Martin Rades Antwortbrief an Karl Barth vom 5. September 1914: „Gewiss, unser Volk hat den Krieg damals schon nicht anders empfunden, denn als ein Unglück. Aber eben als ein so großes ungeheures, dass ihm alles andre Denken und Fühlen verging über dem Einen: Gott. Und Sie verlangen, wir sollten bei dem Erleben dieses Krieges Gott außerm Spiele lassen. Das ist unmöglich. Für eine so überwältigende Sache gibt es nur Einen möglichen Grund und Urheber: Gott.“

Antwortbrief an Karl Barth

Von Martin Rade

Marburg, den 5. September 1914.

Lieber Freund,

Unter den vielen Briefen, die mir die „Christliche Welt“ während des Krieges eingetragen hat, ist der Ihre der einzige, den ich öffentlich beantworten möchte. Einmal wegen seiner prinzipiellen, im guten Sinne des Worts dogmatischen Haltung: ich möchte Sie um Erlaubnis bitten, Ihren Brief mit meiner Antwort in der „Zeitschrift für Theologie und Kirche“ veröffentlichen zu dürfen; dorthin wird auch nach Ihrem Empfinden die Ausein­andersetzung am besten gehören. Aber ich wage es doch, mit einem Vorläufer meiner durchgearbeiteten Antwort auch an die „Neuen Wege“ heranzutreten, weil Sie (zweitens) in Ihrem Briefe des öftern versichern, daß Sie nicht nur persönlich zu mir sprächen, sondern im Sinne einer Schar von „Wir“. Damit können Sie nur die entschiedenen Religiös-Sozialen der Schweiz meinen, und wenn ich zunächst denen mit meiner Antwort dienen möchte, so ist ja das Gewiesene, daß ich um die Gastfreundschaft der „Neuen Wege“ bitte.[1]

Die innere Lage, in welcher der Krieg uns traf, war für die Religiös-Sozialen der Schweiz und für mich eine sehr verwandte. Fühlte ich schon immer mich in meiner Gesinnung Ihrem Kreise sehr nahe stehend, so ging ich eben mit Semesterschluß ernstlich an den ehrenvollen Antrag heran, den ich ihm verdanke. Ich sollte ja auf unserm Internationalen Kongreß in Basel über „Christentum und Frieden“ reden. Zusammen mit einem Engländer und einem Franzosen! Meine kurzen Leitsätze dafür hatte ich längst in eine erste Form gebracht, die ich hierher setzen darf — in allen drei Sprachen, zum symbolischen Ausdruck dessen, was uns bewegte, und weil ich auch für die fremdsprachige Form schon gesorgt hatte —: [433]

1. Weltpolitik, d. i. das wechselsweise Verhalten zwischen den Staaten und Völkern, ist keine unmittelbare Auswirkung religiösen Geistes und entzieht sich daher mehr oder weniger der Einwirkung des Christentums.

2. Das Christentum (als Gesinnung und Kirche) hat seinem Wesen nach den Beruf, rückhaltlos und restlos seine Kraft für eine solche Gestaltung der Weltpolitik einzusetzen, daß zum mindesten den christlichen Völkern Friede, Vertrauen und Bündnis zum selbstverständlichen Zustand wird.

1° La Politique Universelle („Weltpolitik“), qui consiste dans les relations des Etats et des peuples, n’est pas un résultat direct de l’esprit ré-ligieux; dès lors, elle échappe plus ou moins à l’influence du christianisme.

2° En raison de son essence (de sa nature), le christianisme (comme mentalité et comme église), est appelé à mettre en oeuvre sa puissance, sans arrière pensée, pour une telle formation de la „Weltpolitik“, de façon qu’au moins les peuples chrétiens, en arrivent à un état satisfaisant de paix, de confiance et d’union.

1st World politics, that is the relations between states and peoples, is not directly affected by the religious spirit and therefore is withdrawn more or less from the influence of Christianity.

2d Christianity (as a faith and as a church) has by its very nature, the task to exert its influence without reserve for such worldwide political conditions that, at least among Christian peoples, peace, mutual confidence and cooperation may be everywhere taken for granted.

Aus meinem ersten Satze ist deutlich, daß ich keineswegs mit einem Aufhören der Kriege rechnete, aus dem zweiten, daß ich ein den Krieg ausschließendes Verhältnis zwischen den christ­lichen Völkern, unter die ich Rußland kaum rechnete, für möglich hielt und forderte. So traf mich der Ausbruch des Krieges mit Frankreich und mit England schwer. Ich habe meinem Schmerz über diesen „Bankerott der Christenheit“ in No. 38 der „Christlichen Welt“ Worte gegeben.

Auch in No. 32 ff. äußerte ich mich kritisch gegen den kommenden und gekommenen Krieg, viel zu kritisch für empfindliche deutsche Patrioten (vgl. Schian in einem viel nachgedruckten Artikel der „Preußischen Kirchenzeitung“, No. 33) — und kritisch genug für einige Schweizer Freunde, die Ihnen und mir nahe stehen, und die mir ausdrücklich Ihr Verständnis bezeugt haben.

Wenn nun Sie gleichwohl so bedingungslos unzufrieden mit mir sind, so werde ich Ihre Beschwerden gewiß nicht damit er­ledigen wollen, daß ich sage: Sie sind eben Schweizer und ich Deutscher. Diese Wendung ist in der „Christlichen Welt“ gegen­über den Religiös-Sozialen jeweilen vorgekommen, aber wenn ich mich recht erinnere und soweit ich selbst dabei beteiligt bin, nur in Beziehung auf die Sozialdemokratie. Und da hatte jene Ueberlegung doch ihr starkes Recht. Sie hatten — auf Grund Ihrer schweizerischen Staats- und Gesellschaftsverfassung — eine sehr andere Sozialdemokratie als wir. Darüber hätte der Basler Kongreß sicher die lebhafteste Aussprache gebracht, und ich versprach mir davon gute Frucht für uns Deutsche. Inzwischen hat die Weltgeschichte gerade an diesem Punkt die Lage merkwürdig ge­ändert, die Religiös-Sozialen haben im Zusammenbruch der so-[434]zialistischen Internationale den schwersten Stoß erlitten, den Sie von der politischen Seite her erfahren konnten. Es ist das, was wir da vor uns haben, geradezu eine Parallele zu dem, was ich als „Bankerott der Christenheit“ beklage. Wir Deutschen haben an unserer Sozialdemokratie national die glücklichste Enttäuschung erlebt: das Gefühl fürs Große hat im Augenblick des Existenz­kampfes unseres Volkes über alle Prinzipien, über alle Dogmatik gesiegt. Es bedeutet das bei uns in Deutschland mehr, als wenn auch die belgischen und französischen Sozialdemokraten sich für den Krieg erklärt haben, weil unsere Sozialdemokraten wissenschaftlich-marxistisch geschulter, weil sie prinzipieller gewöhnt sind als die französischen und belgischen Genossen.

Nun beginnt in der Beurteilung dieses „Zusammenknickens“ unserer deutschen Sozialdemokratie schon die Differenz in Ihrer und meiner Beurteilung der Vorgänge. Da Sie im übrigen auf die Tatsachen nicht eingehen, brauche ich diesen auch nicht nachzu­gehen. Ich brauche also weder von Löwen noch von Reims, weder von der Neutralität Belgiens noch von dem österreichischen Ultimatum an Serbien, ich brauche von der großen Schuldfrage nicht zu reden. Was die Schuldfrage betrifft, so würde ich auch so lange als der Krieg währt mich auf keine Erörterung dieser Frage mehr einlassen: ich bin froh, daß ich vor dem Fallen des letzten Würfels gesagt habe, was ich sagen mußte, aber seitdem sehe ich zu derlei Aus­einandersetzung für mich keinen Raum. Und wenn Ihre Brüder z. B. in dem mir so wohlwollenden Semeur vaudois ganz wie selbstver­ständlich von l’invasion et l’occupation barbare des Allemands schreiben, als ob Franzosen, Russen und Engländer nur irgendwie kultivierter oder moralischer den Krieg führten — so halten Sie sich ja daber nicht auf, denn Sie wissen: à la guerre, comme à la guerre!

Aber eben weil Sie in all diesen Stücken Welt Welt sein lassen, erwarten Sie von mir ein Gleiches: Ablehnung des Krieges überhaupt, dieses Krieges insbesondere. Und wenn ich — aus äußeren oder inneren Gründen — nicht offen protestieren konnte, dann ziemte mir als Christen ein ebenso deutliches Schweigen. Zum Schweigen habe ich mich nun auch bekannt (No. 34). Aber freilich nicht zu diesem. Alles Schreiben, alles Reden und Schwätzen kam mir in jenem Momente so nichtig vor. Insbesondere das reflektierende Wesen, das sich in der „Christlichen Welt“, das sich unter uns Theologen so breit macht. Geradezu ein Grauen faßte mich an, als ich unter den neuen Lebensbedingungen der Kriegszeit meinen Manuscriptenvorrat durchsah. Unmöglich alles. Vanitatum vanitas!

Das war aber etwas ganz anderes als jener religiöse Abscheu vor dem Kriege, den Sie forderten. Ich hatte durchaus das Gefühl, daß ich, daß die „Christliche Welt“ in dieser Zeit sehr [435] viel zu sagen hätte, sagen müßte. Einiges davon habe ich inzwischen auf meine Weise gesagt, aber ich könnte davon noch viel mehr geben: das Herz ist mir voll, und nur äußere Gründe halten zurück, wenn die Feder nicht ganz anders davon übergeht.

Aber was ich in der „Christlichen Welt“ sage, auch wohl andere sagen lasse, ist Ihnen ein Aergernis. Und hier wird nun die Sache zwischen uns beiden sehr ernst. Werden wir uns verstehen können?

Nicht daß Sie Schweizer sind, erschwert Ihnen das Ver­ständnis. Aber daß Sie neutral sind, daß Sie mit Ihrem Volk und Staat an diesem Kriege keinen Anteil haben.

Das vergönnt Ihnen zwar einen Vorzug. Sie können ruhig abwägen, wo wir dazu gar nicht mehr im Stande sind. Sie können gleichzeitig deutsche und französische Zeitungen lesen und sich mit relativer Sicherheit ein objektives Urteil über allerhand Vorgänge bilden. Aber Eines entgeht Ihnen: das Erlebnis. Wie schon ich das Erlebnis dieses Krieges nicht so habe wie der Soldat, der mit an die Front ging, oder auch mancher andre, der wichtigen Er­eignissen näher war als ich. Eins habe ich doch voraus vor Ihnen: die Erfahrung, wie dieser Krieg über die Seele meines Volkes kam. Ich bin — infolge eines sonderbaren Zusammentreffens — damals persönlich in sehr kritischer Stimmung gewesen gegenüber dieser Volksseele: No. 33, Seite 782 finden Sie Andeutungen davon. Um so schwerer wiegt mein Zeugnis. Unvergeßlich und heute wieder fast unbegreiflich, wie ein friedegewohntes und friedensfrohes Volk plötzlich hingerissen wird in diese unerhörte neue Wirklichkeit: Krieg. Wie erst das ferne Donnergrollen noch kaum vernommen, nicht geglaubt wird. Wie dann eine alle Nerven packende Spannung jedermann ergreift. Wie das Bewußtsein alle bewegt: wir wollen keinen Krieg, aber wenn es sein muß, wollen wir ihn auf uns nehmen. Wie einmütiges Vertrauen zu Kaiser und Kanzler die Gemüter erfüllt und inmitten der immer unerträglicheren Spannung eine große Ruhe gibt: die dort oben machen keinen Krieg, sie werden an Entgegenkommen und Friedfertigkeit das Aeußerste leisten. Aber dazu schon fast die Besorgnis: doch nur das Aeußerste! Es gibt eine Grenze des Nachgebens — und wenn der Krieg einmal kommen soll, dann lieber heute als morgen! Und die Erleichterung dann, als eine Entscheidung da war. Das Wachstum der Ent­schlossenheit, als zum einen Feind der zweite kam und zum zweiten der dritte. Dieses „gute Gewissen“, das in der allgemeinen Friedens­bereitschaft selbstverständlich beschlossen war. Diese Zuversicht zur eigenen Widerstandsfähigkeit. Und nun der Beginn des Wider­standes selbst. Das einhellige Laufen zu den Waffen. Die ruhige, klare, von keinem moralischen Mißton getrübte Mobilisierung. Die Ordnung, die Alkoholfreiheit, die Sicherheit des Betriebes und der Leitung. (Freuen sich die Engel im Himmel denn nicht über alles, [436] was gut ist in der Welt?) Und hinter dieser Erscheinung einer herrlichen Solidität im Großen und Ganzen die tausend und aber­tausend Züge der Hingabe und Opferbereitschaft von all den ein­zelnen, bis — in ungeahntem Maße — in die Reihen der Sozial­demokratie hinein. Mit Ueberschwang vielleicht bei der akademischen Schicht, nüchterner, aber auch um so rührender beim schlichten Volk.

Gewiß, unser Volk hat den Krieg damals schon nicht anders empfunden, denn als ein Unglück. Aber eben als ein so großes ungeheures, daß ihm alles andre Denken und Fühlen verging über dem Einen: Gott.

Und Sie verlangen, wir sollten bei dem Erleben dieses Krieges Gott außerm Spiele lassen. Das ist unmöglich. Für eine so über­wältigende Sache gibt es nur Einen möglichen Grund und Ur­heber: Gott.

In seiner Kriegspredigt sagt Schädelin — und Sie stimmen ihm zu —: „Eines wird nie gelingen, den Krieg aus dem Herzen Gottes herzuleiten.“ Ob wir das fertig bringen, den Krieg aus Gottes Herzen „herzuleiten“, so daß wir das ganz begreifen, das weiß ich nicht. Aber wie wir diesen Krieg erfuhren und erfahren, ist es für uns Gottlosigkeit und Wahnsinn, zu leugnen, daß für den Krieg überhaupt und für diesen Krieg zuletzt jener die Verantwortung übernimmt: Gott!

So hat das deutsche Volk damals empfunden, und so ist ihm, denke ich, gemeinhin gepredigt worden. Nicht von dem „deutschen Gott“ wie Sie es auffassen. Gewiß, so mag auch einmal geredet worden sein: von Dichtern, Zeitungsschreibern, von Offizieren auch und selbst vom Kaiser. Aber Sie dürfen sich da nicht zu sehr an Worte halten. Unsere deutsche Gottesvorstellung ist nicht so kindisch, wie Sie meinen. Wir denken alle, vom Kaiser bis zum schlichtesten Bäuerlein, daß Gott seine Hand im Spiele hat bei diesem Kriegs­geschick: nicht nur daß er es zuläßt, etliches Gute daraus erwachsen läßt, duldet — nein, so einen schwächlichen Gott können wir jetzt gar nicht vorstellen. Vielmehr: Er spricht, so geschiehts, Er gebeut und so stehts da.

Und diesen Gott soll ich Lutheraner gegen unsere reformierten Freunde verteidigen? Ist denn nicht mehr Gott für Sie Actus purus? Und ist Prädestination für Sie so ganz ein leerer Wahn geworden? — Ferner, wir Lutheraner sind jetzt die Schwertträger! Zwingli und der Calvinismus die ewig Friedfertigen? Davon heute kein Wort weiter. Nur Luthers und seines „seligen Krieger­standes“ muß ich noch einen Augenblick gedenken. Naiv, ja, ist Luther der Politiker. Aber fromm und reich immer wieder sein Bestreben, dem schlichten Christen in seinen nötigen Berufsgefchäften den Trost eines guten Gewissens zu geben. Dazu die Ansätze zu einer ethischen Theorie des Untertanengehorsams eben in jener von Ihnen verachteten Schrift für seine Zeit so verächtlich nicht. [437] Aber lassen wir diese Historia heute bei Seite. Ich komme in der „Zeitung für Theologie und Kirche“ darauf zurück. Nur vor­bereiten will ich Sie darauf, daß ich auch Ernst Moritz Arndts „Katechismus für den deutschen Kriegs- und Wehrmann“ dem­nächst in der „Christlichen Welt“ abdrucken werde als die einzig würdige Fortsetzung zu jener Lutherschrift. Was werden Sie dazu sagen?

Nun, Jesus hat doch mit diesem „deutschen“ Gott nichts zu schaffen?

Gemach! Wir sind durch die Religionsgeschichte nachgerade so weit gebracht, daß wir Religion, daß wir Gott auch da finden, wo Jesus Christus uns noch nicht begegnet. Mir als alten Ritschlianer ist das schwerer geworden als Euch Jüngeren; aber vor dem „Wirklichen“ habe ich mich gebeugt. Deshalb bleibt mir Jesus die Offenbarung Gottes, und der Deus revelatus meine Zuflucht vorm Deus abconditus. Ich könnte den Deus abconditus nicht ver­tragen, wenn ich den Deus revelatus, wenn ich Jesus nicht hätte. Aber wenn nun in der Erschütterung eines solchen Kriegserlebnisses, das ein ganzes Volk auf die Knie wirft, Gott noch andere Züge trägt als Jesus, wenn er über uns kommt als die reine Macht, von der wir zunächst nichts spüren als unsere absolute Abhängigkeit — weshalb wollen Sie diese Frömmigkeit schelten? National — das wäre sie doch nur, wenn wir wirklich in jenen naiven Paganismus oder Henotheismus uns verlören, der uns im Ernst völlig fremd ist. Alttestamentlich — nun das wäre noch keine Schande. Einmal erleben wir auch an unsern Juden jetzt eine merkwürdige religiöse Belebung, der unseren gleich zu achten. Sodann: ist nicht das Alte Testament auch Bibel? und sogar der Bibel größerer Teil? Und haben wir nicht alle Ursache, davor stillzustehen, wenn ein Volk wie das deutsche vom Geist der Psalmen und Propheten etwas verspürt? Aber nun gehöre ich doch zu denen, die daran arbeiten, daß die fromme Ergriffenheit in den Hafen des Neuen Testaments einläuft. Baumgarten, der den Religiös-Sozialen bestverdächtige, wie Sie aus seiner Monatsschrift ersehen können, auch.[2] Dennoch: wer wagt da Vorschriften zu machen und nur zu kritisieren, wenn eine Volksseele erzittert, weil sie Gottes Walten spürt!

Da lassen Sie nur dann jeden in seiner Weise an diesem Erfahrnis teilnehmen! Und wenn er Traub heißt, auch in seiner Weise. In solcher Zeit muß mehr noch als sonst ein jeglicher seines Glaubens leben! Aus diesem Sinne heraus habe ich Traub einen „Kriegsprediger von Gottesgnaden“ genannt. Ich könnte nicht sagen und schreiben, was er, aber gerade darum em­pfinde ich sein Auftreten und Zeugen geradezu als eine Wohltat. [438] Es ist doch alles echt an ihm, und ob er mich in manchem erhebt, in manchem abstößt, so macht es mich reicher, wenn ich mit ihm Fühlung habe. Und Vielen in unserm Volk deutet gerade er richtig wie sie diesen Krieg erleben und Gott in ihm.

Die Freiheit aber, mit der ich so einem Manne wie Traub gegenüberstehe, nehme ich für mich in Anspruch. Ich habe mich mit allem Bewußtsein in No. 32 Sp. 746 zum ersten Mal in meinem Leben einen „Pazifisten“ genannt. Damit habe ich mich zu denen ausdrücklich bekannt, die den Willen zum Krieg für Sünde erachten. Als Christ, und wie ich das Christentum ver­stehe, kann ich nicht anders. Aber dafür, daß der Krieg bloß Menschenwerk sein soll, während Gott der Herr eigentlich etwas ganz andres möchte: eine solche Gottesvorstellung mache ich nicht mit. Uebernimmt also mein Gott die Verantwortung für das Kriegs­geschick, so ist es dann auch fromm, aus dem Kriege herauszuholen an Gutem, was man nur kann. Und das tut in seiner Weise Traub meisterlich; man muß nur alles von ihm lesen und ihn als ein Ganzes nehmen, nicht an einem einzelnen Ausdruck oder Satze haften. Wenn man das tut, sind wir Männer der Feder und des Worts doch alle verloren. Traub erlebt einseitig den Krieg. Sie nicht auch?

Daß Sie nun diesen Krieg nicht so miterleben wie wir Reichs­deutschen, dafür können Sie nichts. Es ist ganz recht, daß Sie ihn auf Ihre Weise erleben. Es ist ganz recht, daß Ihnen bange wird um uns, wo wir meinen sichere Wege zu gehen. Es ist ganz recht, daß Sie dann laut Ihre Stimme erheben und uns warnen. Sie Neutralen müssen eben diesen Krieg anders verarbeiten wie wir. Und mit unsern verschiedenen Erfahrungen sollen wir uns dann dienen. Wir leiden alle stellvertretend. Sie für uns, wir für Sie. Und die ratio vicaria ist und bleibt doch schließlich Kern und Stern der christlichen Ethik. So meine ich, daß wir uns auf gemeinsamem Boden immer wieder zusammenfinden werden.

Martin Rade.


[1] Die wir natürlich von Herzen gerne gewähren. Die Red.

[2] Daß die Haltung Baumgartens uns eine sehr erfreuliche Enttäuschung bildet, möchten wir ausdrücklich bestätigen. Die Red.

Hier der Briefwechsel als pdf.

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