Rolf Wischnath, Zweimal schreit Jesus am Kreuz. Hörbares in der Matthäuspassion: „Merkwürdigerweise gebraucht Matthäus hier im Griechischen für ’schreien‘ ein anderes Wort als zuvor. Das erste Wort lautet genau übersetzt ‚aufschreien‘. Das zweite lautet ‚krazein‘ und kommt im Deutschen vor in den Worten ‚kreischen‘ und ‚kreißen‘. ‚Kreißen‘ – denken wir an den ‚Kreißsaal‘ – ist das alte Wort für ‚in Geburtswehen liegen‘ und darin vor Schmerz ‚laut schreien / brüllen‘.“

Zweimal schreit Jesus am Kreuz

Hörbares in der Matthäuspassion

Von Rolf Wischnath

Unter dem Kreuz Jesu wurde nach dem Matthäusevangelium nicht – wie in der Matthäus-Passion Johann Sebastian Bachs – ergreifend gesungen. Vielmehr ist zu hören, dass Jesus zweimal gellend schreit – unüberhörbar „mit lautem Ruf“ (Matth. 27, 46 + 50).

Mit dem ersten Hilfeschrei ruft der Gekreuzigte den ersten Vers des Psalms 22: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“. Dieser Gebetschrei ist oft verstanden worden als Ausdruck letzter Verzweiflung, in der der Gekreuzigte auch seinen Glauben verloren hat. Es ist anders:

So wie wir sagen: „Der betet das Vaterunser“ und wissen, dass da Einer nicht nur die erste Zeile, sondern das ganze Vaterunser spricht, so interpretiert Matthäus (wie sehr viele Rabbinen) mit dem Beginn des Psalms 22 im Schrei des Gekreuzigten den ganzen Psalm. Ein Gebetsruf aus tiefster Tiefe:

„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ // „Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch // „Trocken wie eine Tonscherbe ist meine Kehle und die Zunge klebt mir am Gaumen“ // „DU legst mich in den Staub zu den Toten“ // „Doch DU HERR, sei nicht ferne von mir, denn die Not ist nahe, keiner ist da, der hilft“.

Dann jedoch ist der Psalm von Vers 22 an („Du hast mich erhört“) ein Gebet aus höchster Höhe. Ja, der Beter jubelt sogar über Gottes Rettungstat:

„Doch meine Seele, IHM lebt sie“ // „von DIR geht mein Lobgesang aus und erschallt“ // „alle Enden der Erde werden dessen gedenken und umkehren zum HERRN“ // „er hat die Augen vor dem Elenden nicht verschlossen“ // „als er um Hilfe schrie, hat ER ihn erhört“ // „ihn allein werden anbeten alle, die in der Erde schlafen“.

Von daher ist der Tod Jesu tiefste Erniedrigung hin zum Tod und zugleich höchste Erfüllung der Errettung – hin zum Leben. Man kann hier gerade-zu von einer „Auferstehung im Tod“ sprechen.

Nun ist nach Matthäus auf dem Hügel Golgatha ein zweiter Schrei zu hören: ein unartikulierter Schrei, in dem Jesus stirbt: „Aber Jesus schrie (brüllte) abermals laut auf und verschied“. Es ist aber auch da nicht ein Schrei der Verzweiflung in letzter Todesnot:

Denn merkwürdigerweise gebraucht Matthäus hier im Griechischen für „schreien“ ein anderes Wort als zuvor. Das erste Wort lautet genau übersetzt „aufschreien“. Das zweite lautet „krazein“ und kommt im Deutschen vor in den Worten „kreischen“ und „kreißen“. „Kreißen“ – denken wir an den „Kreißsaal“ – ist das alte Wort für „in Geburtswehen liegen“ und darin vor Schmerz „laut schreien / brüllen“. Die Verwendung dieses Wortes für das Sterben des Gekreuzigten bedeutet dann: Er stirbt im Schmerz, im Kreischen. Aber es geschieht etwas Neues. Es ist nur zu vergleichen mit der Geburt eines Menschen:

„Und siehe, der große Vorhang im Tempel zerriss von oben bis unten in zwei Teile.“ Was war zu sehen – hinter dem Vorhang? Dunkelheit. Es ist die Dunkelheit, in die sich Gott im allerheiligsten Teil des Tempels hüllt. Mit ihr ist der EWIGE gnädig, um den Menschen den Anblick seiner Herrlichkeit zu verhüllen, – ein Anblick, der sie töten würde. Nur einmal im Jahr darf der Hohepriester Israels hinter den Vorhang, der das Heilige vom Allerheiligsten trennt, treten, um Israel mit Gott zu versöhnen. Der zerrissene Vorhang jedoch kündigt an, dass nun der allerheiligste Gott selber kommt. ER tritt aus dem Dunklen heraus. ER zeigt sich im Christus zugleich als der Schwache und der Starke, im Leiden und im ganz lebendigen, im ewigen Leben. Als solcher erreicht ER sein „sündiges Volk“. Der „zerrissene Vorhang“ zeigt, dass der Zugang zum Allerheiligsten jetzt für jeden offen steht. ER kommt allen nahe und kommt aus dem Dunklen heraus. „Gott will im Dunkeln wohnen“, dichtet Jochen Klepper, „und hat es doch erhellt“.

Und nun geschieht weiterhin Unfassliches – der jüngste Tag! Nach dem zweiten Schrei heißt es: „Und die Erde erbebte und die Felsen (die Grabsteine) wurden gespalten und die Gräber öffneten sich, und die vielen Leiber der entschlafenen Heiligen wurden auferweckt“ (V. 52). Der sterbende Jesus schreit [– in der Vorstellung jüdischer Theologie –] so gellend, dass die „Heiligen“ erwachen und auferstehen. Dabei sind die „Heiligen“ nicht die besonders Frommen, sondern die Toten und die Lebenden, die zu IHM, zum EWIGEN gehören. Wie viele waren das? Es waren die „Vielen“, die unendlich und unzählig Vielen. Wir, du und ich, gehören auch dazu.

Nach Matthäus geschieht am Nachmittag des Karfreitags Unüberbietbares. Die hier geschilderten „Vorgänge“ entziehen sich völlig unseren gegenständlichen Vorstellungen. Sie sprechen nicht von Tat-Sachen, sondern von theologischen, letztgültigen Erscheinungen und Glaubensüberzeugungen. Sie stehen auch dafür, dass durch das Kreuz Jesu unsere mitgebrachten und oft so festgefahrenen religiösen „Gewissheiten“ in Frage gestellt werden:

Was lässt der Karfreitag im Tod Jesu vorab ahnen und wahrnehmen? Die Nähe Gottes // den Jüngsten Tag // die Totenauferstehung // das Jüngste Gericht // die Vergebung aller Sünden // das ewige Leben. Die Verwirklichung all dessen ist im Tod Jesu schon so gegenwärtig, sagt der Evangelist Matthäus, dass er sie schildert als schon stattgefundene Ereignisse.

Martin Luther: „Und alsbald, da Christus gestorben ist, verändern sich alle Kreaturen.“

Hier der Text als pdf.

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