Fridolin Stiers Übersetzung und Auslegung von Psalm 73: Was ist das für ein Gott, der selbst allem ihm angeglaubten zuwiderhandelt, den Glauben selbst seiner getreuesten Knechte ad absurdum führt? … Er versucht, das Unbegreifliche denkend zu klären (V 16), den Gott, den er glaubt, mit dem, den er wirkend „sieht“ rational zu harmonisieren.“

Einer, der an Gott leidet (Psalm 73)

1          Ein Psalm Asafs.
Gewiß, gut ist Gott zu Israel,
zu denen, die lauteren Herzens!
2          Ich aber: Fast bogen ab meine Füße,
schier traten meine Schritte ins Leere.
3          Denn neidisch war ich auf die Prahler,
da ich das Heil der Frevler sah.
4          Denn für die gibt’s keine Qualen,
gesund und feist ist ihr Wanst.
5          In Menschenmühsal sind sie nicht,
des Menschen Plage trifft sie nicht.
6          Darum schmückt Hoffart ihren Hals,
hüllt sie Gewalt wie eine Tracht,
7          tritt aus Fett ihr Bück hervor
ziehn drüber hin des Herzens Eingebilde,
8          reden sie von unten voll Bosheit,
reden sie Verkehrtes von oben,
9          setzen an den Himmel ihr Maul,
ergeht sich ihre Zunge auf Erden.
10        Drum kehrt mein Volk sich ihnen zu,
schlürfen sie Wasser in Fülle
11        und sprechen: Wie wüßte es Gott?
Gibt es ein Wissen beim Höchsten?
12        Ja, die da: Frevler sind sie,
doch in Frieden all die Zeit, zu Macht gelangt!

13        Gewiß, umsonst hielt ich lauter mein Herz
und wusch meine Hände in Unschuld!
14        Und war doch geplagt den ganzen Tag,
gezüchtigt Morgen um Morgen.
15        Hätt ich gesagt: Auf, ich erzähl, wie das ist!
Verraten hätt ich deiner Söhne Geschlecht.

16        Da ich gedachte, dies zu erkennen –
Qual war es in meinen Augen,
17        bis ich in Gottes Heiligtümer kam,
ich auf ihr Letztes merkte:
18        Nur auf Schlüpfriges stellst du sie,
läßt sie in Täuschungen fallen.
19        Wie werden im Nu sie zu Schauder,
sind hin, sind fertig vor Schrecken!
20        Wie einen Traum nach dem Aufwachen, mein Herr
wenn du dich rührst, verwirfst du ihr Bild.

21        Da es sauer im Herzen mir war,
es in die Nieren mich schnitt
22        war dumm ich und wußte nichts,
ein Vieh war ich bei dir!

23        Und bin doch stets bei dir,
du hältst meine Rechte gefaßt,
24        in deinem Rate lenkst du mich,
nimmst mich zuletzt in Herrlichkeit dahin.

25        Wen habe ich in den Himmeln?
Bei dir doch – verlangt mir nach der Erde nicht.
26        Schwindet hin mein Fleisch und Herz
mein Fels und Teil ist Gott – in die Zeit der Zeiten.
27        Denn so ist’s: Die fern von dir, gehen zugrunde,
stumm machst du jeden, der mit dir bricht.
28        Ich aber: Gott nahen ist mir das Glück!
In meinen Herrn, Jahwe, setze ich meine Bergung,
um zu erzählen all deine Waltungen.

Nur der homo religiosus leidet an Gott. Der säkulare Mensch leidet nicht an ihm. Unser Psalmist nimmt Anstoß am „Heil der Gottesverächter“. Es erregt ihn, als er sieht, daß Gott gut auch zu denen ist, die ihn verachten (V 3). Gesund und reich, satt und sorglos – so leben diese Leute … Er beobachtet sie scharf: In ihrer Hoffahrt und Gewalttätigkeit, mit denen sie Staat machen wie mit Halsschmuck und Kleid, sieht er die Fülle ihres Wohlstandes (V 6 „darum“). Er sieht, wie sich in ihren fettgepolsterten Augen ihr Inneres, Wunschträume ungeregelter Triebe spiegelt. Und er hört ihre Gott- und Menschen verachtenden Reden (V 8) …

Das Glück der Gottverächter ist für den Psalmisten Ärgernis genug, noch anstößiger ist, daß er, der die Lauterkeit seines Herzens, seine Unschuld vor Gott beschwören kann, – ein (vielleicht von schwerer Krankheit) geschlagener Mann ist. Warum? Ein Gezüchtigter – wofür? (V 13).

Was ist das für ein Gott, der selbst allem ihm angeglaubten zuwiderhandelt, den Glauben selbst seiner getreuesten Knechte ad absurdum führt? … Er versucht, das Unbegreifliche denkend zu klären (V 16), den Gott, den er glaubt, mit dem, den er wirkend „sieht“ rational zu harmonisieren. Vielleicht hätte er seine Lage als Bewährungs- und Prüfungsleiden, das Glück der anderen nur als Zeichen der Langmut Gottes verstehen können … oder vielleicht auf Augustins Gedanken kommen können, daß Gott auch auf krummen Linien gerade schreibt: Aber was er sah, war nun einmal Gottes krumme Schrift auf geraden Linien.

Quelle: Fridolin Stier, Mit Psalmen beten, hrsg. von Eleonore Beck, Stuttgart: Verlag Katholisches Bibelwerk, 2001, S. 28f.

Hier der Text als pdf.

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