Von Rudolf Bohren
I. Kirche — Auslaufmodell oder Hoffnungsträger?
In meinem langen Predigerleben habe ich in sieben Gemeinden regelmäßig Dienst getan (Bern, Solothurn, Aargau, Baselland, Rheinland, Berlin, Baden). Je älter ich werde, um so deutlicher wächst in mir die Erkenntnis: Wir stehen mit unserem Kirchenwesen im Gericht; da gibt es nichts anderes, als sich an das Wort halten und auf ein neues Kommen des Geistes hoffen.
Eine Zeit der Dürre wird dürftig. Die Zugänge zum Glauben bleiben für viele blockiert. Sehe ich recht, bilden hierzulande Arbeitslosigkeit und Alkoholismus Blockaden der Zugänge zum Glauben. Beides sind Symptome der Hoffnungslosigkeit, mit Erwachsenen zu bedenken und zu besprechen. Christen, die an den Unglauben ihrer Zeitgenossen glauben, geben nicht Gott, sondern dem Unglauben die Ehre.
Dürftige Zeit: Unser Gott bleibt auch gerade im Gericht, also auch vis-à-vis des Unglaubens, der „Gott der Hoffnung“ (Röm 15,13). Ich nehme es als Zeichen der Vorbedeutung, wenn Bischof Abromeit schreibt: „Die evangelische Kirche setzt das Glaubensthema und den missionarischen Auftrag an die erste Stelle“[1]. Indem Sie in einer Zeit der Dürre den Gott der Hoffnung predigen, können Sie nicht hoch genug von Ihrer Sendung und sich selber denken. Sie sind Wegbereiter einer besseren Zukunft: Von da her möchte ich sagen: Die Zukunft der Kirche hängt an Ihnen, genauer: Jede und jeder von Ihnen ist ein VIP, eine „very important person“, und ich habe eine weite Reise gemacht, um Ihnen das zu sagen: Sie sind ein Zugang zum Glauben und darum VIP. Ich glaube, was ich sage, und bitte Sie, es mit mir zu glauben. Ich bezwecke mit meinem Referat nichts als dies eine, dass Sie mir das glauben.
Wenn die Statistiker weissagen und Ihre Kirche zum Aussterben verurteilen, müssen Sie sich für das Predigen besser vorbereiten und früher damit anfangen. Verstehen Sie das nicht vordergründig: Entdecken wir uns als im Gericht des Kommenden stehend, dürfen wir uns nicht mit Korrekturen begnügen. Ein bisschen besser machen nützt da nichts. Im Gericht gibt es nur eine Rettung: Umkehr zu den Wurzeln, zu deutsch: „radikal“. Die Theologie muss zur Gemeinde umkehren, und die Prediger müssen zur Theologie umkehren. Das ist ein Muss höherer Ordnung. Wo ich Predigern und Predigerinnen begegne, die Frucht bringen, ist dies auch ein Resultat fleißigen Studiums und geistlicher Übung.
Früher mit der Predigtvorbereitung anfangen, meint etwas Spirituelles, etwas, das wir nur im Miteinander erfahren, aussprechbar auch nur in der Sprache der Himmelfahrt.[2]
Im Aargau hatte ich einen Kollegen, der sich an Himmelfahrt vertreten ließ; er könne mit Himmelfahrt nichts anfangen. Da gilt es zu lernen, dass sie längst mit uns etwas angefangen hat. Vielleicht lernen wir die Fremdsprache der Himmelfahrt am besten, wenn wir auf das Johannesevangelium hören: „Und, wenn ich von der Erde erhöht bin, werde ich alle zu mir ziehen“ (Joh 12,32). Damit hat die Predigtvorbereitung mit uns schon angefangen. Zu diesem Anfang müssen wir in langem Marsch umkehren.
Entsinne ich mich recht, ist Ps 110 der meistzitierte alttestamentliche Text im Neuen Testament.[3] Früher mit der Predigtvorbereitung anfangen, heißt dann, die ausgefahrenen Bahnen unseres theologischen Denkens zu verlassen und anfänglich werden. Da geht es um viel mehr als um die Predigt an einem besonderen Sonntag, da geht es um das Ganze.
In seiner mir unvergesslichen Himmelfahrtspredigt begann Helmut Gollwitzer: „Uns auch, uns auch, liebe Gemeinde, wir gehören auch dazu, auch uns will er zu sich ziehen. Auch heute und hier ist er am Werk dieses Ziehens, auch in diesem Gottesdienst.“[4] Nach fünfzig Jahren füge ich hinzu: „Auch nach diesem Gottesdienst“ ist er am Werk. Sein Ziehen ist ja nicht ein Mythos, sondern unsere Geschichte, in die wir verwickelt sind. Sein Ziehen – auch durch Dürre und Gericht hindurch – ist unsere Zeit.
Bischof Abromeit sagt in seinem Bericht: „Es geling uns bisher nicht, den christlichen Glauben attraktiv und einladend darzustellen.“[5] Solange wir uns gegen sein Ziehen sperren, an unserem traditionellen Wertsystem festhalten und an unseren Stühlen kleben, wird es nicht gelingen, den Glauben attraktiv darzustellen. Wir sind – attraktiv oder nicht – immer Darsteller des Glaubens.
Helmut Gollwitzer schloss seine Predigt: „… wir gehen dem Tag entgegen, wo es an den Tag kommen wird, wie mächtig sein Ziehen jetzt schon ist und wie es alle meint. Wir aber stehen im Dienste seines Ziehens, und das ist der beste Dienst, den es gibt“[6]. Im Dienste seines Ziehens sind wir nicht nur mit unseren Kräften und Charismen, sondern auch mit unseren Schwächen und unserer Schuld beteiligt. – Ich denke jetzt an Heinrich Kemner, zu dessen 100. Geburtstag eine kleine Schrift herauskam, „… nicht vergeblich … “[7]. Kemner hat als Emeritus mehr als zwanzig Häuser gebaut. Ich nenne die Arbeitsbereiche für Gemeindedienste und Evangelisation, die Reha-Zentren für Behinderte und Drogenabhängige, eine theologische Schule, ein Freizeit- und Tagungszentrum, ein Jugendhaus, Altenwohnungen. So ist aus Krelingen eine Art kleines Bethel geworden. Heinrich Kemner wird bescheinigt, dass er als Vorgesetzter völlig unmöglich war, dass z.B. sein Jähzorn oftmals mit ihm durchging. Aber er war wohl ein Gezogener und konnte sich entschuldigen. „Im Dienste seines Ziehens“ kann unser hoher Herr sogar unmögliche Vorgesetzte brauchen!
Nicht nur unsere Kräfte, sondern auch unsere Fehlerhaftigkeit integriert er in seinen Dienst. Darum ist die Mahnung des Predigers Salomo nicht zu übersehen. „Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, damit du dich nicht zugrunde richtest“ (Pred 7,16). Nach Kurt Marti „sei also kein Bewährter und trete nicht allzu weise auf… “[8].
Theoretisch sind wir allzumal Sünder, praktisch geben wir uns gerne als Bewährte. Darum können wir einander nur schlecht helfen, ja, wir richten uns zugrunde durch unsere Tüchtigkeit. Weil auch wir praktisch Sünder sind, ist es gut, den nächsten Vers auch noch zu lesen: „Sei nicht allzu gottlos und sei kein Tor, damit du nicht sterbest vor deiner Zeit“ (Pred 7,17).
Nicht „allzu gerecht“ und „nicht allzu gottlos“ heißt: Wir haben einander nötig. Das ist doch das Elend in unseren Pfarrhäusern, dass jeder für sich selbst tüchtig ist und als Bewährter in seine eigene Tasche wirtschaftet, dass wir nicht nur Selbstversorger sind, sondern einander immer wieder etwas vormachen. Die Bibel nennt das „Heuchelei“. Da machen wir uns selbst attraktiv und stellen uns gegen den Zug des Auferstandenen.
Beim Kirchenvater Chrysostomus steht zu lesen: „Halte es nicht für schimpflich, anderer zu bedürfen, denn Gottes unaussprechliche Weisheit hat es so angeordnet“[9]. Wo wir an den Brüdern und Schwestern vorbeigehen, unterbrechen wir den Zug des Auferstandenen und quittieren den besten Dienst, den es gibt. So bin ich mein Leben lang dankbar für die Presbyter in Möriken, die vor dem Gottesdienst in der Sakristei zusammenkamen und teilnahmen an den Predigtnöten des jungen Pfarrers, die sie vor Gott brachten. So begleiteten sie ihn als Befreiten auf die Kanzel. Prediger brauchen die Seelsorge, den Freispruch der Gemeinden, um frei zu sprechen.
Als Katechet war ich ziemlich unmöglich, da habe ich viel Hilfe erfahren, wenn ich die Gemeinde an meinen Schwierigkeiten teilnehmen ließ. Das ist kein Rezept. Man muss schon wissen, was man in der Sakristei und was man auf der Kanzel sagen kann. „Very important persons“ werden Sie nur, wenn Sie vorher „very, very unimportant“ geworden sind. Solange Sie Alleskönner oder eben dem Anschein nach „Bewährte“ sind, können Sie für Gottes Herrschaft nicht sein, was Ihnen zugedacht ist. Denken Sie an Heinrich Kemner!
„Sei also kein allzu Bewährter, trete nicht allzu weise auf! Warum willst du dich zugrunde richten?“ In unseren Gesangbüchern gibt es ein gut gemeintes Lied mit der gut gemeinten Strophe:
„Hilf, Herr, meiner Tage
Dass ich nicht zur Plage,
Dass ich nicht zur Plage
meinem Nächsten bin.“ (EG 419,2)
Wie sagt Gottfried Benn: „Gut gemeint ist das Gegenteil von Kunst“. Vielleicht lernen wir den Prediger Salomo von diesem Lied her zu verstehen. Wer allzu gerecht sein will, richtet sich zugrunde. Wer dieses Lied lange genug singt, kann vor seinem Sterben sagen: „Ich bin niemandem etwas schuldig.“ Ein Ausspruch potenzierter Gottlosigkeit! Wer niemandem etwas schuldet, ist auch Gott nichts schuldig. Das Gebet des Herrn wird überflüssig.
Für Ihr Predigen sind auch Ihre Gebrechen „very important“, zu Deutsch: „gesegnet“. Und vergessen Sie nicht, dass auch Sie der Gemeinde, der Sie predigen, zur Plage werden – auch und gerade, wenn Sie kein Plagegeist sein wollen. Sie, meine Schwestern und Brüder, machen einen Schritt nach vorn, wenn Sie einsehen, dass Sie einander nötig haben und aufeinander zugehen. Das wird auch eine Art und Weise sein, in der uns der Auferstandene in seine Höhe zieht. In seiner Höhe sind die Seinen eins. Da ist die Bitte des Hohepriesters erfüllt, „dass alle eins seien, wie du, Vater in mir bist und ich in dir, ja, dass auch sie in uns eins seien, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast“ (Joh 17,21).
Die säkulare Umwelt hat von den Predigenden nur dies eine nötig, dass sie sich in die Einheit ziehen lassen, dass sie in ihm und dem Vater eins werden, und das ist allemal ein Akt der Gotteserkenntnis und der Dankbarkeit, ein Akt, in dem wir werden, was wir sind. Wenn wir Gott erkennen, erkennen wir auch uns selbst. Da geht es um höhere Psychologie und die heißt:
II. Aus der Zukunft für die Gegenwart leben
Aufwärts im Weg zueinander – in die Einheit mit dem Vater und dem Sohn! Was Johannes als Verheißung zusagt, begegnet uns im 1. Petrusbrief als Mahnung und alsbald auch als Ernennung: „Lasset euch selbst als lebendige Steine aufbauen als ein geistliches Haus zu einer heiligen Priesterschaft, um geistliche Opfer darzubringen, die Gott angenehm sind durch Jesus Christus“ (IPetr 2,5). Eine Kirche kann niemals als Geröllhalde „attraktiv und einladend“ sein, sondern eben nur als ein Bau von lebendigen Steinen, wo einer den anderen trägt und hält, wo man beieinander bleibt, sich helfen lässt und einander hdft.
Das ist nicht immer einfach: Ich entsinne mich an eine kleine Arbeitsgemeinschaft junger Pfarrer, in der man sich alsbald auf die Nerven ging, sodass die Frage kam: Sollen wir nicht aufhören und damit zugeben: Wie verstehen einander nicht, haben nicht die gleiche Wellenlänge? Aber dann meinte einer: „Wir sind doch Brüder. Wir gehören zusammen, auch wenn wir Mühe haben miteinander.“ Wir blieben zusammen und erfuhren, wie sich die Atmosphäre reinigte und unsere Zusammenkünfte zur Freude wurden. Lebendige Steine haben Beine, aber sie gehen nicht auseinander, sondern kommen zusammen.
Ein geistliches Haus wird immer ein offenes Haus sein und kann nicht zur geschlossenen Anstalt werden. Letzthin sagte mir ein erfahrener Kirchenmann: „Unsere Gemeinden werden mehr und mehr zu Vereinen“ und meinte damit wohl „zur geschlossenen Gesellschaft“, die sich selbst genügt. Da werden geistliche Opfer, die Gott angenehm sind, kaum noch möglich sein.
Vom Opfer spricht auch Paulus als hohes Aktivum, als Hingabe hinter Jesus her: „Ich ermahne euch nun, ihr Brüder, beim Erbarmen Gottes, eure Leiber als ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Opfer hinzugeben; das sei euer vernunftgemäßer Gottesdienst“ (Röm 12,1). Dazu Ernst Gaugler in seinem Kommentar: „Mehr als tausend ,Resolutionen‘ und ,Manifeste“ von Kirchen und Konferenzen wirkt ein einziger Christ, der es wirklich ist, weil er bis ins Leibliche hinein, mit Geist, Seele und Leib, ein liebender, ein neuer Mensch ist.“ In ihm ist „in der Kirche schon etwas vom neuen Äon da“, und der allein macht die Kirche einladend. Wird Hingabe angemahnt, heißt das: sie ist realisierbar! Angemahnt wird sie den „Brüdern beim Erbarmen Gottes“[10].
In Japan wurde ich einmal gefragt, was den Studenten angesichts des neuen Jahrtausends zu lehren sei. Die Antwort kam erst am anderen Tag: „Die Studenten aufs Martyrium vorbereiten… “. Terroropfer sind keine Märtyrer, geben sie doch ihr Leben nicht hin. Es wird ihnen genommen. Wenn wir schon mögliche Terroropfer sind, ist es vernünftiger, selbst das Leben hinzugeben; denn damit beginnt die Zukunft einer neuen Welt: „Ich ermahne euch nun, ihr Brüder, beim Erbarmen Gottes eure Leiber als ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Opfer hinzugeben“, damit im säkularen Umfeld der Glaube blühe! Die Hingabe des Leibes gipfelt im Martyrium. Aber wie uns darauf vorbereiten?
Der erste Petrusbrief antwortet: „Traget wie neugeborene Kinder Verlangen nach der vernünftigen unverfälschten Milch, damit ihr durch sie zur Seligkeit heranwachset“ (1Petr 2,2). Wir müssen uns das Evangelium einverleiben, es trinken wie Kinder die Milch, sonst können wir es nicht predigen und mit unserem Leben und Sterben bezeugen. Der Apostel macht dann mit seiner Ernennung auch deutlich, was es heißt, erwachsen zu werden zur Seligkeit: „Ihr aber seid das auserwählte Geschlecht, die königliche Priesterschaft, das heilige Volk, das Volk des Eigentums, damit ihr die herrlichen Taten dessen verkündigt, der euch aus der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht berufen hat“ (1Petr 2,9).
Die Einheitsübersetzung übersetzt mit dem unbestimmten Artikel „eine königliche Priesterschaft“ korrekt. Im Urtext fehlt der Artikel. Luther übersetzt hier nicht allzu korrekt und doch theologisch präzise: „die königliche Priesterschaft“. So gibt er auch als Übersetzer dem Prediger Salomo Recht! – Mit dem Artikel wird das Außergewöhnliche auch der gewöhnlichen Christen angedeutet, partizipieren die Christen doch an allen Ehrentiteln Israels. Die Hoheit und Auserwähltheit der Gemeinde hängt an der Verbindung mit Israel.
Dazu Johann Christoph Blumhardt: „Das ist jetzt das Große, dass nicht nur ein einzelner Stamm und in demselben ein einzelner Mann Priester ist, sondern alles, was zum Volke Gottes gehört, ist sein Priester.“[11] Die königliche Priesterschaft hat das hohe Amt, die herrlichen Taten dessen zu verkünden, der uns zu seinem Licht berufen hat. So werden wir im Verkündigen – johanneisch gesprochen – zu ihm gezogen: Blumhardt sagt es noch einmal anders: „Sind wir Kinder, so müssen wir auch unsern Vater repräsentieren. Mit unserm ganzen Wesen, nur so sind wir das ausgewählte Geschlecht.“[12] Ein unerhörter Satz: Wer den Vater im Himmel repräsentiert, der ist nicht eine Nummer, sondern eine Hoheit. Ihre Gemeindeglieder sind Hoheiten.
Liebe Brüder und Schwestern, nehmen Sie die Heilige Schrift beim Wort. Es schadet Ihnen nicht, wenn Ihnen einmal schwindlig wird über die Höhe, in die Sie da gehoben werden. Predigen Sie doch so, dass das Ich der Gemeinde gestärkt und ihre Besessenheit durch Minderwertigkeitsgefühle ausgetrieben wird. Die mag ruhig in eine Schweineherde fahren! Da ist sie am rechten Ort. In einer königlichen Priesterschaft hat sie keinen Platz.
III. Was Gott aus uns gemacht hat, macht und machen wird
Im Schlafzimmer meiner Eltern hing ein Bild: In einem Medaillon der Dornengekrönte und darunter die Frage in gotischen Buchstaben: „Das tat ich für dich, was tust du für mich?“ – Vielleicht kehrte dieses Bild in meiner „Predigtlehre“ wieder in dem Fremdwort von der „theonomen Reziprozität“. Auch in ihr – und in ihr erst recht – ist der Erhöhte am Ziehen. Ich frage: Was ist heute dran, was ist von Gott gewollt und geboten für unser Predigen, und ziehe dazu einen Satz aus dem Anfang der Offenbarung des Johannes zu Rate: „Dem, der uns liebt und uns durch sein Blut von unseren Sünden erlöst hat und uns zu einem Königreich, zu Priestern für Gott, seinen Vater, gemacht hat, ihm gebührt der Ruhm und die Kraft in alle Ewigkeit. Amen“ (Offb 1,5bf).
Die zentrale Predigt des Nazareners, dass die Königsherrschaft nahe herbeigekommen sei, überholt der Seher von Patmos: „Sie ist da“, und indem sie da ist, hat sie erst recht Zukunft. Sie ist da mit zwei perfekten Taten: Er hat uns von unseren Sünden befreit und uns zur Basileia für Gott, seinen Vater, gemacht. Diese Perfecta werden umklammert vom Präsens seiner Liebe; anders wäre das johanneische Versprechen, dass er alle zu sich zieht, eine hohle Phrase. – Indem er uns zum Königreich für Gott gemacht hat, öffnet sich uns die Zukunft, werden wir „very important“ auch für sein Kommen. „Ihm gebührt der Ruhm und die Kraft in alle Ewigkeit.“
Ernst Lohmeyer übersetzt und bringt schon im Schriftbild die Dynamik des Textes zur Geltung:
„Ihm der uns liebt und uns erlösete von unseren Sünden durch sein Blut / und uns erschuf zum Königtum zu Priestern seinem Gott und Vater – / Ihm Preis und Macht in aller Zeiten Zeiten! Amen!“[13]
Die Priester werden bestimmt durch das Königtum. Sie breiten den Ruhm aus, erhöhen seine Macht durch ihren Dienst als liturgische Missionare, die Gottes Zukunft heranziehen, damit die dürftige Zeit ein Ende finde und einer Zeit der Fülle Platz mache.
Wir verleugnen seine Liebe, wenn wir übersehen, dass er uns in den Dienst seines Ziehens hineingenommen hat, indem er uns zu seinem Königtum machte. Wir verleugnen sein Königtum, wenn wir an den Unglauben glauben. Damit separieren wir uns von denen, die den Weg zur Kirche noch nicht gefunden haben.
Ein König muss sein Königtum auch wollen. Ein Hirte muss seine Herde wollen, muss für sie da sein. Sie müssen die Leute auch wollen, sie suchen, aufsuchen. Ich entsinne mich an ein Gespräch mit der Lehrerschaft im Schulhaus Möriken. Die Schulmeister ärgerten sich darüber, dass ich sie im Gottesdienst erwartete; aber es wäre doch lieblos gewesen, ich hätte sie nicht erwartet. – Unser Text fängt mit dem Präsens der Liebe an. Liebe ist die Voraussetzung für missionarisches Predigen. Wenn die Liebe Sie motiviert, werden Sie auch keine Gelegenheit vorbeigehen lassen, die Leute zum Gottesdienst einzuladen.
Von Offbarung 1 her können wir erkennen, wie es uns gelingt, „den Glauben für Außenstehende attraktiv und einladend darzustellen“. Im Grunde ganz einfach, aber doch nicht ganz so einfach! Einfach: Indem wir das werden, was der, der uns liebt, aus uns gemacht hat – eine Basileia, ein Königtum und also königliche Menschen.
Nicht ganz so einfach: Wer zum Königtum geboren wird, kann nicht früh genug anfangen, sich auf sein Amt vorzubereiten. – Schauen Sie doch, wie attraktiv das ist, wenn ein Königssohn in Dänemark oder Spanien heiratet. Davon lebt dann eine ganze Industrie, oder jeder Kiosk hat etwas davon. Wenn irgendein Frederik oder Felipe heiratet, bekommt der trockenste Republikaner feuchte Augen, denn nach Glanz und Gloria, nach einem Märchen sehnen sich heimlich fast alle Menschen, und die Regenbogenpresse bedient diese Sehnsucht, ohne sie zu erfüllen. Immerhin ein Gleichnis für das, was das Volk Gottes ohne Glanz und Gloria in der Niedrigkeit repräsentiert. Ein Gegenbild zur „Bunten“. Aber wie?
Johannes 3 gibt zur Antwort: durch Neuschöpfung, durch Wiedergeburt; schwer zu begreifen. Vielleicht hatte schon Nikodemus Schwierigkeiten, als er hörte: „Wenn jemand nicht von oben her geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen.“ Da bleibt’s verborgen. Aber da wird das Reich real, sichtbar, wo einer eine neue Sicht, neue Augen bekommt. Jesus sagt es ihm noch ein zweites Mal: „Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht ins Reich Gottes kommen“ (Joh 3,3.5). Man beachte, dass hier nicht positiv, sondern negativ geredet wird. Das Evangelium liefert keine Gynäkologie der Wiedergeburt; diese bleibt das Geheimnis.
Im Vergleich mit dem Werden des Menschen betont Luther die Langsamkeit der neuen Geburt: „Denn es gehet nicht so schwinde zu, dass ein Kind im Mutterleibe bald geboren werde, sondern wird langsam gebildet“[14] Darum müssen wir Geduld haben mit uns selber wie mit den anderen und einander helfen, zu werden, was wir sind, ein Königtum, Priester des Kommenden Königs – und das ist der beste Dienst.
Epilog
Der Heilige Geist ist ein Reichmacher. Darum dürfen wir nicht arme Teufel bleiben, und ich erzähle Ihnen die Geschichte von Peter Feuz, einem armen Bauernknecht, der selber zum Reichmacher wurde. Ich erzähle sie Ihnen, weil die Zukunft bei Ihnen liegt:
In unserer nächsten Nachbarschaft wohnte ein alter Bergführer mit zwei Söhnen, die ebenfalls Bergführer waren und einen kleinen Viehbestand hatten. Neben dem Haus eine Scheune, ideal für jugendliche Spiele mit den Nachbarskindern.
Eines Morgens ging ich zum Spielen vor die Scheune. Dort stand die Frau von Hans mit einem kleinen Männlein. Schon sah ich die Nachbarskinder vor dem Haus und fragte: „Kann das kleine Männlein auch mit uns Versteckspielen?“ Originalton: „Chan das chliin Mändi o mid iis zellegginen?“
Peter Feuz hatte an diesem Morgen seine Stelle als Knecht angetreten und nannte sich von da an mir gegenüber immer wieder „ds chliin Mändi“. – Vielleicht deutet das schon auf königlichen Rang, dass einer gerne klein sein kann. Später hörte ich, er wäre so arm gewesen und hätte so wenig zu essen bekommen, dass er im Wachstum zurückblieb. – Ein armer Knecht, aber treu. Blühten die Alpenrosen, stieg er zwei, drei Stunden bergan, pflückte einen Strauß, den ihm die Meistersfrau in eine Schuhschachtel packte, Jahr um Jahr, und mir schickte, zuletzt bis nach Wuppertal.
Als ich Pfarrer wurde, sagte er zu mir: „Du bist jetzt ein Herr Pfarrer, und ich bin ein Knecht. Wie soll ich da noch ,Du‘ sagen?“ Dann aber ging ein Leuchten über sein Gesicht. „Weißt du, auf der anderen Seite sind wir dann wohl alle gleich.“ So sprach eine königliche Hoheit. Ich schwieg und dachte für mich: „Hoffentlich ist da der Unterschied nicht allzu groß.“
Wir bewohnten eine Jugendstilvilla, in der die Mutter eine Fremdenpension führte. In einigem Abstand ein kleines Häuschen mit Hühner- und Schweinestall, Holzschuppen und einer Knechtekammer, die später in mein Studierzimmer umfunktioniert wurde.
Meine Mutter muss erstaunt gewesen sein, als Peter eines Tages bei ihr erschien mit der Frage, ob er meine Kammer beziehen dürfe. „Wollen Dich Hanses nicht mehr?“ „Doch, doch!“ „Gefällt es dir dort nicht mehr?“ „Wohl, wohl.“ „Warum willst du ausziehen?“ „Da sind Ferienleute gekommen, wohnen neben meiner Stube. Jetzt kann ich da nicht mehr laut beten.“ Meine Mutter sah sofort ein, dass der Peter für drei Wochen zu uns kommen müsse. Später hatte ihr die Nachbarin erzählt, sie hätte ihn einmal ungewollt gehört, wie er für jedes einzelne Stück Vieh mit Namen betete. Nach einer Weile meinte die Nachbarin: „Der Peter ist jetzt zwanzig Jahre bei uns, und wir haben in dieser Zeit nie einen Tierarzt gebraucht.“
Jesus spricht: „Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, werdet ihr nicht glauben“ (Joh 4,48), ein Wort, das in unserer exegetischen Tradition – unbarmherzig genug – als Korrektur des Wunderglaubens ausgelegt wird, oft auch mit antijüdischer Tendenz unter Hinweis auf 1Kor 1,22, obschon im Text das Wort gerade das Wunder vorbereitet. Falsche Exegese aber dörrt die Zeit aus. Peter Feuz, „ein einziger Christ“: Wo ein Christ ist, wird das Wunder wiedergeboren. Darum ist jeder Christ sehr wichtig – ein Wunder eben.
Vielleicht kann ein armer Bauernknecht aus dem Berner Oberland auch dem Land an der Ostsee zum Segen werden. Was ihm zuwuchs, haben andere in jahrelanger spiritueller Übung sich anzueignen versucht, bis die Gnade über sie kam. Und Gnade braucht das Land wie Regen und Sonnenschein. Wer sie empfängt, erhält sie für das Land.
Peter Feuz war ein Gezogener, und „wir gehen dem Tag entgegen, wo es an den Tag kommen wird, wie mächtig sein Ziehen jetzt schon ist.“
„Ein einziger Christ, der es wirklich ist… “. In ihm ist „in der Kirche schon etwas vom neuen Aon da“, das von der Zukunft in der Gegenwart lebt.
In der einfältigen Hoffnung, Sie möchten in der Umkehr vorangehen, denkt ein alter Mann weiterhin an Sie – als Erschaffene „zu einem Königtum, zu Priestern“.
Darum vergessen Sie nicht, liebe Schwestern und Brüder, auch Sie haben eine Herde – deren Zukunft liegt bei Ihnen.
Überarbeitetes Referat im Generalkonvent der pommerschen Kirche in Züssow vom 16. Juni 2004.
Quelle: Theologische Beiträge 36 (2005; Heft 1), S. 1-9.
[1] Hans Jürgen Abromeit, Missionarische Kirche im säkularen Umfeld, 2002, 12.
[2] Vgl. Rudolf Bohren, Das Gebet I, edition bohren 2, 2003, 167ff.
[3] Vgl. Martin Hengel, Psalm 110 und die Erhöhung des Auferstandenen zur Rechten Gottes, in: C. Breytenbach (Hg.), Anfänge der Christologie: FS für Ferdinand Hahn, Göttingen 1991, 43-73, hier 43.
[4] Helmut Gollwitzer, Zuspruch und Anspruch. Predigten, München 1954, 279-288.
[5] Abromeit, a.a.O. 10.
[6] A.a.O., 288.
[7] W. Reuter (Hg.), … nicht vergeblich … “. Gedenkschrift für Heinrich Kemner, Groß Oesing 2003.
[8] Kurt Marti, Prediger Salomo. Weisheit inmitten der Globalisierung, Stuttgart 2003.
[9] Johannes Chrysostomus, Hom. Ep. II ad Cor. 10,4 (Migne CPG 61, 521).
[10] Ernst Gaugier, Der Römerbrief, II. Teil: Kapitel 9-15, Zürich 1952, 230.
[11] Johann Christoph Blumhardt, Ausgewählte Schriften II. Die Verkündigung, Zürich 1948, 89f.
[12] Ebd.
[13] Ernst Lohmeyer, Die Offenbarung des Johannes, 3., unveränd. Auf!., Tübingen 1970, 10.
[14] Über Mt 8,13, zit. nach F. Gogarten, Luthers Predigten, 1927, 157.