Kurt Marti, Nimm und lies: Prediger Salomo (2000): „Kann man sich einen «Prediger» vorstellen, der so zu einer Gemeinde spricht? Der so offen einräumt, keine Antwort und keine Lösung für das Theodizee-Problem zu haben? So redet eher, wie anfangs bemerkt, ein Philosoph, der lange vor Kant erkannt hat, dass das Theodizee-Problem nicht lösbar ist — oder dass die Lösung verborgen bleibt in Gott.“

Nimm und lies: Prediger Salomo

Von Kurt Marti

Weder Prediger noch Salomo

Der so genannte «Prediger Salomo» war weder Prediger noch König Salomo. Zwar gibt er sich als Sohn Davids und König in Jeru­salem aus, doch ist eine derart fingierte Autorschaft ein in der An­tike (und auch noch im Mittelalter) beliebtes Fiktionsmuster. Es gab Aufschluss über historische oder literarische Vorlieben respektive Vorbilder eines Autors. So etwas wie Urheberrecht und Schutz geistigen Eigentums gabs noch nicht. Der sogenannte «Prediger» hat sich jedenfalls keines Etikettenschwindels schuldig gemacht.

Die Bezeichnung «Prediger» verdankt er übrigens dem Bibel­übersetzer Luther, der nun mal ein Faible fürs Predigen und für Prediger hatte. Die hebräische Selbstbezeichnung jedoch lau­tet «Kohelet». Das bedeutet, wie Martin Buber richtig übersetzte, «Versammler». In dieselbe Richtung hatte bereits die lateinische Übersetzung «Ecclesiastes» gewiesen, abgeleitet von «ecclesia» (ursprünglich «Versammlung», später auch «Kirche»). Wen aber hat der «Ver­sammler» um sich versammelt? Schwerlich eine gottesdienstliche Gemeinde. Dafür eigneten sich seine unkon­ventionellen Aussagen nicht. Sie nehmen nie Bezug auf die Got­tesoffenba­rungen und Gotteserfahrungen, die das geschichtliche Gedächtnis Israels bis heute struktu­rieren. Kohelet traut nur dem, was er selber sieht und erfährt. Seine Rede von Gott ist deshalb ziemlich minimalistisch, eine Art Deismus. Nein, als Prediger kann man ihn sich nicht vor­stellen, wohl aber als einen Weisheitsleh­rer, einen Philosophen, der privatim einige Hörer und Schüler um sich versammelt hat. Dafür spricht seine Lebenszeit. Sie fällt in die zweite Hälfte des 3. vorchristlichen Jahrhunderts (also sieben Jahrhunderte nach Salomo!), darin sind sich die Forscher einig. Damals war Palästina schon lange von fremden Grossmächten besetzt, beherrscht und dem kulturellen Einfluss des Hellenismus und des griechischen Denkens ausgesetzt, das auch bei Kohelet Spuren hinterlassen hat.

Die Aufnahme des Büchleins in den Kanon der ersttestamentli- chen Schriften war bereits unter den dafür zuständigen Rabbinern umstritten. Umso erstaunlicher, dass es bis heute je­weils am jüdischen Laubhüttenfest zur Verlesung kommt und so einen festen Platz im heils­geschichtlichen Gedenken bekommen hat, das es selber ignoriert. Christliche Theologen und Kommentatoren der neueren Zeit können — mit einigen Ausnahmen wie Walter Lüthi, Wilhelm Vischer, Kornelis H. Miskotte — Kohelet wenig abgewin­nen, so dass ich fast wetten möchte: Müsste der biblische Kanon heute zusammengestellt werden, bliebe der «Versamm­ler» ver­mutlich draussen. Gerade das aber weckt Neugierde.

Zyklisches Zeitverständnis

Mit den Begriffen «biblisch» und «unbiblisch» wird oft recht pau­schal umgegangen. So liest man häufig, biblisch sei ein lineares, unbiblisch ein zyklisches Zeitverständnis. Kurzerhand zieht man eine Linie von der Schöpfung zur eschatologischen Vollendung der Welt. Als ob es so einfach wäre! Als ob wir nicht auch andere, nämlich zyklische Zeiterfahrungen machten, z. B. in der Natur, auch im eigenen Körper, in dessen Zyklen und Kreisläufen! Als ob nicht inmit­ten der Bibel eben auch das Büchlein des «Versammlers» wäre mit seinem ausgesprochen zyklischen Zeitverständnis: «Was war, wird wieder sein, was geschehen ist, wird wieder ge­schehen: Nichts Neues unter der Sonne!» (1,9). Diese zyklische Zeit­auffassung steht auch hinter der meistzitierten Kohelet-Passage 3,1-3,9: «Alles hat seine Zeit, jedes Geschehen unter dem Himmel hat seine bestimmte Zeit …» Gewiss: Das ist von den Kreisläufen in der Natur her, ist geistesgeschichtlich «griechisch» gedacht, steht dennoch aber in der Bibel und verbietet uns ein nur lineares Zeitverständnis, wie es simplifizierende Biblizisten meinen ver­treten zu müssen — unter Ausklammerung Kohelets natürlich. Im Geheimnis der Zeit verbinden sich zyklische Phänomene mit geschichtlichen, in gewissem Sinn also «linearen» Entwicklungen. Auf alle Fälle lehrt uns der so genannte «Prediger» mit der Ehr­furcht vor Gott auch Respekt vor dem Geheimnis der Zeit.

Schwerlich findet man einen gründlicheren Ein- und Wider­spruch gegen jeglichen und so erst recht gegen den heutigen Wachstums- und Fortschrittsglauben als gerade im Büchlein Kohelet, das dem Wachsen unerbittlich das Verwelken, der Fortschritts­illusion die Desillusionierung gegenüberstellt (z. B. 4,13-4,16). Der Verfasser wird deswegen gerne mit dem Etikett «Skeptiker» oder «Pessimist» abgetan. Sollte er tatsächlich eine Art Schopenhau­er oder E. M. Cioran sein, ist es nur umso bemerkenswerter, dass selbst eine solche Stimme in der Bibel laut werden kann, daran erinnernd, dass das Heil der Welt weder von gesellschaftlichen Entwicklungen noch gar von Fortschritten der Wissenschaft und der Technik zu erhoffen ist.

Kompromisslos diesseitig

Wer den Glauben an Gott gleichsetzt mit dem Glauben an die Un­sterblichkeit der Seele und an ein individuelles Leben nach dem Tod, hat das Erste Testament (immerhin gut zwei Drittel der Bibel) gegen sich. Israel mit seiner ebenso exemplarischen wie leidvollen Gottesleidenschaft glaubte und dachte vollkommen diesseitig und bleibt ein lebendiges Dementi der gängigen Gleichung «Gottes­glaube = Unsterblichkeits- respektive Jenseitsglaube» («Platonis­mus für das Volk», nannte dies Nietzsche). Kohelet hält an der alt­israelischen Diesseitigkeit fest, obgleich zu seiner Zeit dualistische Vorstellungen (Unsterbliche Seele im Gefängnis des sterblichen Körpers) und entsprechende Jenseits-Erwartungen von verschie­denen Seiten her ins Judentum einsickerten. Für ihn bleiben Leib und Seele eine unaufteilbare, deshalb auch sterbliche Einheit. Insofern hat der Mensch dem Tier nichts voraus, beide werden sie wieder zu Staub (3,16-3,21). Anthropozentrischem Überlegen­heitswahn hält der «Versammler» entgegen: «Derselbe Atem ist in allen» (3,19), in Menschen und Tieren. «Atem» bedeutet hier so viel wie «Seele» — Leben spendende, doch eben auch sterbliche Seele.

Indem Kohelet den Gedanken an jenseitige Belohnungen und Kompensationen oder an postmortale Bestrafungen nicht zulässt (vgl. 9,5-9,10), verzichtet er auf einen Platz im «Trostmarkt» (R. M. Rilke), setzt sich vielmehr dem Vorwurf aus, für den Skandal dies­seitiger Ungerechtigkeiten und Leiden keine Lösung anbieten zu können. Und tatsächlich preist er denn auch die Toten und mehr noch die Niegeborenen glücklich, «die das üble Tun nicht sehen müssen, das unter der Sonne getan wird» (4,3). Kann man sich einen «Prediger» vorstellen, der so zu einer Gemeinde spricht? Der so offen einräumt, keine Antwort und keine Lösung für das Theodizee-Problem zu haben? So redet eher, wie anfangs bemerkt, ein Philosoph, der lange vor Kant erkannt hat, dass das Theodizee-Problem (Wie verträgt sich Gottes Gerechtig­keitsmacht mit den Ungerechtigkeiten in der Welt?) nicht lösbar ist — oder dass die Lösung verborgen bleibt in Gott (3,11). Was für Kohelet jedoch nicht heisst, dass sie uns im Jenseits erwartet. Ein positiver Hinweis noch: Wohl nirgends sonst in der Bibel ist die Schicksalsgemein­schaft zwischen Mensch und Tier, die geschöpfliche Solidarge­meinschaft des lebendigen Atems, so klar und kräftig formuliert wie hier, in diesem seltsamen Büchlein.

Vergänglich, vergeblich …

Kohelet philosophiert in der Form von Spruchgedichten. Oft steigern diese sich zu einer grossen melancholischen Klage über die Vergänglichkeit und Vergeblichkeit jeden Tuns (z. B. 1,2-1,11; 2,1-2,12; 4,1-4,6) und auch der eigenen Weisheitserkenntnisse (1,17; 2,15). Der Refrain immer wieder, eine Art Kohelet-Blues: «Alles Hauch und ein Haschen nach Wind» (1,2; 1,14 und öfters). Wie je­doch verträgt sich damit der Lobpreis der Freude und der Lebens­genüsse (2,24; 8,15; 9,7-9,9), die zwar ebenfalls nichtiger Hauch (2,1), aber immerhin das Beste sind unter der Sonne? Es scheint, dass niemand die gelegentlichen Freuden des Daseins so innig, fast verzweifelt innig geniesst wie gerade der Melancholiker. Ande­rerseits ist Kohelet Realist genug, um zu erkennen, dass zum vollen Lebensgenuss zweierlei gehört: Man(n) sollte noch jung (11,1-9) und womöglich begütert sein (10,19: «… für Geld ist alles zu haben.») — wie offenbar der Autor selbst. Nicht die Armen, die Begüterten werden glücklich gepriesen (5,17-5,19). Frivol fast die Aussage: «Im schützenden Schatten der Weisheit lebt es sich wie im schützen­den Schatten des Geldes», denn Weisheit wie Geld erhalten und verlängern das Leben (7,12-7,13). Doch selbst, wer nicht mehr jung und auch nicht begütert ist, wird sich sagen: «Ein lebender Hund ist besser als ein toter Löwe» (9,4), denn Tote haben keinen Anteil mehr an allem (9,6).

Der «Versammler», so die Kommentatoren, gehörte der vor­nehmen, politisch jedoch entmachteten jüdischen Oberschicht an. Unter fremder Herrschaft, aber von ökonomisch gesicherter Warte aus beobachtet (stets wieder: «Ich sah») und philosophiert er, formuliert — nebst dem Vergänglichkeits-Refrain, der das Ganze strukturiert — psychologische Einsichten und kluge Ver­haltensratschläge. Nicht umsonst entdeckte Wilhelm Vischer in ihm einen Geistesverwandten von Montaigne (W. Vischer: Der Prediger Salomo im Spiegel des Michel de Montaigne, 1981). Gele­gentlich denkt man freilich auch an Moliere-Komik, so etwa bei der Warnung vor weiblichen Verführungslisten («Bitterer als der Tod ist das Weib …», 7,27 ff.) oder beim Lamentieren darüber, dass hart erarbeiteter Reichtum verloren (5,12-5,16) oder an Erben gehen könnte, die seiner nicht würdig sind (2,18-2,23). Unsereiner denkt da wohl: Sorgen, ach, haben diese Noblen und Reichen! Umso er­staunenswerter, dass einer von ihnen in der Bibel so ausführlich zu Wort kommen darf! Und siehe, es zeigt sich, dass auch er uns Wich­tiges mitzuteilen hat! Wie die Welt, so ist auch ihr Spiegel, die Bibel, vielfältiger und reicher, komplexer und lebendiger als Schule und Kirchenweisheit sich träumen lassen. Wer hätte z. B. gedacht, dass die gesellschaftskritische Formel von der «Herrschaft des Men­schen über den Menschen» nicht etwa auf Bakunin oder auf Marx, sondern auf Kohelet zurückgeht, der (wiederum!) «sah», dass «der Mensch über den Menschen herrscht, ihm zum Schaden» (8,9)?

Kein Narkotikum

Wie nun? Beweist das Büchlein vielleicht, dass die ersttestamentliche Diesseitigkeit denn doch nicht durchgehalten werden kann, dass sie angesichts des Elends in der Welt und ohne Jenseitshoff­nung in Ratlosigkeit (Aporie), Trauer, Resignation münden muss? Oder stellt uns Kohelet eher die Frage, ob Vertröstungen aufs Jen­seits tatsächlich Gottes Heilswillen entsprechen oder am Ende eine wohlfeile Verlegenheitslösung sind? Eines jedenfalls kann man dem so genannten «Prediger» nicht vorwerfen: Dass er «nar­kotisch» predige (Goethe), dass seine Botschaft «Opium des Vol­kes» sei. Sie ist im Gegenteil — so ein vermutlicher Kohelet-Schüler in einem am Schluss beigefügten «Nachruf» auf den Weisheitsleh­rer — ein Treibstachel, Denkstachel: «Die Worte der Weisen sind Treibstacheln (für Ochsen …) gleich.» (12,11)

Quelle: Reformatio 49 (2000), S. 238-240.

Hier der Text als pdf.

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