besteht die hermeneutische Aufgabe darin, den besonderen Ort der Dichtung im Zu­sammenhang der Verbindlichkeit der Sprache, in der immer Begriffliches im Spiele ist, bestimmen zu lernen. Auf welche Weise wird Sprache zur Kunst? Diese Frage stellt sich hier nicht nur, weil es sich bei der Kunst der Interpretation immer um Formen von Rede und Text handelt, und weil es sich bei der Dichtung auch um sprachliche Gebilde, um Texte handelt. Dichterische Gebilde sind in einem neuartigen Sinne ‚Gebilde‘, sie sind in eminenter Weise ‚Texte‘. Sprache tritt hier in ihrer vollendeten Autonomie heraus. Sie steht für sich und bringt sich zum Stehen, während sonst Worte durch die Intentions­richtung der Rede überholt werden, die sie hinter sich läßt.

Hier steckt ein hermeneutisches Problem von eigener Schwierigkeit. Es ist eine besondere Art von Kommunikation, die bei Dichtungen vor sich geht. Mit wem findet sie statt? Mit dem Leser? Mit welchem Leser? Hier gewinnt die Dia­lektik von Frage und Antwort, die dem hermeneutischen Prozeß immer zugrunde liegt und dem Grundschema des Dia­logischen entspringt, eine besondere Modifikation. Aufnahme und Interpretation von Dichtung scheint ein dialogisches Ver­hältnis eigener Art zu implizieren.

Das tritt besonders hervor, wenn man die verschiedenen Wei­sen des Sprechens in ihrer Sonderart studiert. Es ist nicht nur das dichterische Wort, das eine reiche Skala von Differenzie­rungen aufweist, z. B. episch, dramatisch, lyrisch. Es gibt offen­bar auch andere Weisen des Sprechens, in denen sich das her­meneutische Grundverhältnis von Frage und Antwort eigentüm­lich modifiziert. Ich denke an die verschiedenen Formen des religiösen Sprechens, wie Verkündigung, Gebet, Predigt, Seg­nung. Ich nenne die mythische ‚Sage‘, den Rechtstext, und eben auch die mehr oder minder stammelnde Sprache der Philoso­phie. Sie bilden eine hermeneutische Anwendungsproblematik, der ich mich seit dem Erscheinen von ‚Wahrheit und Methode‘ zunehmend mehr gewidmet habe. Von zwei Seiten aus glaube ich der Sache nähergekommen zu sein, einmal von meinen Studien zu Regel her, in denen ich die Rolle des Sprachlichen in seinem Zusammenhang mit dem Logischen verfolge, und sodann von moderner hermetischer Dichtung her, wie ich sie in einem Kommentar zu Paul Celans ‚Atemkristall‘ zum Gegenstand gemacht habe. Das Verhältnis von Philosophie und Poesie steht im Zentrum dieser Untersuchungen. Das Nachdenken darüber dient mir dazu, und kann uns allen dazu dienen, sich beständig daran zu erinnern, daß Plato kein Platoniker war und Philosophie nicht Scholastik ist.

Vom Autor getroffene Auswahl seiner Veröffentlichungen

Platos dialektische Ethik. 2. Auflage 1968, Felix Meiner, Hamburg. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Herme­neutik. 4. Auflage 1975, J. C. B. Mohr (P. Siebeck), Tübingen.

Kleine Schriften I: Philosophie. Hermeneutik. 1967; II: Interpreta­tionen. 1967; 111: Idee und Sprache; Platon, Husserl, Heidegger. 1972 (mit ausführlicher Bibliographie); IV: Variationen. 1977. J. C. B. Mohr (P. Siebeck), Tübingen.

Zur Begriffswelt der Vorsokratiker. 1968, Wissenschaftl. Buchgesell­schaft, Darmstadt.

Hegels Dialektik. Fünf hermeneutische Studien. 1971, J. C. B. Mohr (P. Siebeck), Tübingen.

Wer bin ich und wer bist du? Ein Kommentar zu Paul Celans »Atemkristall«. 1973, Suhrkamp, Frankfurt a. M.

Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft. Aufsätze. 1976. Suhrkamp, Frankfurt a. M.

Herausgeber von »Neue Anthropologie«. Eine Intregration der Wis­senschaft vom Menschen. Thieme Verlag/DTV-Verlag Bd. 1-3, 1972; Bd. 4 u. 5, 1973; Bd. 6 u. 7, 1975; mit einem eigenen Bei­trag als Einführung und einem Schlußbericht.

Gibt es die Materie? Eine Studie zur Begriffsbildung in Philosophie und Wissenschaft. In: Convivium Cosmologicum. H. Hönl z. 70. Geh. Hrsg. v. A. Giannaras. 1973, Schwabe, Basel.

Die Unsterblichkeitsbeweise in Platons »Phaidon«. In: Wirklichkeit und Reflexion. W. Schulz z. 60. Geh. Hrsg. v. H. Fahrenbach. 1973, Neske, Pfullingen.

Hegels Dialektik des Selbstbewußtseins. In: Materialien zu Hegels »Phänomenologie des Geistes«. Hrsg. v. H. F. Fulda u. D. Hen­rich. 1973, Suhrkamp Taschenbücher Wissenschaft, Frankfurt a. M.

Idee und Wirklichkeit in Platos Timaios. 1974, Winter, Heidelberg (Sitzungsberichte d. Heidelberger Akademie d. Wissenschaften).

Vom Anfang bei Heraklit. In: Sein und Geschichtlichkeit. K.-H. Volkmann-Schluck z. 60. Geh. Hrsg. v. I. Schüßler u. W. Janke. 1974, Klostermann, Frankfurt.

Kunst als Spiel, Symbol und Fest. In: Kunst heute. Hrsg. v. A. Paus (Vorlesung der Salzburger Hochschulwochen 1974). 1975, Styria, Graz. I 1911, Reclam, Stuttgart.

Poetica. Ausgewählte Essays. 1977, Insel, Frankfurt a. M.

Quelle: Philosophie in Selbstdarstellung, hrsg. v. Ludwig J. Pongratz, Band 3, Hamburg: Meiner, 1977, S. 60-101.

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