Heinrich Vogels Karfreitagspredigt über 2. Korinther 5,19-21 (1951): „Die Sünde ist schlechterdings das, was Gott nicht will, ausschließt und verdammt. Das also ist das Geheimnis, er hängt mitten in unserer Sünde, inmitten unserer Schuld, in dem Fluch unserer Zweifel und Lästerungen, unserer Verzweiflungen und unserer Trotzes, unserer gottesfernen Angst und unseres gottver­lassenen Todesglaubens.“

Predigt über 2. Korinther 5,19-21

Von Heinrich Vogel

Was meint ihr dazu, wenn durch Korea heute am Karfreitag 1951 gerade da, wo die Front verläuft, ein Spruchband liefe, das mit ungeheuren, leuchtenden Buchstaben die Inschrift trüge: „Laßt euch versöhnen mit Gott!“ Werdet ihr sofort sagen, das ist eine Illusion, bei der nichts herauskommt, und die keinen Krieg beendet? Oder was meint ihr, wenn an der Stelle, wo der Eiserne Vorhang durch unser Land geht, eben solch ein Spruchband mit der Flammenschrift Gottes sichtbar würde, so daß sie es alle lesen müßten, hüben und drüben: „Laßt euch versöhnen mit Gott!“ Oder haltet ihr das von vornherein für religiöse Schwärmerei, die bloß dazu dienen könnte, die Fronten klarer Entscheidung zu verwischen? Aber was meint ihr, wenn nun mitten in unserer Stadt auf allen Straßen und Plätzen, in der Stadt­bahn und in Kinos das tolle Spruchband, von dem ich rede, so aufflammte, daß wir unsere Blicke, ob wir wollten oder nicht, dorthin richten müßten, weg von allen Propagandaplakaten und Reklameschildern unserer Wirtschaft oder unserer Kultur, hin zu dieser einen unbegreiflichen Bitte: „Laßt euch versöhnen mit Gott!“ Was meint ihr, wenn das Spruchband Gottes mitten durch euer Haus ginge, zwischen Nachbarn, Freunden und Feinden quer hindurch, zwischen Ehegatten, Eltern und Kindern, – ja, und wenn es mitten durch dein Herz ginge mit den glühenden Buchstaben der Liebe Gottes, die dich bittet und beschwört: „Lasset euch versöhnen mit Gott!“? –

Oder können wir damit eigentlich gar nichts anfangen? Müssen wir, wenn wir ehrlich sind, sagen, daß uns die hohen, geheimnis­schweren Worte unseres Textes seltsam fremd, fern, unwirklich anmuten? Wir haben wohl davon gehört, was die Heiden in ihrem religiösen Wahn daran gesetzt haben, ihre Götter zu ver­söhnen, bis dahin, daß sie sich selbst gefoltert und ihre eigenen Kinder geopfert haben, um aus dem feindlichen Gott einen freundlichen Gott zu machen Vielleicht wissen wir auch etwas davon, wie in der Christenheit dieser Wahn um sich gegriffen hat, als ob der Mensch mit seinen Leistungen und Opfern Gott versöhnen könnte! Aber was geht das alles uns an? Versöhnung mit Gott – ist das wirklich unser Problem? Spielt das in deinem und meinem Leben wirklich eine praktische Rolle? Ist es uns nicht so, als müßten wir uns künstlich in den Gedanken hinein­versetzen, daß der Mensch wirklich einer Versöhnung mit Gott bedürfe? Als moderne, religiöse Menschen halten wir es doch wohl für Gottes unwürdig, daß er im Ernst Wert darauf legte, mit den Menschen versöhnt zu werden, und was den Menschen betrifft, so wissen wir ja vielleicht noch aus unserem Konfirmandenunterricht, daß der Mensch weder Gott versöhnen kann, noch ihn zu versöhnen braucht, da wir ja nicht durch unsere Leistungen, Werke und Opfer gerecht werden Versöhnung der Menschen untereinander, ja das leuchtet uns ein, – wenn wir auch praktisch nicht gerade daran glauben, daß der andere in seinem Haß und in seiner Dummheit dazu willig und fähig wäre. Weckt der Gedanke, daß Versöhnung über all den Wahnsinn von Machtsucht, Angst und Grauen die Oberhand bekäme, wirklich unsere Sehnsucht nach Versöhnung mit Gott? – Ja, wie nun, geht uns der Text wirklich nichts an, oder genauer gesagt: kommt er wirklich nicht bis an uns heran und bis in uns hinein?

Eins ist gewiß: während wir in der ganzen Gleichgültigkeit, Taubheit und Blindheit unseres Herzens so fragen und an dem Geheimnis herumrätseln, bittet Gott unaufhörlich. Ob die Stim­me seines Wortes auch nicht laut ist wie unsere markt­schreierischen Lautsprecher, und ob sein Wort auch nicht mit unseren grellen Spruchbändern zu konkurrieren versucht, so ist die Stim­me, die da ruft, lockt, bittet, fleht und beschwört, viel durchdringender als alle Donner und Orkane der Welt. Wir reden ja nicht von einer vergangenen Geschichte, die unter dem Schutt von Jahrtausenden hervorgeholt werden müßte! Was sich da ereignete, wo die Versöhnung zwischen Gott und uns geschah, das ist ganz lebendig und gegenwärtig! Hier und jetzt erreicht das seltsame, unbegreifliche, wundersame Bitten und Rufen unser Ohr „Laßt euch versöhnen mit Gott!“ Während wir noch darüber diskutieren, ob wir das wirklich nötig hätten, und auf welche Weise wir uns das nahebringen und nutzbar machen könnten, hört Gott nicht auf, uns zu bitten, und das gerade ist das Ungeheuerliche, das wohl Steine erweichen könnte, daß Gott – hört ihr, Gott! – uns so bittet und durch sein Wort bitten läßt.

Gott führt uns selbst an den Ort des Geheimnisses, an die Stelle, wo die Versöhnung geschah. Da hängt ein Marsch inmitten der Menschheit, mitten unter uns, – wir haben die Geschichte ja soeben vom Altar vernommen Er hängt mitten in der Brandung des Hasses. Es ist nicht nur dies, daß er angepfählt, angenagelt aus allen Wunden blutet, sich zu Tode blutet, es ist eine Orgie von fanatischem Haß und Hohn, die über ihm zusammenschlägt Es ist auch nicht nur der überlegene Spott von Atheisten, son­dern der religiöse Haß von Menschen, die in allem Ernst meinen, um ihres Gottes willen das an diesem Menschen tun zu müssen, tun zu dürfen. Der Zweck heiligt ihnen ihre Mittel! Was ist eigentlich die Quelle dieses Ausbruchs und Aufruhrs? Wie ist das möglich?! Ist es ein besonderer Abschaum der Menschheit, der dort unter diesem Kreuz versammelt ist? Würden wir mit darunter sein? Oder würden wir zu denen gehören, die zu Hause blieben, aus ihrem Fenster das Schauspiel der Unmenschlichkeit mit ansahen, um sich angewidert und doch wohl feige in einen sicheren Hintergrund zurückzuziehen? Oder würden wir gleichgültig an dem, was da geschah, vorübergehen, so wie eben nur Menschen aneinander vorübergehen können? Dann würde sich die Frage an uns richten, ob diese Gleichgültigkeit nicht fast noch ärger wäre als jener Haß! Oder würden wir ihm das Mitleid schenken, daß wir einer Tragödie gegenüber empfinden vielleicht mit der anklagenden Frage gegen Gott, wie er so etwas zulassen könnte? Aber dann würde ja offenbar in uns selbst auch etwas von der Feindschaft aufbrechen, die um dieses Kreuz und gegen diesen Gekreuzigten anbrandet! Ja, was ist es um diesen Haß, diesen Hohn, diese Gleichgültigkeit, diese Art Mitleid, diese Verblendung und Blindheit, Erbarmungslosigkeit und Unmenschlichkeit? Hören wir derweile über dem allen die bittende Stimme: „Laßt euch versöhnen mit Gott“?! Men­schen, die das an diesem Menschen tun, die so an ihm vorübergehen, sich so in Sicherheit bringen, sich so m der Lüge ihres Mitleids in Sicher­heit bringen, das sind doch, – nicht wahr, liebe Brüder und Schwestern, Menschen, die es wahrhaftig nötig haben, daß ich zwischen Gott und ihnen Versöhnung ereignete, denn sie sind wahrhaftig Feinde Gottes, nicht nur die Atheisten, sondern gerade auch die Frommen, die Kirchenleute, die ihn kreuzigten.

Aber das ist doch nur die eine Seite des Geheimnisses, und wenn wir nur auf das blicken, was die Menschen da an diesem Menschen tun, so möchte es wohl sein, daß wir doch nicht wirk­lich überfuhrt und auch nicht wirklich getröstet werden. Freilich ist das, was wir nun zu hören haben, so unbegreiflich, daß es kein menschlicher Verstand je ergründet hat und ergründen kann. Wenn Gott selbst das Wort von der Versöhnung, die da geschah, nicht in unser Herz bringt, dann würden alle unsere krampf­haften Bemühungen und wahrlich auch unsere Predigtkünste es nicht schaffen. Aber nun steht ja mitten in unserem Text, daß Gott das Wort von der Versöhnung mitten unter uns aufgerichtet hat, und wenn man es ganz wörtlich übersetzt, so lautet es, Gott hat das Wort von der Versöhnung in uns gelegt. So hört denn, was ihr wohl schon gehört habt, und was wir doch jedesmal ganz von neuem hören müssen, weil wir es mit der Kraft unseres Herzens einfach nicht zu behalten vermögen: der Mensch, der da in unserer Mitte gefoltert und verhöhnt als der Feind des Menschengeschlechts hängt, hängt mitten im Geheimnis des Zornes Gottes. Ja, das ist’s: er hängt noch in einer ganz anderen Finsternis, als aller Menschenhaß und seine unmenschlichen Methoden wirken können, er hängt in jener Finsternis, wo Gott sich verbirgt, wo Gott der ferne, der feindliche Gott geworden ist. Er hängt in der Tiefe, allein zwischen Himmel und Erde, und muß jenen Schrei tun, den wir vorhin wieder vernommen haben: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ In unserem Text lesen wir es in Worten, bei denen einem wohl der Atem stocken möchte. Einer der alten Ausleger hat davon gesagt: wer würde so zu reden wagen, wenn die Heilige Schnft damit nicht voranginge, ich meine die Worte: „Gott hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht!“ Das heißt doch, Gott hat den Unschuldigen zu dem Schuldigen gemacht, den einen Gerechten zu dem Hingerichteten, den Heiligen zu dem Verfluchten, den Lebendigen zu dem Gemordeten, den, der Gott nie verlassen hat zu dem Verstoßenen und Verdammten. Hört es wohl: da steht nicht, daß Gott ihn zu einem Sünder gemacht hätte! Gerade das, was wir wohl wünschen und verstehen würden, daß er ebenso einer wäre wie wir, einer von den mit der eigenen Sünde Ringenden, den wir vielleicht als einen Vor­kämpfer und Heros an der Spitze des großen Zuges der Menschheits-Sehnsucht verehrten, – das gerade steht nicht da. Den, der von keiner Sünder wußte, dem die Sünde ganz fremd war und blieb, der sich mit keinem Gedanken von Gott abgewandt hat, und mit keiner Regung gegen Gott aufbegehrt hat, ihn hat Gott zur Sünde gemacht, – und die Sünde, das ist das, was Gott haßt. Die Sünde ist schlechterdings das, was Gott nicht will, ausschließt und verdammt. Das also ist das Geheimnis, er hängt mitten in unserer Sünde, inmitten unserer Schuld, in dem Fluch unserer Zweifel und Lästerungen, unserer Verzweiflungen und unserer Trotzes, unserer gottesfernen Angst und unseres gottver­lassenen Todesglaubens. Und nun, liebe Brüder und Schwestern, hört, was nur der Heilige Geist einem sündigen Menschen hörbar machen kann und will: Gott war in Christo, und da, wo dieser Mensch, der der Sohn Gottes ist, an unserer Stelle so gerichtet, verdammt, verstoßen und verflucht wurde, da ereignete sich die Versöhnung, und da versöhnte Gott selbst die gottfeindliche Welt, uns Menschen, die wir dem Zorn Gottes verfallen sind, mit sich selbst.

Ja, es ist schon so: die einen meinen, daß sie es nicht nötig hätten und glauben wohl gar es wäre vielleicht religiöser, die ganze Rede von Gottes Zorn auf den Schutthaufen der Religions­geschichte zu werfen, um so von Gott eine, wie sie wähnen, höhere Vorstellung zu haben. Die anderen meinen: sie könnten selbst die Brücke schlagen. Sie könnten Leitern bauen, die über den Abgrund hinweg reichen, sie könnten, wenn nicht durch ihre Taten, so doch durch ihre Leiden, wenn nicht durch ihre Opfer, so doch durch ihre Gesinnung und die letzte Sehnsucht ihres 180 Herzens die verlorene Gemeinschaft mit Gott gewinnen. Ach, daß wir das Wunder der Liebe Gottes begriffen, dem Wunder seines überströmenden Erbarmens stille hielten! Durch alle relig­iösen Krämpfe unseres Herzens, durch alle Übersteigerungen unserer Sehnsucht werden wir uns nur immer tiefer in die Gottesferne hineinarbeiten Was auf den Menschen wartet, der auf seinen eigenen Wegen zu Gott vorzustoßen sucht, ist zuletzt doch eine schreckliche Verlassenheit und Finsternis. Laßt uns stille halten, wo Gott selbst auf seinem Weg zu uns gelangt ist, und er mitten in unserer Finsternis uns aufsucht Gott ist selbst in den Riß getreten und in die Bresche gesprungen. Gott war in

Christus, und die Brücke, die Gott schlug, ist nicht nach Menschenweise gebaut, sondern so, daß Gott selbst, der Mensch gewordene, leibhaftige Gott, die Brücke ist, die den ganzen Riß bis auf die Sohle des Abgrundes ausfüllt. Wo Sünde, Tod und Hölle thronten, da ist nun nur noch Versöhnung, nur noch Gottes Friede.

Es kommt gar nicht darauf an, daß wir das begreifen Begreifen werden wir es erst an jenem Tag, wo wir Gott von Angesicht zu Angesicht schauen! Jetzt dürfen wir uns ergreifen lassen Der Arm Gottes aber, der nach uns greift, ist sein Wort, eben dies Wort vom Kreuz, das das Wort von der Versöhnung ist. So wahr Gott diesen für uns Gekreuzigten auferweckt hat, so wahr Gott diesen für uns Geachteten und Verdammten zu dem Richter eingesetzt hat, der unser Retter ist, ergeht die Bitte Gottes hier und heute und an jeden einzelnen: Laßt es wahr sein! Laß es für dich wahr und geschehen sein, daß Gott selbst den Frieden gestiftet hat, der wirklich höher ist als alle Vernunft, höher als alle Macht der Finsternis und auch als die Gewalt des Zornes Gottes. Wollen wir uns daran stoßen, daß die Stimme Gottes so menschlich unter uns laut wird? Wollen wir darauf warten, daß er uns einen Engel vom Himmel schickt, als ob wir die himmlische Sprache besser verstehen würden denn die menschliche? So wahr Gott in dem Mensch-gewordenen Gottes­sohn die Versöhnung gestiftet hat, so wahr hat er das Wort von der Versöhnung menschlichen Lippen anvertraut, daß wir es als das brüderliche, verständliche Wort zu hören und einer dem anderen weiterzusagen vermögen.

Wo das geschieht, wird alles neu. Das, was wir Menschen sonst neu nennen, und was wir unter einer Erneuerung wirtschaftlich oder kulturell oder politisch verstehen, ist doch alt, todesalt gegenüber dem Neuen, dem einen Neuen, was da für uns anbricht, wo wir miteinander wissen dürfen: wir sind nicht mehr Gottes Feinde, sondern Gottes Kinder. Gott selbst ist unser Freund und Vater. Der furchtbare Riß geht wahrhaftig durch die ganze Welt mitten durch uns selbst hindurch. Das Eine, was uns nottut, ist wirklich das Wort von der Versöhnung. Wo es gehört wird, da ist, wie der Apostel kurz vor den Worten unseres Textes es sagt, der Mensch eine neue Schöpfung Gottes in Christus. Da dürfen wir aus der Vergebung leben, in der Gott das ganze Schuldbuch unseres Lebens mit einem einzigen Wort durch­streicht, uns freispricht und uns mit der Gerechtigkeit bekleidet, ja, mitten in die Gerechtigkeit hineinversetzt, die vor ihm gilt. Nicht wahr, zuletzt wird es ja doch nicht darauf ankommen, was vor unseren eigenen Augen oder denen der Menschen, was nach den Maßstäben unserer Moral und unserer Religiosität gilt, sondern was vor Gott besteht. Vor Gott aber besteht nur, was Gott selber schafft und schenkt. Wir dürfen uns auf das verlassen, was Gott uns in dem für uns Gekreuzigten und Auferstandenen schafft und schenkt, der Gott, der die Welt sich selbst versöhnte in Christo.

Wo wir aus der Versöhnung leben, ja, liebe Brüder und Schwestern, das laßt mich nun doch als das Letzte noch sagen, da dürfen wir uns untereinander versöhnen und so die Ver­söhnung Gottes preisen. Sie rufen heute alle: „Friede, Friede“ und ist doch kein Friede. Laßt uns statt des Wortes „Friede“ für längere Zeit nur noch das Wort Versöhnung gebrauchen, damit die Wahrheit durchbricht und vielleicht hier und da auch zwischen uns Menschen Friede wird, nachdem und weil Gott mit uns Frieden gemacht hat. Ob wir den Frieden ernstlich und wahrhaftig wollen, das wird sich daran entscheiden, ob wir die Versöhnung wollen. Die Versöhnung aber mit den Menschen werden wir dann wollen und von Herzen suchen, warn wir aus der Versöhnung Gottes leben und das Wort von der Versöhnung mitten unter uns und in uns aufgerichtet sein lassen. So hört es denn nicht als eine menschliche Bitte, sondern als Gottes Ruf, als die Bitte, in der der Gekreuzigte selbst seine Arme zu euch breitet und euch lockt: „Laßt euch versöhnen mit Gott!“ Amen.

Gehalten an Karfreitag 1951.

Quelle: Heinrich Vogel, Gott ist größer. Predigten, Berlin: Lettner, 1952, S. 103-109.

Hier die Predigt als pdf.

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