Karl Barth, Mein Verhältnis zu Søren Kierkegaard (1963): „Er war uns in jener zweiten Phase der Revolution, in der wir uns befanden, einer von den Hähnen, deren Stimme uns aus der Nähe und aus der Ferne den Anbruch eines nun wirklich neuen Tages anzukündigen schienen.“

Mein Verhältnis zu Søren Kierkegaard[1]

Von Karl Barth

Das erste Buch dieses Mannes, das ich mir – es war im Jahr 1909 – kaufte, war der »Augenblick«. Ich nehme an, daß ich es damals auch gelesen habe. Aber tieferen Eindruck kann es mir, indem ich mich gerade in jenen Jahren erst recht auf die Theologie von Harnack, Herrmann und der »Christlichen Welt« einließ und sehr energisch festlegte, nicht gemacht haben. Indem ich in den folgenden Jahren mit anderem, besonders mit dem Sozialismus be­schäftigt war, hatte Kierkegaard eine gute Weile Ruhe vor mir – und ich vor ihm! Ernstlich und in größerer Breite ist er erst um 1919, in der kritischen Wende zwischen der ersten und der zweiten Auflage meines »Römerbriefs«, in mein Denken eingetreten, um dann auch in meinen literarischen Äuße­rungen in wichtiger Rolle sichtbar zu werden. Verschiedene von uns damals Jüngeren hatten sich freilich schon seit etwa 1916 tastenden Schrittes auf den Weg gemacht, eine Theologie ins Feld zu führen, die darin besser sein möchte als die des 19. Jahrhunderts und der Jahrhundertwende, daß in ihr ganz schlicht Gott in seiner Eigenständigkeit gegenüber dem Menschen, und insbesondere dem religiösen Menschen, zu der Ehre komme, in der wir ihn in der Bibel zu erblicken meinten. Aber die Schärfe und Tragweite dieser Hervorhebung Gottes als des Grundes und Gegenstandes des Glaubens, zu der wir damals zunächst durch Hermann Kutter angeregt waren, ist uns doch erst allmählich zum Bewußtsein gekommen. Auch die erste Auflage meines »Römerbriefs« ließ in dieser Hinsicht noch vieles vermissen. Unter den älteren Autoritäten, durch die wir uns in den Jahren 1919-20 teils in unserer eigenen Beunruhigung bestärkt, teils gebieterisch vorwärts getrieben fanden, figurierte – während uns die Reformatoren des 16. Jahrhunderts noch nicht so recht ansprachen – neben Dostojewski, neben Vater und Sohn Blumhardt, neben dem seltsamen Fremdling Franz Overbeck und neben dem großen Plato – ja, Sie haben recht gehört: Plato! – eben auch Kierkegaard. Was uns bei ihm im besonderen anzog, erfreute und belehrte, war die in ihrem Schneiden und Scheiden so unerbittliche Kritik, mit der wir ihn aller den unendlichen qualitativen Unterschied von Gott und Mensch verwischenden Spekulation – aller ästhetischen Vergeßlichkeit gegenüber dem absoluten Anspruch des Evangeliums und der Notwendigkeit, ihm in eigenster Entscheidung gerecht zu werden – kurz: aller Verharmlosung der biblischen Botschaft, aller zugleich allzu anspruchsvollen und allzu billigen Christlichkeit und Kirchlichkeit der Theologie unserer Umgebung, von der wir uns doch selbst noch nicht so recht frei wußten, zu Leibe gehen sahen. So wurde und war er uns in jener zweiten Phase der Revolution, in der wir uns befanden, einer von den Hähnen, deren Stimme uns aus der Nähe und aus der Ferne den Anbruch eines nun wirklich neuen Tages anzukündigen schienen. Die zweite Auflage meines »Römerbriefs« ist das sehr sprechende Dokument meiner Beteiligung an dem, was man die »Kierkegaard-Renaissance« genannt hat. Es sollten uns und so auch mir freilich noch weitere Tagesanbrüche mit neuen Fragen und Ant­worten bevorstehen. Dennoch meine ich, Kierkegaards Weckruf, wie wir ihn damals hörten, auf meinem ganzen folgenden Weg und bis auf diesen Tag treu geblieben zu sein. Zu Hegel oder gar zu Bischof Mynster gab es von damals her für mich keine Rückkehr.

Es trifft aber schon zu, was seither von verschiedenen Seiten festgestellt worden ist: daß ich mich in meinen späteren Büchern, Schriften und Predigten immer seltener ausdrücklich auf Kierkegaard bezogen habe, und daß sein besonderer Ton bei mir zwar nicht verstummt, wohl aber von anderen übertönt wurde, zu einem mächtigen Unterton neben anderen geworden ist. Auch ich hatte eben gewisse Charakteristika seiner geschichtlichen Erscheinung, indem ich ihm auf jener kämpferischen Linie freudig zustimmte, zunächst über­sehen.

Durfte man auf die Länge fortfahren, die von Kierkegaard so meisterhaft aufgezeigten Gegensätze, Widersprüche, Abgründe wieder und wieder ins Licht zu rücken – die Bedingungen eines Denkens und Lebens im Glauben, in der Liebe, in der Hoffnung immer noch strenger zu formulieren – die in dieser Sache wahrhaftig notwendigen Negationen zum Thema der Theologie zu machen und also noch und noch einmal zu vollziehen – den armen Tröpfen, die Christen werden, sich gar für Christen halten möchten, noch und noch einmal die Bitterkeit der dazu erforderlichen Einübung zu schmecken zu geben? Durfte man das – wenn es dabei nämlich darum gehen sollte, ihnen das Evangelium Gottes und also das Evangelium von seiner freien Gnade zu verkündigen und auszulegen? Merkwürdig, wie leicht man dabei selbst unter die Räder eines nur eben tötenden Gesetzes geriet, sauer, finster und traurig wurde!

Und weiter: Wie war das nun eigentlich mit jenem Einzelnen, um dessen Existenz sich bei Kierkegaard so ziemlich alles zu drehen scheint? Wo bleibt in seiner Lehre das Volk Gottes, die Gemeinde, die Kirche – wo deren dia­konischer und missionarischer Auftrag, wo ihre politische und soziale Auf­gabe? Was bedeutet es, daß Kierkegaard in der Auslegung des Gebotes: »Du sollst Deinen Nächsten lieben wie dich selbst!« mit Augustin und der Scho­lastik (gegen Luther und Calvin!) darin einig war, daß es eine der Nächsten­liebe vorgeordnete Liebe des Menschen zu sich selbst geben müsse? Wie seltsam, daß wir, sie wir doch eben von einer intensiven Beschäftigung mit dem Christentum in seinem Verhältnis zur sozialen Frage herkamen, gerade in diesem Punkt – daß wir gegenüber Kierkegaards so ausgesprochenem Heilsindividualismus – nicht sofort bedenklich wurden!

Dazu ein Drittes: Meldet sich in Kierkegaards theoretischen Grund­legungen nicht doch – sehr im Gegensatz zu dem, worauf wir hinaus wollten – eine neue anthropozentrische Systematik an? Daß eine Existenzphilosophie, daß Heidegger, Jaspers, Sartre – freilich unter Ausklammerung der Tatsache, daß Kierkegaard ein christlicher Denker sein wollte und in seiner Weise gewesen ist – bei ihm anknüpfen konnten, war verständlich und (unter jenem Vorbehalt) legitim. Eine entscheidend auf Kierkegaard ausgerichtete und we­sentlich von ihm lebende Theologie aber konnte doch nur da möglich wer­den, wo man Schleiermacher nicht andächtig genug gelesen hatte, um vor allen Fortsetzungen seines Programms, auch vor einer existenzialistischen endgültig gewarnt zu sein. Wo diese Warnung nicht gehört war, da wurde das Experiment mit einer Subjektivität, die sich als solche für die Wahrheit hält – das Experiment mit einem in sich selbst begründeten und bewegten und also grund- und gegenstandslosen Glauben neu (nun eben in dieser Form) aufgenommen, da ist es unter dem Vorzeichen der Kierkegaardischen Existenzialdialektik in der Mitte unserer Jahrhunderts zu einer regelrechten theologischen Reaktion gekommen. Daß das von ihm aus möglich war, ist ein drittes Bedenken, das uns vor vierzig Jahren zunächst nicht aufgestiegen ist. Zusammengefaßt: Kierkegaard war dem 19. Jahrhundert doch wohl tiefer verpflichtet, als wir es damals wahr haben wollten. Historisch pointierend dürfte vielleicht gefragt werden, ob seine Lehre nicht die höchste, konse­quenteste, durchreflektierteste Vollendung des Pietismus war, der im 18. Jahr­hundert mit dem Rationalismus zusammen das Fundament eben jener am frommen Menschen orientierten Christlichkeit und Kirchlichkeit legte, der er sich dann so leidenschaftlich entgegenwarf und der wir uns vor 40 Jahren unter Anrufung auch seines Namens auf neue entgegen zu werfen unternah­men? Gerade ihr Fundament, das anthropozentrisch-christliche Denken als solches, konnten wir aber von Kierkegaard aus nicht angreifen, weil er selbst es auch nicht angegriffen, vielmehr gewaltig verstärkt hat.

Im Licht dieser späteren Einsichten bin und bleibe ich Kierkegaard nach wie vor dankbar für die mir damals durch ihn widerfahrenen Immunisie­rungen, bin und bleibe ich auch von tiefem Respekt erfüllt von der echten Tragik seines Lebens und vor dem außergewöhnlichen intellek­tualen Glanz seines Werkes. Ich halte ihn für einen Lehrer, durch dessen Schule jeder Theo­loge einmal hindurchgegangen sein muß. Wehe einem Jeden, der sie versäumt haben sollte! Nur daß er nicht in ihr sitzen bleiben und besser nicht in sie zurückkehren würde! Seine Lehre ist, wie er selbst einmal gesagt hat, »ein bißchen Zimmt« zur Speise, nicht aber die Speise selbst, die der Kirche und so den Menschen zu bieten die Aufgabe rechter Theologie ist. Das Evange­lium ist (1) die frohe Botschaft von Gottes Ja zum Menschen. Es ist (2) die Botschaft, die die Gemeinde an die ganze Welt weiter zu geben hat. Es ist (3) die Botschaft aus der Höhe. Das sind die drei Punkte, in denen ich nach meiner Begegnung mit Kierkegaard in der Schule anderer Lehrer weiter zu lernen hatte.

Quelle: Orbis Litterarum 18 (1963), S. 97-100.


[1] Der Artikel ist der letzte Teil einer Ansprache, die Karl Barth in der Aula der Kopenhagener Universität gehalten hat, als ihm am 19. April 1963 der Sonning-Preis verliehen wurde. Wir danken Karl Barth und der Zeitschrift »Evangelische Theologie« für die Erlaubnis zur Wiedergabe der Worte über Kierkegaard (Red.).

Hier der Text als pdf.

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