Werner Schmauch, Reich Gottes und menschliche Existenz nach der Bergpredigt: „„Ihr seid das Salz des Landes.“ „Ihr seid das Licht der Welt.“ Diese Bestimmung widerstreitet allem natürlichen Selbstverständnis. Denn sie meint ja nicht eine ichbe­zogene Existenz, die sich zugleich auf die Nächsten, die anderen, auf die Welt richtet, sondern sie beseitigt alle Ichbezogenheit, auch die fromme, indem sie diese „Ihr“ ausschließlich in ihrem „Für-sein“, in der Proexistenz bestimmt. Und auch darin wiederum so, daß jede Inanspruchnahme dieses So-seins in der bloßen Reflexion ein böses, wenn auch bei Christen und Kirchen leider nicht seltenes Mißverständnis ist.“

Reich Gottes und menschliche Existenz nach der Bergpredigt[1]

Von Werner Schmauch

Sehe ich das Thema recht, so fragt es nach den Beziehungen, die zwischen dem Reich Gottes, das im Kommen ist, und der Existenz des oder der Menschen gegeben bzw. aufgegeben sind. Es fragt da­mit nach der Wirklichkeit und Wirksamkeit des Reiches Gottes auf Erden, nach dem neuen Menschen und seinem Gehorsam wie nach dem Bestande der alten Welt und ihren Gesetzen, fragt nach dem Verhältnis von Gemeinde und Welt, von Christ und Welt, nicht zuletzt nach seinem Verhältnis zum Staat. Angesichts der Fülle der damit aufgeworfenen Probleme wird es zunächst gut sein, darauf von vornherein aufmerksam zu machen, daß wir die Bergpredigt nicht werden überfordern dürfen; sie kann nur das hergeben, was in und mit ihr gegeben ist. Weiterhin ist zu sehen, daß der Begriff des „Reiches Gottes“ unmittelbar in der Bergpredigt nicht gegeben ist, so gewiß er entscheidend sie bestimmt und so gewiß auch nur ganz wenige Male der Ausdruck „Basileia ton ouranon“ in ihr be­gegnet, und daß der zweite Begriff unseres Themas ihr fremd ist. Wir können darum nicht von den Begriffen selbst her unserem The­ma gerecht werden, wir werden vielmehr versuchen müssen, wesent­liche Anhaltspunkte für das Verständnis der Bergpredigt überhaupt zu gewinnen, immer unter dem Aspekt unserer besonderen Auf­gabe, werden somit das Thema gleichsam umkreisen und werden nach der Gewinnung der festen Punkte einige Konsequenzen ziehen können, die die Probleme unseres Themas beantwortend beleuchten[2].

Handelt es sich für uns um die Bergpredigt, so sei ebenfalls im voraus festgestellt, daß wir damit immer die bei Matthäus 5-7 vor­liegende Redekomposition meinen. Es wird aus Zeitgründen nicht möglich sein, vergleichsweise auch die „Feldrede“ bei Lukas Kap. 6 heranzuziehen; dies wird aber auch nicht nötig sein, wenn es einmal darauf ankommt, eben die „Bergrede“, wie sie bei Matthäus vor­liegt, im eigenen Zusammenhang zu verstehen. Daß wir damit auch die Frage nach der ipsissima vox Jesu zurückstellen, braucht nicht besonders betont zu werden[3]. Nur soviel sei gesagt, daß wir das Zu­trauen zu dem Material, wie es M. Dibelius ausgesprochen hat, teilen[4], wenn auch deutlich ist, daß die Zusammenordnung der Ein­zelsprüche und die Komposition durch den Redaktor neue Aspekte geschaffen haben. Aber auch hierbei ist doch zu beachten, das darf einmal hervorgehoben werden, daß wir im Evangelium eine solche Interpretation der Herrenworte vor uns haben, wie sie durch keine andere zu ersetzen ist, so daß wir gut tun, uns um diese zu bemü­hen, um womöglich in ihre Nähe zu gelangen. Wenn es zunächst den Anschein hat, als bewegten wir uns weit weg von unserem Thema, so kann ich nur um Geduld bitten in der Hoffnung, daß diese Wege sich lohnen. Inwieweit das Referat von der gegenwärtigen Proble­matik bestimmt ist, muß es selbst zeigen. Als exegetisches geht es ihm um die Sache, die der Text bietet.

1.

Wir gehen aus von dem Rahmen Matthäus 4, 25-5,2. „Ochloi“ folgen Jesus nach, aus Galiläa, der Dekapolis, Jerusalem und Judäa (beachte die Reihenfolge!) und jenseits des Jordans, Scharen also, die nicht mehr durch den heiligen Raum des jüdischen Landes und Volkes gekennzeichnet sind. Nicht zufällig dürfte es sein, daß es un­mittelbar vorher nach der Aufzählung der verschiedenartigen Kran­ken in Vers 24 heißt: Und er heilte sie alle. Denn damit ist die bis­her bestehende Trennung zwischen rein und unrein aufgehoben, der heilige Bezirk ist gesprengt, die tritojesajanische Prophetie (61,1) ist erfüllt, wie es später in 11,5 und 6 ausdrücklich bezeugt ist. Der solches tut, ist der eschatologische Freudenbote. Ihm folgen die Scha­ren nach. So aber erwächst aus der Szenerie,, wie sie Matthäus bietet, das Bild der eschatologischen Gemeinde, die sich auf dem Berge um ihren Herrn sammelt, gezeichnet nach dem berühmten Vorbilde: Moses auf dem Berge[5]. Von hier aus aber spannt sich ein weiter Bogen zu jener anderen Szene, mit der allein Matthäus sein Evan­gelium schließt: Jesus mit seinen Jüngern auf dem Berge in Galiläa, der als der Auferstandene und Erhöhte ihnen den Befehl gibt: Und lehret sie halten, was je ich euch befahl. Das heißt aber mit anderen Worten: Diese Szenerie in Matthäus 5 ist keine einmalige oder gar zufällige, sondern von Matthäus als gültige verstanden. Tod und Auferstehung heben das einst und also gerade auch hier Gebotene nicht auf, ja, verwandeln es nicht einmal. Wichtiger aber ist noch dieses: In Matthäus 28 wie in Matthäus 5 bleibt der Begriff der eschatologischen Gemeinde bestimmt durch den des Jüngers[6]. 74mal begegnet dieser Ausdruck bei Matthäus, in 5 treten die Jünger zu ihm heran, in 28 tritt er zu ihnen mit dem Auftrag: Machet zu Jün­gern alle Völker! Ist so aber das Bild der eschatologischen Gemeinde durch den Jünger geprägt und damit von dem bei Paulus unter­schieden, so wird von hier aus schon deutlich, wie durch den Jünger der Meister in die Berg­predigt hineingehört. Denn das Meister/Jün­ger- oder Lehrer/Schülerverhältnis ist schon bei den Rabbinen ein persönlich bindendes, nicht nur bestimmte Kenntnisse und Fähig­keiten übermittelnd und dann also ablösbar, vielmehr ein unum­kehrbar bleibendes[7]. Auch für die, die Völker zu Jüngern machen sollen, gibt es keine anderen Normen ihres Handelns als das: Was je Ich euch befahl. Von dem Gebotenen sprechen, heißt von Meister und Jüngern sprechen, von Meister und Jüngern aber zugleich von dem Gebotenen. Den Meister hinter der Bergpredigt verschwinden lassen, von der Besonderheit dieser Relationen auch nur einen Augenblick absehen, heißt jedenfalls, sie nicht mehr im Sinne des Mat­thäus interpretieren. In der Bergpredigt geht es um die Nachfolge[8].

2.

Tiefer aber führt die Beobachtung, daß das Meister/Jüngerverhältnis ausdrücklich durch das Lehren bestimmt ist (das Hauptverbum in 5,2 und in 28,20 wiederkehrend). Weiß schon das Alte Te­stament darum, daß Lehren Gnade ist, daß Menschen es tun, wenn sie der Hauch des Allmächtigen durchweht (Hiob 32,8), so ist es höchst beachtlich, daß das Tun Jesu bei Matthäus in solchem Um­fange als Lehren charakterisiert ist[9]. Die Bergpredigt ist Lehre, Lehre dieses Meisters, der Menschen und alle Völker zu Jüngern ruft. Ist er aber nicht der Freudenbote, der frohe Botschaft ver­kündet? Wie verhalten sich „keryssein“ und „didaskein“ zueinander, die bei Matthäus dicht nebeneinander stehen? (4,23). Daß beides nicht dasselbe meint, ist rasch deutlich. Das keryssein ist unmittel­bar auf das „Evangelium vom Reich“ bezogen, die Bergpredigt als Lehre spricht kaum ausdrücklich von dem Reich[10].

Die Funktion dieses Lehrens aber läßt sich m. E. am schnellsten erkennen, wenn man in dieser Hinsicht das Tim des Täufers und Jesu miteinander vergleicht. Nach Matthäus ist das Kerygma beider genau dasselbe: Genaht ist die Basileia (3,1 u. 4,17). Ihr Kommen ist allein Gottes Werk. Alle Vorrechte der Abrahamskindschaft fallen dahin, das heilige Volk und sein Kultus sind in Frage gestellt. Gott vermag dem Abraham aus Steinen Kinder zu erwecken[11]. Die geforderte Metanoia auf die Basileia hin aber wird bei Johannes vollzogen durch die Taufe, und dunkel bleibt, gerade auch bei der Mahnung: bringt rechtschaffene Früchte der Buße[12], wie das Leben, die konkrete Existenz nun von der Metanoia betroffen werden. Dar­in aber unterscheidet sich bei Matthäus Jesus von Johannes, daß bei ihm an der Stelle der Taufe sein Lehren steht. Und während Jo­hannes sein: Ich taufe, das ihn über alle Propheten erhebt durch das „mit Wasser“ begrenzt und durch den Hinweis auf den Stär­keren nach ihm einschränkt[13], finden wir bei Jesus das immer neue: Ich aber sage euch, als Kennzeichen seiner Lehre[14]. Das heißt aber: Dieses Lehren entfaltet das Gebot der Metanoia als Hinkehr auf das kommende Reich in konkreten Lebensbezügen, wie wir noch näher sehen werden, und ist dem Künden (keryssein) zu- und untergeordnet als die Weise, in der dieses konkret ergriffen und angenommen werden kann. Weil aber das Keryssein wie das Didaskein, beide eng verbunden und deutlich unterschieden, ihren Grund und Ort in dem Einen haben, der sie trägt und ver­bürgt in eigener Autorität, gibt es – und damit wird früheres in diesem weiteren Zusammen­hang wieder aufgenommen – in der Bergpredigt nicht nur eine christologische Frage (so Dibelius)[15], auch nicht nur eine verborgene Christologie (so Bornkamm)[16], sondern muß die Bergpredigt in dieser Weise christozentrisch, von dem Ver­künder und Lehrer her, verstanden werden[17]. Die über Ochloi und Ethne ausgerufene Frohbotschaft führt als Lehre in die Krisis der Metanoia, wodurch „Ochloi“ und „Ethne“ zur eschatologischen Ge­meinde der „Mathetai“ werden[18]. Damit aber dürfte deutlich gewor­den sein, daß dieses Lehren keine allgemeinen Wahrheiten vermittelt und auch nicht nur den Menschen in einem bestimmten Bezirk seiner Existenz angeht. Vielmehr bedeutet es existen­tielle Inanspruchnahme des ganzen Menschen. Das „Bewahren“ in Matthäus 28 bedeutet daher nicht eine Konservie­rung der Lehre als solcher, sondern verlangt das Tun des je Be­fohlenen. Gehorsam gegenüber der Lehre bzw. gegenüber dem Leh­rer erschöpft sich weder im Lippenbekenntnis noch erst recht in einer Gesinnung. Die Antithesen weisen nicht auf solche Innerlich­keit, sondern umgekehrt darauf, daß auch schon die innerlichsten Regungen des Herzens Taten sind[19]. Das Lehren wie die große Schlußfeststellung 7, 21-23 und das Schlußgleichnis 7, 24-27 zeigen auf das Tun. Jüngerschaft, Bindung an Ihn gibt es deshalb niemals an der Realisierung Seiner Lehre vorbei. Die Annahme der Heilsbotschaft: Das Königreich, der Himmel ist genaht, bindet an Ihn, diese Bindung aber ist wirklich und wirksam im Tun seiner Lehre[20].

Das heißt: Eine Gesinnungsethik[21] verkennt das Wesentliche der Bergpredigt, ebensowenig bietet die Bergrede bloße Ratschläge für Christen höherer Ordnung[22] und ist selbst kein bloßer Sünden­spiegel[23]. Auch eine Interimsethik hat schließlich keinen Grund in ihr[24]. Denn weder ist sie durch die Glut apokalyptischer Naherwar­tung gekennzeichnet[25], noch hat das „bis an der Weltzeit Ende“ (28, 20) einschränkenden Sinn, so gewiß das „Ich bin bei Euch alle Tage“ (= Immanuel) (vgl. 1,23 und 28,20) das Ziel des ganzen Mat­thäus-Evangeliums ist. Es ist im Sinne des Matthäus kaum daran zu deuteln, daß die Lehre der Bergpredigt getan werden soll. Und dieses Tun durch das Problem der Erfüllbarkeit in Frage stellen heißt, aus dem Zusammenhang der Bergpredigt ausbrechen.

3.

Was aber ist zu tun? Gehen wir nunmehr immer unter Berück­sichtigung des bisher Festgestellten dieser Frage nach, so ist zu­nächst schlicht darauf hinzuweisen, daß die Bergrede übrigens wie die Feldrede Lukas 6 mit den Makarismen beginnt. Das ist ein Tatbestand, der von weittragender Bedeutung ist[26], besonders wenn man an der Komposition sieht, wie stark diese Makarismen der ganzen Bergpredigt vor- und übergeordnet sind[27]. Der Lehrer be­ginnt seine Lehre mit dem Segnen, das seinerseits als Erfüllung von Jes. 61,1 die frohe Botschaft konkret zuspricht[28]. Die festgestellte Zusammengehörigkeit von Verkündigung des Reiches und in die Metanoia führender Lehre wird hier weiterhin darin deutlich, daß die Lehre selbst mit dem Zuspruch des Evangeliums als tragendem Grund beginnt. Das Tun dieser Lehre kann dann aber in nichts anderem bestehen als darin, diese Ver­heißung des Lehrers gegen alle weltliche Ordnung und menschlichen Ansprüche, gegen allen Augen­schein sich gefallen zu lassen. Daß auch dieser Zuspruch die Krisis der Metanoia fordert, zeigen alle Bestimmungen, die die Makarismen determinieren. Dabei hält die dritte Person der Maka­rismen die Möglichkeit offen, daß die „Ochloi“ zu Jüngern werden, indem sie sich diese Lehre gefallen lassen. In der Lehre wird die Jüngergemeinde geboren[29]. Wenn so aber der tragende Grund der Bergpredigt Heilsbotschaft in der Form der Lehre ist und das Sich- gefallen-lassen der Botschaft das grundlegende Tun, dann wird die Frage nach der Art der Forderungen nur um so brennender. Wir stehen vor den Antithesen 5,21-48. 5,43-48 seien als das eine große Beispiel, das in der Reihe zugleich Ziel ist, herausgegriffen. Er­innert sei hier zunächst an Tolstois Meinung: Man kann sich ent­halten, dem Feinde zu schaden, lieben kann man ihn nicht[30]. Hier ist in der Tat einzigartig Neues, das über die höchsten Weisungen des an die eigene Gemeinschaft gebundenen Judentums weit hin­ausgeht. Handelt es sich um eine utopische Forderung? Im Sinne der Bergpredigt selbst dürfte diese Frage schon falsch gestellt sein, so gewiß alle Forderungen nicht als isolierte ethische Gebote frei im Raume stehen, sondern das Tun dieser Lehre die gehorsame An­erkennung der Heilsbotschaft des Freudenboten darstellt, so gewiß in ihm die Metanoia auf die Königsherrschaft der Himmel hin sich vollzieht. Darüber hinaus aber wird dieser Zusammenhang noch am Schluß der Antithesen bestätigt durch die Begründung, die der letz­ten und zugleich allen beigegeben ist: „Denn seine Sonne läßt er aufgehen über Böse und Gute und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte“[31]. Solcher Art ist also die Königsherrschaft Gottes: Seine grenzenlose Güte ist an diesen Vorgängen in der Schöpfung abzulesen. Wiederum kommt es darauf an, sich diese Botschaft ge­fallen zu lassen. Das heißt aber: die grenzenlose Güte Got­tes begründet und ermöglicht menschliches Tun, das alle Grenzen beseitigt und mit dem anderen unter allen Umständen als Bruder rechnet. Oder anders gewendet: Die letzte und tiefste Forderung des Evangeliums und die eschatologische Hoffnung des Volkes Israel, Söh­ne eures Vaters im Himmel zu werden, ereignet sich jetzt durch die Offen­barung dieses Vaters in der Überwindung aller Grenzen, im Lieben der Feinde und im Beten für die Verfolger. Es kann sich ereignen, weil Gott sich in seinem Tun als der Vater erweist, der seine Sonne aufgehen läßt über die Bösen und über die Guten und regnen läßt über Gerechte und Ungerechte[32]. Das Gebot der Feindesliebe be­deutet dann aber nicht eine Radikalisierung der Tora und die Antithesen insgesamt bieten kein neues Gesetz, sondern sind aus dem Evangelium fließende Lehre, die auf dessen Annahme zielt. Inder höchsten Forderung geht es darum, Gott Gott sein zu lassen. Damit ist nicht nur alle Werkgerechtigkeit getroffen und aller Heilsegoismus, damit werden alle menschlichen Grenz­ziehungen zwischen gut und böse, zwischen rein und unrein auf­gehoben, und alle Menschen werden Gott als dem Vater unterstellt. Damit aber ist eine grenzenlose Freiheit für den anderen ermöglicht, und diese Verankerung des Gebotes in Gottes eigenem Tun zeigt, daß die Bergpredigt auch in den schwersten Forderungen Evange­lium ist, Angebot der Freiheit für den anderen. Und wie bei den Makarismen ist auch hier letztlich nach der Annahme dieses An­gebotes gefragt, das in der Lehre das Evangelium konkretisiert und realisiert.

In diesem Zusammenhang ist zu beachten, welche entscheidende Rolle die Begriffe Vater und Brüder in der Bergpredigt spielen[33]. Die grenzenlose Güte des Vaters gegenüber seinen Geschöpfen, sei­nen Kindern, macht jeden anderen, auch den Feind, zum Bruder. Bruder ist bei Matthäus und in der Bergpredigt nicht der Ausdruck einer Gemeindezugehörigkeit. Brüder hat man nicht auf Grund Irgendwelcher Vorgegebenheiten oder Vorentscheidungen des ande­ren. Brüder empfängt man in der Anerkennung der Lehre Jesu, daß der Vater seine Sonne aufgehen läßt über die Bösen und über die Guten[34]. In den von Ernst Lohmeyer nachgelassenen Manu­skripten zur Erklärung des Matthäus-Evangeliums steht bei 5,44 der Satz: „Den mir das irdische Leben zum Feind gegeben hat, den hat mir Gott im strengsten Sinne zum .Nächsten‘, zum Freunde meines Daseins gegeben.“ Nur bei Matthäus findet sich der Satz, der die Antithesen abschließt und das hier Ausgeführte zusammenfaßt: „Darum ihr sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater voll­kommen ist“[35]. Diese Vollkommenheit kann wohl in diesem Zu­sammenhang nicht anders verstanden werden als Ganzheit und Grenzenlosigkeit der Güte Gottes. Es dürfte hier nichts Geringeres gemeint sein als dieses, daß Kinder das Wesen des Vaters bewahren und bewähren. Die­se Beziehung auf den Vater schließt nicht nur die Gewißheit ein, daß das übrige dazugegeben wird (6,33), sondern auch die Freiheit zum Unterliegen (5,39).

Fragt man nun noch einmal: Worauf gründet sich diese Lehre?, so bleibt es bei der einen Antwort: Allein auf das: „Ich aber sage euch …“ Daran aber wird nur noch einmal deutlich, wie der Lehrer seine Lehre trägt und damit die Mitte der Bergpredigt ist. Es ist zwar kein Wort darüber zu verlieren, daß die Bergpredigt bei Matthäus anderer Art und Herkunft ist als die Verkündung des Paulus. Dennoch dürften schon die wenigen Hinweise genügen, um zu zeigen, wie nahe der Sachgehalt der Bergpredigt einerseits dem Zentrum paulinischer Verkündigung, nämlich der justificatio impii und andrerseits auch dem johanneischen Wort: „Ich bin der Weg“ (Joh 14,6) ist. Dieses „Ich“ trägt bei Matthäus keine Würdetitel, und insofern besteht das Urteil über die verborgene Christologie der Bergpredigt zurecht, aber dieses „Ich“, das in seiner reinen Autori­tät verborgen und geborgen bleibt, bestimmt bei Matthäus das Ganze der Rede.

4.

Dürfte so deutlich geworden sein, daß die auf das Evangelium bezogene Lehre die Tora total zerbricht, indem nicht mehr das „Es“ des Gebotes, sondern „Er“ als der Keryx des Gottesreiches, der durch Zuspruch und Anspruch die neue Existenz ermöglicht, be­stimmend ist und auch der Raum des Volkes als Geltungsraum der Tora gesprengt wird, so erhebt sich nun die Frage nach der Erhal­tung des Gesetzes umso dringlicher, wovon die Bergrede doch aus­drücklich handelt. Nach Bornkamm[36] redet die Bergpredigt in zwei Fronten: 1. Gegen alles Schwärmertum und 2. Gegen Traditionalis­mus und Konservatismus. Wir betrachten darum die entschei­denden Verse 5,17-20 etwas genauer[37]. Von vornherein ist auf­fallend, daß auch hier nicht von dem die Rede ist, was das Gesetz und die Propheten (auch diese Zusammenordnung ist schon bezeich­nend!) für ihn bedeuten, sondern was er für sie bedeutet. Es geht also nicht um eine Erhaltung, der er sich ohne weiteres einordnet. Deutlicher wird dieser Sachverhalt an dem Begriff des „Erfüllens“. Denn dieses „Erfüllen“ ist zu unterscheiden von einem „Tun“ des Gesetzes, einem bloßen Wandel in ihm. Der Begriff des Erfüllens macht das Gesetz zu etwas im strengen Sinne Vorläufigem und stellt es auf die Seite der Verheißung. Erfüllung ist die eigentliche Wirklichkeit und verhält sich zu der Verheißung wie das Ziel zu dem Weg. Erfüllung ist dort, wo das Gesetz fest begründet und er­halten wird. Erfüllung aber hält es fest, wo sie es interpretiert durch größere Forderungen und Verheißungen. „Sie interpretiert es, wo in Lehre und Beispiel des Meisters jene eschatologische Wirk­lichkeit wächst, die dem eschatologischen Himmelreich gemäß ist“ (Lohmeyer)[38]. Das Gesetz ist vergänglich, so gewiß Himmel und Erde vergehen und andererseits seine Worte nicht vergehen werden[39]. „Bis daß alles geschieht“[40], dieser Satz begrenzt nicht nur die Gül­tigkeit des Gesetzes, sondern zeigt, daß schon jetzt die Erhaltung der Buchstaben und Häkchen unter diesem Vorzeichen der Erfüllung stehen. (Es ist nicht zufällig, daß Jesus selber den Sabbat verletzt und die jüdische Ordnung der Ehescheidung verworfen hat[41].) Diese Bindung und Lösung zugleich ist nicht Ausdruck einer geschichtlich menschlichen Haltung, die als mehr konservativ oder als mehr revo­lutionär zu bezeichnen wäre, sondern Darstellung einer eschatolo­gischen Wirklichkeit.

Das hier Gemeinte wird noch deutlicher bei einer Betrachtung des Verses 19. Ist dieser Vers 19 nur eine Fortsetzung des Verses 18, daß er nun von den kleinsten Geboten sagt, was Vers 18 bereits vom Gesetz dargelegt hat? Es ist speziell die Frage, ob „diese kleinsten Gebote“ dieselben meinen, die vorher durch „Jota“ und „Häkchen“ gekennzeichnet sind oder ob sie neue und andere meinen, nämlich die, die in den Antithesen von Vers 21 an entfaltet sind. Mehrere Gründe sprechen für das Letztere. Warum heißen diese Gebote „kleinste“ Gebote, wenn sie nicht in besonderer Weise dem zuge­ordnet sind, der von den geringsten Brüdern spricht (25,40 und 45), von einem dieser Kleinen (10,42; 18,6, 10,14), und der vielleicht selbst nach Matthäus 11,11 selbst der Kleinste ist. Wie die Jünger als die Kleinen über den Boten des Alten Testamentes stehen, so auch diese kleinen Gebote über denen des Gesetzes. Die Eigentümlich­keit dieser Gebote liegt in ihrer Bezogenheit auf das Kerygma und den Keryx selbst und in ihrer Bedeutung für die Jünger als die Kleinen. Dieser Zusammenhang aber macht diese Gebote zu den „kleinsten“. Ge­rade so vollzieht sich die Erfüllung des Gesetzes, nämlich durch das, was sie sagen, und durch den, der sie sagt.

Ist ein weiterer Hinweis, daß dieser Sachverhalt von dem vorher­gehenden sich abhebt, allein schon damit gegeben, daß nun nicht mehr von dem „Außer Geltung setzen“ bzw. „Erfüllen“ des Ge­setzes die Rede ist, sondern von dem „Auflösen“ im Gegensatz zum „Tun“ eines Gebotes, so führt eine andere Beobachtung noch weiter. Die Nachstellung des Lehrens hinter das Tun bzw. Nichttun erklärt sich nur dann, wenn im Gegensatz zum Judentum hier der eine Meister lehrt und es darum um das Tun oder Nichttun der Jünger geht, das seinerseits dann für die Menschen beispielhaft ein Lehren ist[42].
Das Wichtigste aber ist das hier vorliegende Urteil über das Hal­ten bzw. Nichthalten eines dieser kleinsten Gebote. Zwar wird es je nach dem eine Rangordnung im Himmelreich geben, das Besondere und total Andere gegenüber dem Judentum ist doch dieses, daß auch das Brechen eines Gebotes nicht vom Himmelreich ausschließt, und das Halten eines Gebotes groß macht im Himmelreich. Das Deu­teronomium weiß davon, daß verflucht ist, wer nicht in allen Reden bleibt (27,26) und daß nur das Volk, das alle diese Gesetze und Rechtsprüche tut, das Volk sein wird über alle Völker (26,16). Das heißt doch aber, ein Versagen bringt schon das Unheil, denn das Halten aller Vorschriften ist Bedingung für die Erhaltung der Po­sition des Volkes. Hier aber gilt ein Neues und Anderes. Hier ist mehr als das Gesetz; denn genaht ist das Königreich der Himmel. Mit ihm aber die Erfüllung des Gesetzes! Die Gebote sind klein, sie erläutern das Gesetz, sie gelten den Kleinen, hinter ihnen aber steht der Kleine, der Dienende, der in das Himmelreich führt. Die Wirk­lichkeit des Himmelreiches ist größer als die „kleinen Gebote“. Der Ernst ihrer Forderung wird daran deutlich: Wer eines bricht, wird klein heißen. Ihre unlösliche Verbundenheit mit der unerschöpflichen Gnade aber daran: Wer eines hält, wird groß heißen[43].

Das heißt aber doch: Es geht auch bei der Erhaltung des Gesetzes nicht bloß um eine Bewahrung der altbekannten Gebote, auch nicht um ihre Verschärfung. Die bessere Gerechtigkeit, auf die es jetzt schon ankommt, wird dadurch ermöglicht, daß die Gebote in der Beziehung auf das Himmelreich und den, der es kündet, zu kleinen werden in dem besonderen Sinne dieses Wortes. Oder anders ge­wandt: So gewiß das Tun gelehrt wird, ist dieses Tun Wunder des kommenden Himmelreiches, das nahe herbeigekommen ist. Die Frage nach der Erfüllbar­keit der Gebote ist darum überhaupt nur zu stellen, wo diese fälsch­lich isoliert werden gegenüber dem Geschehen, in das sie hinein­gehören, und wo dann ebenso das Tun als nur menschlich sittliche Leistung mißverstanden wird. Das Tun der Gebote ist die Wirklich­keit und immer neue Verwirklichung des Evangeliums vom Reich, aber eben des Evangeliums und damit einer nur gesetzlichen Be­trachtung entnommen.

5.

Die Frage nach dem Verhältnis von Reich Gottes und Existenz nach der Bergpredigt erfährt endlich noch an 5,13-16 eine beson­dere Erhellung. Denn hier wird ausdrücklich die neue Existenz be­schrieben und zwar so, daß das bisher Beobachtete gewissermaßen zusammengefaßt sich bestätigt. „Ihr seid das Salz des Landes.“ „Ihr seid das Licht der Welt.“ Diese Bestimmung widerstreitet allem natürlichen Selbstverständnis. Denn sie meint ja nicht eine ichbe­zogene Existenz, die sich zugleich auf die Nächsten, die anderen, auf die Welt richtet, sondern sie beseitigt alle Ichbezogenheit, auch die fromme, indem sie diese „Ihr“ ausschließlich in ihrem „Für-sein“, in der Proexistenz bestimmt. Und auch darin wiederum so, daß jede Inanspruchnahme dieses So-seins in der bloßen Reflexion ein böses, wenn auch bei Christen und Kirchen leider nicht seltenes Mißverständnis ist. Nur im Leuchten ist Licht, nur im Salzen Salz seinem Wesen nach wirklich. Das Licht auf dem Leuchter erfüllt seine Bestimmung, indem es brennend sich verzehrt und denen leuchtet, die im Hause sind[44]. Vergeblich sucht man nach Einzel­bestimmungen, was denn im einzelnen zu tun ist, worin das Licht- und Salz-Sein besteht, wichtig allein ist, daß immer nur das eine geschieht, für die Erde, für die Welt, für alle, die im Hause sind, für die Menschen in der Proexistenz. So wie Gott Gott ist für Böse und Gute! Diese Existenz aber erscheint an keinerlei Vorbe­dingungen gebunden, sie wird den „Ihr“ einfach zugesprochen, frei­lich so, daß dieser Zuspruch zugleich den Anspruch auf den ganzen Menschen und sein ganzes Leben bedeutet[45]. Fragt man nach einer Begründung, so gibt es keine andere als die, daß der Eine diesen Zuspruch vollzieht und diesen Anspruch erhebt, und die Ihr sind gefragt, ob sie sich von ihm dieses Urteil als eschatologisches ge­fallen lassen, das in die Metanoia führt.

Fällt nicht aber die Schlußmahnung zurück in den Bereich phari­säischer Frömmigkeit, wenn die Menschen „eure guten Werke“ sehen sollen? Es wird zu beachten sein, daß diese Menschen, denen eure guten Werke gegenüberstehen und die dazu gebracht werden sollen, euren Vater[46] zu preisen, Menschen sein müssen, die ohne Licht in der Finsternis sich befinden. Eure guten Werke, die dieses vollbringen, können dann aber nur solche sein, in denen Gott selber eschatologisch am Werke ist. Licht der Welt und Salz der Erde können die Angeredeten – und damit zeigt sich noch einmal der Zusammenhang von einer anderen Seite – nur sein, weil sie Gott ihren Vater nennen können. Zu ihm gelangen können die Menschen nur durch die Jünger, deren gute Werke sie sehen. Die Jünger aber haben ihre Existenz ausschließlich in ihrem „für die Welt sein“, so vollkommen für die Welt wie der Vater vollkommen ist, der seine Sonne heraufführt über Böse und Gute und regnet über Gerechte und Ungerechte.

6.

Damit aber haben wir den Raum der Bergpredigt in aller Kürze gleichsam einmal abgeschritten. Vom Begriff des Jüngers über das „Lehren“ zum „Tun“ und seiner Begründung und Eigenart, über die Fragen nach Aufhebung und Erhaltung des Gesetzes wiederum zurück zur charakteristischen Bestimmtheit der Jüngerschar.

Aus dieser Betrachtung sind nun im Blick auf unser Thema fol­gende Schlußfolgerungen zu ziehen:

7.

1. Die Bergpredigt ist nicht ethisches Gesetz unter einer höchsten Norm, sondern Botschaft des eschatologischen Freudenboten Jesu von Nazareth.

2. Man kann nicht mit ihr die Welt regieren, aber er regiert mit ihr, indem er durch sie Menschen in seine Nachfolge und damit in die Hinwendung (Metanoia) auf die kommende Gottesherrschaft ruft.

3. Im Gehorsam gegenüber diesem Ruf werden Menschen aus der selbstherrlichen Existenz befreit zur Proexistenz für den Anderen, für Erde und Welt.

4. Diese Existenz ist kein Status, sondern als konkrete Annahme des Evangeliums eschatologisches Ereignis.

5. Auch die Jüngergemeinde existiert nur im Vollzug dieses Gehorsams, in der Proexistenz, in der Überwindung der Welt durch Hingabe an sie.

6. Ungehorsam bei Christen und Nichtchristen ist Zeichen der alten Welt, nicht aber Grund, die Botschaft zu begrenzen oder Lebensbereiche von ihr auszunehmen.

7. Die Botschaft des Herrn der Bergpredigt kennt nicht den Gegensatz von geistlich und weltlich, sondern trifft den Menschen ungeteilt.

8. Die Forderungen der Bergpredigt als konkrete Weisungen des eschatologischen Herrn sind weder abzuschwächen, noch in ihrer Verbindlichkeit anzuzweifeln, noch umzudeuten. Sie sind aber auch nicht ein Kodex, der das Verhalten nach allen Seiten kasuistisch regelt. Sie sind vielmehr Zeichen der eschatologischen Existenz, die unter dem Evangelium vom nahen Gottesreich möglich und wirklich wird.

9. Ihre Erfüllbarkeit ist das eschatologische Wunder und damit der Diskussion entzogen. Alles Versagen schließt nicht von dem Himmelreich aus, sondern weist an den Vater Jesu Christi, der die Schulden vergibt, wie auch wir vergeben unsern Schuldnern.

10. So aber ist die Bergpredigt in Zuspruch und Anspruch nichts anderes als das Evangelium vom kommenden Reich in seiner Konkretisierung auf das menschliche Dasein vor dem Ende der Welt.

Quelle: Werner Schmauch/Ernst Wolf, Königsherrschaft Christi, ThExh NF 64, München: Chr. Kaiser, 1958, S. 5-19.


[1] Es erschien zweckmäßig, das Referat unverändert in der dargebotenen Form wiederzugeben. Trägt somit das Folgende alle Kennzeichen des mündlichen Vortrages, so auch die Spuren des Bemühens, die Nichttheologen unter den Hörern nicht zu überfordern. Daß das Ganze einen Ver-such und Aufruf zu kritischer Weiterarbeit darstellt, ist zu unterstreichen. Dazu werden auch die Anmerkungen beigefügt. Sie wollen teils das Gesagte fester begründen helfen, teils Hinweise zur weiteren Durchdringung der Sache bieten.
Den Ausführungen des Vortrages war das folgende Zitat vorangestellt, dessen sich zu erinnern gerade heute angesichts der Problemlage und der gestellten Aufgabe sich lohnt (M. Dibelius, Die Bergpredigt, Shaffer-Lectures Yale University 1937, jetzt in: Botschaft und Geschichte, Bd. I, 1953, S. 153/154):
„Im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts wurde nicht nur ein neues theoretisches Ideal entwickelt, sondern auch ein neuer Lebens­stil, als Folgeerscheinung der neuen Methoden in Industrie und Han­del. Die Industrialisierung schuf einen neuen Menschentypus. Seinem Ideal entsprach es nicht, den Geboten der Bibel oder der Kirche zu gehorchen oder sich nach philosophischen Doktrinen zu richten. Sein Lebenszweck war es, seinen Unterhalt zu verdienen, ein möglichst hohes Einkommen zu erwerben, seinen Konkurrenten auszuschalten und soviel Erfolg wie möglich zu erlangen. Während der Prozeß der Säkularisierung die Menschen ihrem transzendenten Ideal entfrem­dete, vernichtete der Prozeß der Mechanisierung die Ideale völlig. Diese enormen Umwandlungen bemächtigten sich nur bestimmter Volksklassen innerhalb der zivilisierten Nationen, aber die große Masse gehörte zu diesen Klassen. Wir alle kennen die Folgen dieses Kampfes: Verarmung auf der einen Seite, Kapitalismus auf der an­deren, ungehinderter Klassenkampf, Interessenkonflikte und die apo­kalyptischen Plagen unserer eigenen Ära: Krieg, Revolution und Arbeitslosigkeit!
Das ist das größte Versagen des Christentums in der Moderne, daß die Christen nicht fähig waren, diese Entwicklung aufzuhalten, diesen Prozeß zu hemmen, diese Krisis zu bewältigen.
Der Grund für dieses Versagen ist nach meiner Meinung vor allem darin zu suchen, daß die Kirche immer so nah mit den Mächten die­ser Welt verbunden war, daß sie es nicht wagte, geistige Revolu­tionen zu entfesseln. Die Bergpredigt ist eine Schatzkammer radikaler geistiger Energie, aber irgendeiner, der gewagt haben würde, diese Kräfte auf die Zivilisation oder auf das menschliche Dasein in der modernen Welt anzuwenden, wäre als einer erschienen, der die Welt Umstürzen wollte, und das war es, was das Christentum zögern ließ, es zu tun. Das Christentum war nicht revolutionär, sondern verhält­nismäßig konservativ, einige Kirchen mehr, andere weniger. Im Ganzen genommen wirkten sich die Kirchen Christi mehr als gutes statt als schlechtes Gewissen aus. Sie zogen es vor, die bestehende Ordnung der Welt zu unterstützen, anstatt sie zu kritisieren, die herrschenden Kräfte zu stärken, anstatt sich ihnen zu widersetzen. Die Kirche, einst der Prediger des eschatologischen Evangeliums, war eine ungeheuer konservative Macht in dieser Welt geworden.“

[2] Aus der Fülle der Literatur sei nur auf folgendes hingewiesen: G. Bornkamm, Jesus von Nazareth, 1956; R. Bultmann. Jesus, 1951; M. Dibelius, Die Bergpredigt, in: Botschaft und Geschichte, 1953; G. Dehn, Die Bergpredigt als ethisches Problem, in: Die Zeichen der Zeit, Heft 6, 1950; E. Fuchs, Die vollkommene Gewißheit, zur Auslegung von Matthäus 5,48, in: Ntl, Studien für R. Bultmann, 1954; E. Fuchs, Jesu Selbstzeugnis nach Mat­thäus 5, Ztschr. f. Theologie u. Kirche, 1954; F. Gogarten, Die Verkündigung Jesu Christi, 1948, besonders I; E. Lohmeyer, in: Lohmeyer/ Schmauch, Das Evangelium des Matthäus, Krit.-exeget. Kommentar begr. von H. A. W. Meyer, Sonderband 1956, 21958; W. Manson, Bist Du, der da kommen soll?, 1952; J. Schniewind. Das Evangelium nach Matthäus, in: Das NT Deutsch. 1953; J. Schniewind, Was verstand Jesus unter Umkehr, in: Die Freude der Buße, herausgegeben von E. Kähler, 1957; H. Windisch, Der Sinn der Bergpredigt, 2. Aufl. 1937. – Neuerdings (noch nicht berücksichtigt): E. Fuchs, Glaube und Geschichte im Blick auf die Frage nach dem historischen Jesus, Eine Auseinandersetzung mit G. Bornkamms Buch über „Jesus von Nazareth“, ZThK 1957, Heft 2.

[3] Vgl. Joachim Jeremias, Der gegenwärtige Stand der Debatte um das Problem des historischen Jesus, Wissenschaftl. Zeitschr. der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Jahrgang VI 1956/57, S. 165-170.

[4] M. Dibelius, Die Bergpredigt, Botschaft und Geschichte, S. 107.

[5] 2. Mose 19/20.

[6] Daraus ist nicht zu schließen, daß die Bergrede „Jüngerregel“ im en­geren Sinne ist, als setze sie das Jüngersein voraus. Zu dem Problem, wer angeredet ist, s. u.

[7] Der tiefgreifende Unterschied zu dem Meister/Jüngerverhältnis bei Jesus ist dabei nicht zu übersehen. Vgl. dazu Kittel, TWB IV mathētḗs (Rengstorf) u. G. Bornkamm, Jesus, VI Jüngerschaft.

[8] Vgl. Dietrich Bonhoeffer, Nachfolge; G. Bornkamm, Jesus, S. 135–140. – Zu beachten bleibt, daß der Schluß des Mt.-Ev. keine Grenze setzt zwischen einem engeren und weiteren Jüngerkreis. Ob eine solche Tren¬nung im Sinne des Mt. überhaupt ist? Dazu s. weiter unten.

[9] Vgl E. Fascher, Jesus der Lehrer, ThLZ 1954, 326–342, wenn auch unsere Problematik dort nicht direkt erörtert wird.

[10] Zu didaskein vgl. auch Lohmeyer S. 73.

[11] Mt. 3,9.

[12] Mt. 3.8.

[13] Mt. 3,11.

[14] 14mal in der Bergrede! Vgl. Gogarten, Die Verkündigung 1,10 u. Bornkamm, Jesus, S. 91.

[15] Dibelius, Die Bergpredigt, in Botschaft . . . S. 131.

[16] Bornkamm, Jesus, S. 100.

[17] Vgl. hier E. Fuchs, Jesu Selbstzeugnis nach Matthäus 5, ZThK 1954, S. 14-34.

[18] Damit ist schon ein Hinweis darauf gegeben, wie sich „Ochloi“ und „Mathetai“ zueinander verhalten; dazu s. u.

[19] Vgl. Bornkamm S. 97.

[20] „Die Bergpredigt will Gebote verkünden. Sie stellt Forderungen, die wörtlich verstanden und ausgeführt werden sollen. Polemik gegen die ‚Schwärmer‘ ist weithin Polemik gegen die Bergpredigt und Kritik an Jesus selbst. Man setze diese Polemik und Kritik ruhig fort, aber wisse, was man tut.“ (H. Windisch, Der Sinn der Bergpredigt. 2. Aufl. 1937, S. 147).

[21] Joh. Müller.

[22] Scholastik.

[23] Thurneysen.

[24] A. Schweitzer.

[25] Vgl. Bornkamm, Jesus, S, 203.

[26] Vgl. Manson: „Es ist klar, wie auch die Stellung der Seligpreisungen am Anfang der Bergpredigt verrät, daß die christliche Offenbarung in der Gnade ihren Anfang nimmt und auf der Gnade beruht“ – eine Tatsache, die man bei der Auslegung keines Stückes der Bergpredigt außer acht lassen darf. S. 99 (Sperrung von mir.)

[27] Die folgende Übersicht zur Komposition der Bergpredigt hat mein jetziger Assistent, Herr Manfred Punge, in seiner wissenschaftl. Arbeit zum 1. theologischen Examen vorgelegt und begründet:

4,25-5,2 Szenerie
5,3-12 Grund und Verheißung

5,13-16 Gabe und Aufgabe6,22-23 Erfüllung und Verfehlung
Das neue VolkDer neue Dienst
5,17-20 Neue u. alte Gerechtigkeit6,24 Die zwei Herren
5.21-48 Neue und alte Tora6,25-7,12 Der Dienst des Vaters
6,1-21 Die bessere Gerechtigkeit7,13-27 Wahre u. falsche Knechte

7,28-29 Szenerie

[28] In Wirklichkeit stehen nicht nur die Seligpreisungen, sondern die gesamte Bergpredigt in sehr enger Beziehung zu dem leuchtenden Erlösungsplan. wie wir ihn in Jesaja 61 aufgezeichnet finden. Das ist von den Kritikern und Auslegern bisher, soweit ich weiß, nicht bemerkt worden, und ich nehme darum die Gelegenheit wahr, die Parallelen aufzuzeigen.“ (Manson S. 100, wo der Vergleich folgt.)

[29] Die Jüngergemeinde existiert darum nur im Vollzuge des Gehorsams. Die Jünger haben daher keinen Vorrang vor den Scharen, die die Lehre hören. Die Frage, an wen sich die Botschaft der Bergpredigt richtet. kann darum auch nicht zugunsten der einen oder der anderen entschieden werden. Die Betroffenen sind die Adressaten. Die Bergrede ist nicht nur Jüngerregel im exklusiven Sinne. Vgl. Dibelius, Botschaft und Geschichte, S. 91/92.

[30] Vgl. K. Holl, Gesammelte Aufsätze II, S. 438.

[31] Mt. 5,45.

[32] „Die Vollkommenheit, die hier gemeint ist, steht in einer besonderen Beziehung zur Liebe Gottes zu den Sündern.“ (Manson S. 102).

[33] Vgl, dazu besonders E. Lohmeyer, Das Vater-unser, II. Zu adelphós fehlen bei Kittel, ThWB I Ausführungen über die jeweiligen Besonderheiten dieses Begriffes, etwa bei Mt.

[34] Vgl. dazu das weiter oben Gesagte und Amn. 28.

[35] Mt. 5.48.

[36] Bornkamm, Jesus, S. 92 ff.

[37] Hier folge ich im wesentlichen Lohmeyer, in: Lohmeyer/Schmauch, Das Evangelium des Matthäus z. St.

[38] Lohmeyer S. 108.

[39] Mt. 24,35.

[40] Mt. 5,18.

[41] Mk. 2,23-28; Mk. 10,2-9.

[42] Daran erinnert zu werden, dürfte von weittragender Bedeutung sein in einer Zeit, in der das Wortzeugnis, zumal in üblichen kirchlichen Formen, weithin nicht abgenommen wird. Zieht man von hier aus die Verbindungslinien zu Mt. 5,16 u. 28,20, so wird die Eigenart des didaskein der Jünger vollends deutlich und zwar gerade als Tun der Lehre des Meisters. Zugleich aber wird deutlich, welches Schwergewicht auf dem „Tun“ in der Bergrede liegt. In ihm geht es nicht nur um den eigenen Gehorsam gegenüber der Lehre des Meisters, sondern vielmehr um die Weitergabe seiner Lehre an die Menschen der Welt, denn erst darin bestimmt sich die christliche Existenz (s, u. zu 5,13-16). Lehre gibt es also in diesem Zusammenhang – das ist In der Christenheit weithin übersehen – niemals, ohne daß der Lehrer das zu Lehrende tut, so gewiß im Meister Lehre und Tun eins sind.

[43] Wichtig ist zu sehen, daß damit aller Perfektionismus wie alle Gesetzlichkeit ausgeschlossen sind. Hier hätte das Referat noch besonders auf die Bedeutung des Vater-unser im Rahmen der Bergpredigt eingehen müssen. Alles Verfehlen der kleinen Gebote weist auf die Situation, wie sie durch die Bitten des Vater-unser gekennzeichnet ist. Daß die 5. Bitte nötig und möglich ist, wiederum aber auch nur in dieser Form in Vorder- und Nachsatz möglich ist, ist in der „Anrede“ begründet, so daß der Zusammenhang mit 5,16 und 5,45 unmittelbar hervortritt. – Für die Bestimmung der christlichen Existenz entscheidend ist, daß in Übereinstimmung mit 5,44 und 5,13-16 (zu letzterem s. u.) außer dem Beten selbst ein einziges Handeln, nämlich das Vergeben, im Vaterunser erscheint.

[44] Mt. 5,15.

[45] So aber ist es durch nichts gerechtfertigt, das Salz- und Lichtsein nur auf einen geistlichen Bezirk beschränkt sein zu lassen und es im Sinne etwa einer neulutherischen Zwei-Reiche-Lehre dann dem Land und der Welt in anderen Bereichen, etwa dem politischen, vorzuenthalten. So ist auch Mt. 5,9 keineswegs auf eine nur private Sphäre zu beschränken, vielleicht kommt diese nach dem Sprachgebrauch von „Frieden“ und „Frieden stiften“ erst in zweiter Linie, nämlich innerhalb der einer ganz umfassenden, politischen Bedeutung dieser Begriffe (s. schon z. B. Sach. 9,9–10) in Betracht.

[46] S. nochmals oben Anm. 32 und Anm. 33.

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