Karl Barths Brief an Martin Rade vom 31. August 1914: „Warum lassen Sie bei dieser ganzen weltlichen, sündigen Notwendigkeit Gott nicht aus dem Spiele? Meinetwegen durch völliges Schweigen, wenn der ‚harten Realitäten‘ wegen das Protestieren nicht angeht; Schweigen mit allen religiösen Beziehungen auf das, was die Deutschen jetzt tun müssen, wäre auch ein Protest. Aber nicht Gott in der Weise in die Sache hineinziehen, als ob die Deutschen mitsamt ihren großen Kanonen sich jetzt als seine Mandatare fühlen dürften, als ob sie in diesem Augenblick mit gutem Gewissen schießen und brennen dürften.“

Nachdem Karl Barth Martin Rades Position zum Beginn des 1. Weltkriegs in der Zeitschrift Die Christliche Welt zur Kenntnis genommen hatte, schrieb er ihm am 31. August 1914 einen persönlichen Brief, den dieser mit einem eigenen Antwortschreiben in der schweizer Zeitschrift »Neue Wege« publizieren ließ:

Brief an Martin Rade

Von Karl Barth

Safenwil, 31. August 1914.

Hochverehrter Herr Professor!

Ich habe es mir lange überlegt, nun muß ich es Ihnen doch sagen, wie sehr mir die letzten drei Nummern der „Christ­lichen Welt“ (32 bis 34) eine Enttäuschung, ein „Aergernis“ sind. Es fällt mir so schwer, Ihnen das zu schreiben und noch viel schwerer muß es Ihnen fallen, mir zuzuhören. Aber ich habe das Gefühl, es ginge innerlich etwas entzwei zwischen Mar­burg und mir, wenn ich jetzt schweigen würde. Und Sie hatten doch immer wie wenige die Fähigkeit, auch ganz andere Gesinnungen und Stimmungen als Ihre eignen und die gerade um Sie herrschenden zu begreifen. Das kann trotz Allem nicht so ganz anders geworden sein. Und ich habe den Mut, Ihnen zu schreiben, weil ich weiß, daß ich nicht der Einzige bin diesseits des Rheins, der so denkt.

Wir verstehen Sie nicht, wir können und wollen Sie nicht verstehen in Ihrer bisher eingenommenen Haltung dem Krieg gegenüber. Bitte werfen Sie mir jetzt nicht gleich dazwischen, daß ich als Schweizer für und über den Krieg nicht reden könne. [430] Sie machen sich die Abwehr unsrer Einwände immer wieder viel zu leicht mit dieser Feststellung (auch Sp. 774!). Ueber alles Politische sage ich kein Wort, ich maße mir kein Urteil darüber an, es dürfte bei der Kompliziertheit der Dinge überhaupt jetzt noch nicht möglich sein, darüber zu urteilen. Aber ich vermisse schon die letztere Einsicht, die doch für Sie so gut gilt wie für uns. Alles was Sie in der „Christlichen Welt“ jetzt sagen, geht von der stillschweigenden oder ausdrücklichen Voraussetzung aus, daß Deutschland Recht hat in diesem Kriege. Ich trete nicht ein auf diese Frage. Die Geschichte wird darüber entscheiden. Aber das verwundert mich, daß die „Christliche Welt“ — eine religiöse, christliche Zeitschrift und von der geistigen Kultur der „Christlichen Welt“ — diese populäre Voraussetzung einfach mit­macht (Volles Vertrauen Sp. 767, Glaube an die gute Sache Sp. 770, Anklage gegen England und Rußland Sp. 782), wo es doch vom Standpunkt des Glaubens wie der Bildung aus, nur Schweigen geben dürfte, weil diese Dinge noch sub judice sind. Und das führt mich nun sofort zu dem Hauptanstoß, den ich, den wir jetzt an der „Christlichen Welt“ nehmen. Sie haben jene Voraussetzung nötig als Grundlage dessen, was Sie (Sp. 788) „fromme Kriegsfertigkeit“ nennen. Und das ist nun noch schlimmer als jene Voraussetzung. Das ist mir das Allertraurigste in dieser traurigen Zeit, zu sehen, wie jetzt in ganz Deutschland Vater­landsliebe, Kriegslust und christliches Glauben in ein hoffnungsloses Durcheinander geraten und wie nun auch die „Christliche Welt“ prinzipiell tut wie ganz Deutschland tut. Das ist die Ent­täuschung für uns, von der ich Ihnen sagen muß: daß wir sehen müssen, wie die „Christliche Welt“ in diesem entscheidenden Augenblick aufhört, christlich zu sein, sondern sich einfach dieser Welt gleichstellt. Das was in diesem Augenblick das vom christ­lichen Standpunkt aus einzig Mögliche wäre, der unbedingte Protest gegen den Krieg überhaupt und gegen all das Menschliche, was ihn herbeigeführt hat, das wollen Sie gerade jetzt (wann hat es einen Sinn, wenn nicht jetzt? möchte ich fragen) nicht hören, sondern Sie wollen das „Rein-Religiöse“ (Sp. 786) in den Vorder­grund stellen, das nach den bisherigen Proben nichts Anderes bedeutet als das Deutsch-Religiöse. Dieser Zusammenbruch vor der „harten Realität“ ists, der uns weh tut, wir hatten von der „Christlichen Welt“ anderes erwartet. Es versteht sich von selbst, daß Deutschland den Krieg, den es nun, mit Recht oder Unrecht, einmal hat, auch führen muß, mit Verteidigung und Angriff, mit 42 cm-Geschützen und Neutralitätsverletzungen, mit Massenfüsilierung und Städtezerstörungen. À la guerre, comme à la guerre. Aber warum lassen Sie bei dieser ganzen weltlichen, sündigen Notwendigkeit Gott nicht aus dem Spiele? Meinetwegen durch völliges Schweigen, wenn der „harten Realitäten“ wegen das Protestieren [431] nicht angeht; Schweigen mit allen religiösen Beziehungen auf das, was die Deutschen jetzt tun müssen, wäre auch ein Protest. Aber nicht Gott in der Weise in die Sache hineinziehen, als ob die Deutschen mitsamt ihren großen Kanonen sich jetzt als seine Man­datare fühlen dürften, als ob sie in diesem Augenblick mit gutem Gewissen schießen und brennen dürften. Das nicht! Und gerade das, das gute Gewissen predigen Sie jetzt, jetzt wo das schlechte Gewissen das christlich allein Mögliche wäre gegenüber der nun einmal vorhandenen weltlichen sündigen Notwendigkeit. Wie soll es mit den Menschen vorwärts gehen, wenn man ihnen jetzt — in diesem furchtbaren Ausbruch menschlicher Schuld — für ihr Tun noch den Trost des guten Gewissens spendet? Gibt es im gegenwärtigen Augenblick, wenn man nicht das Schweigen dem Reden vorziehen will, etwas anderes zu sagen als „Buße“? Ja! sagen Sie, es gibt etwas anderes, und lassen die Engel im Himmel sich über die deutsche Mobilisation freuen, lassen die deutschen Frauen ihr Kriegsgebet mit Trommelschlag beten, lassen Fritz Philippi von einem heiligen Krieg reden (beides übrigens poetisch ganz wundervolle Stücke, religiös um so bedenklicher!), machen selber den Paulus zum Advokaten der Vaterlandsreligion, feiern das Zu­sammenknicken der deutschen Sozialdemokraten am 4. August als etwas „Wundervolles“!! (Sp. 787) und drucken — dies für mich das Gravierendste — die Lutherschrift über den Krieg ab, die mich, ich muß es Ihnen gestehen, in diesem Zusammenhang, angewendet auf diesen Macht- und Rassenkampf, in ihrer Mischung von Naivität und Sophisterei einfach anwidert. „Fromme Kriegsfertigkeit — ist das das Wort, das die „Christliche Welt“ in dieser großen Stunde zu sagen hat? „Gottes Wille aus dem Wirklichen er­kennen“ wollen Sie. Das möchten auch wir. Aber in der Art, wie wir es tun, offenbart sich der ganze ernste religiöse Gegensatz, der zwischen Ihnen Allen und uns besteht und neben dem mir Alles das, was Sie z. B. mit v. Kaftan verhandeln, bedeutungs­los erscheint. Wir sagen: Hominum confusione et Dei providentia mundus regitur, wehren uns gegen die confusio solange es geht, fügen uns ihr in bitterer Beschämung, wenn es nicht mehr geht, und glauben dann, daß Gott[es] providentia trotz uns zustande bringt, was er haben will. Sie gehen religiös von dem neusten Testa­ment aus, daß der Christ heute unter ganz anderen Bedingungen lebe als zur Zeit der Apostel (Sp. 770), folgern daraus ohne Zaudern die Pflicht, sich als Deutsche mit Ehren zu behaupten, und gehen dann ohne weitere Umstände dazu über, „ein festes Herz“ zu bekommen. — Ich will mir das Schlagwort von den „zwei Religionen“ nicht aneignen, aber noch nie ist mir so klar ge­wesen wie jetzt, wie recht Luther hatte, als er unserm Zwingli das Wort vom „andern Geist“ sagte. Das hat nun offenbar so sein sollen, daß dieser Gegensatz einmal zu offenem und unver-[432]söhnlichem Ausdruck gekommen ist. Gerade weil Sie so unmittel­bar und unter starkem Druck geschrieben haben. Ich habe nun nur die eine Angst, die ich schon andeutete, daß Sie diesen Gegen­satz wieder auf einen politischen, schweizerisch-reichsdeutschen, re­duzieren. Sie haben uns das nun schon oft so gemacht und be­harren offenbar dabei, hier, auf der Oberfläche, den Kern des Problemes zu suchen. Ich habe aber die Hoffnung, daß gerade die Wucht der gegenwärtigen Tatsachen dazu dienen wird, auch Ihnen eine andere Orientierung wenigstens näher zu legen, als es bis daher der Fall war.

Karl Barth.

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