Alles hat seine Zeit – aber wer weiß seine Stunde. Eine Auslegung zu Prediger 3,1-9
Von Friedrich Mildenberger
Ein jegliches hat seine Zeit,
und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde
geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit;
pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit;
töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit;
abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit;
weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit;
klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit;
Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit;
herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit;
suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit;
behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit;
zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit;
schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit;
lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit;
Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit.
Man mühe sich ab, wie man will, so hat man doch keinen Gewinn davon.
Wieder gibt der Prediger uns einen großen Überblick über das, was er erfahren hat in seinem Leben, der weise Prediger. Alle meinen, es müsse doch etwas herauskommen in ihrem Leben, etwas, das man vorzeigen kann. Aber so ist es nicht. Nichts kommt heraus im Leben! So hat er es dort im ersten Kapitel an den Anfang gesetzt: „Was hat der Mensch für Gewinn von all seiner Mühe, mit der er sich müht unter der Sonne?“ (1,3) So setzt er es hier an den Schluss: „Man mühe sich ab, wie man will, so hat man keinen Gewinn davon.“
Sicher, jeder müht sich ja trotzdem ab. Wir alle sind dabei bei dieser Mühe des Lebens: Wir, ich, du, ihr, alle miteinander; diese Generation wie die vorige und die vorvorige, und die nächste und die übernächste – wenn es Gott gefällt, menschliches Leben auf dieser Erde solange zu erhalten. Das haben wir nun gelernt, ob es uns gefällt oder nicht: Alles ist eitel, und nichts Neues geschieht unter der Sonne! Was geschieht, das ist immer das gleiche: Dass sie hinter dem besseren Leben herlaufen, das kommen soll, morgen, übermorgen, nächstes Jahr. Dass sie sich mühen und sorgen, dass sie sich abplagen, damit es doch endlich kommen soll, das gute Leben: Bald, wenn das Haus gebaut ist, wenn die Schulden abbezahlt sind, wenn die Lehre zu Ende ist und einer verdienen kann, wenn die Hochzeit gefeiert und der eigene Hausstand gegründet ist. Bald kommt es, das gute Leben, wenn es soweit ist!
Als Kinder haben wir das Verslein gelernt und aufgesagt, und haben damit die verspottet, die große Sprüche machten:
„Wenn das Wörtlein wenn nicht wär’ –
dann wär’ mein Vater Millionär!“
Aber wer kann es denn schon bleiben lassen, immer und immer wieder hinter so einem „wenn“ herzulaufen: Wenn ich erst die richtigen Zahlen im Lotto getippt habe, dann bin ich endlich am Ziel. Dann kommt es, das gute Leben! Und es muss ja nicht diese Gelegenheit sein, hinter der einer her ist. Das Ziel kann viel bescheidener sein, und so gesteckt, dass ich es auch erreichen kann. Aber genau das schärft uns der Prediger ein: Ein Ziel setzen und ein Ziel erreichen – das ist zweierlei!
Gewiss: Es wird viel geplant und es wird auch viel ausgeführt in unserer Menschenwelt. Und wir sind da mit dabei. Ziele werden gesteckt, und Ziele werden erreicht. Das ist unbestritten. Es geht nicht darum, die Leute mit ihrer Arbeit und Mühe schlecht zu machen. Aber darum geht es, dass wir hier zuhören und uns eine Wahrheit über uns selbst und unser Leben sagen lassen, auf die wir selbst sonst kaum kommen würden: Es lässt sich nicht machen, es lässt sich nicht erzwingen, das bessere, das gute Leben.
Und da führt er uns nun einen Schritt weiter. Er zeigt nicht bloß, wie das ist mit den Leuten, die sich abmühen, und doch nicht dahin kommen, wo sie gerne sein wollten: dahin, wo es dann endlich ist, das gute Leben. Er gibt eine Auskunft, warum das so ist: Nur dort kann etwas gelingen, wo dazu die rechte Zeit ist. Und diese rechte Zeit, diese gute Gelegenheit, die haben wir nicht in der Hand. Die machen nicht wir. Die kommt von Gott – oder sie kommt gar nicht.
Und da heißt es dann: „Gott ist im Himmel und du auf Erden!“ Oder mit dem Sprichwort, das jeder kennt – und das einer so schwer sich zu Herzen nehmen kann „Der Mensch denkt, Gott lenkt!“ Das ist ein guter Spruch. Was haben die Menschen nicht alles im Kopf, der eine dies, der andere das. Es muss einen wundern, dass sie sich nicht noch mehr in die Quere kommen, dass da nicht alles drunter und drüber geht in unserer Welt, dass da doch dies und jenes und alles miteinander noch so einigermaßen läuft: Gott lenkt!
Das heißt dann: Dies lässt er gelingen, und jenes verhindert er. Dazu gibt er die gute Gelegenheit, und dann meint einer vielleicht, er selbst habe es doch besonders gut hingekriegt. Und dort will es nicht gehen, bei aller Mühe und bei allem guten Willen nicht. Es ist dafür jetzt nicht die rechte Zeit – so sagt der Prediger dazu. Er zählt auf, was geschieht, jetzt dies und jetzt sein Gegenteil: „Suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit; zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit“ – und jeder weiß: Da bin ich auch schon dabei gewesen, bei diesem und bei jenem. Ich habe den Zettel gesucht und alles umgedreht und wusste ganz genau: Er muss doch da sein! Nichts ist es gewesen. Und kurz darauf, als ich etwas ganz anderes im Kopf hatte, liegt er genau dort, wo ich vorher gesucht und gesucht und nicht gefunden habe. So ist das, und es kann einer nur den Kopf schütteln darüber, und begreift nicht, wie das möglich ist.
Der Mensch denkt, Gott lenkt! Die rechte Zeit, die gute Gelegenheit und das Gelingen, die kann einer nicht machen. Damit das von vorneherein klar ist, beginnt er mit dem, was wir gewiss nicht selbst wollen und machen können: „Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit“. Dass er geboren wurde, das hat keiner von uns bestimmt. Und wann es für ihn die Zeit ist, zu sterben, das bestimmt er auch nicht. Gewiss, unsere Wissenschaft und Technik ist auch da dahinter her, den Anfang und das Ende des menschlichen Lebens in den Griff zu bekommen. Wenn es im Mutterleib nicht anfangen kann, so ein Menschenleben, dann soll es eben im Reagenzglas beginnen. Das ist uns unheimlich, und ich verstehe die katholischen Theologen und Kardinäle in Rom schon, die sagen, das sei sittlich nicht erlaubt. Und wann ist es für einen Menschen Zeit zu sterben – etwa einen, der auf der Intensivstation eines Krankenhauses an den Apparaten hängt, und jeder weiß: Zu einem selbständigen Leben wird er nie mehr imstande sein! Wer bestimmt da, wann es Zeit ist, die Apparate abzuschalten?
Soll es vielleicht dazu kommen, dass wir selbst die Zeit des Lebens aussuchen können? Das lässt sich ja schon ausdenken, dass da Eltern sagen: Unser Kind soll es gut haben. Nicht in diese Krisenzeit solle es hineingeboren werden. Und lassen so ein befruchtetes Ei, so ein angefangenes Menschenleben auf hundert Jahre einfrieren, und dann solle es aufgetaut und ausgetragen werden. Ein unheimlicher Gedanke ist das. Und da ist der Prediger ein rechter Trost, der weiß: Es geschieht nichts Neues unter der Sonne, auch nicht in hundert Jahren! Auch da gilt das alte Lied: „Man mühe sich ab, wie man will, so hat man keinen Gewinn davon.“ Darum will ich es getrost Gott überlassen: „Ich aber, Herr, hoffe auf dich und spreche: Du bist mein Gott! Meine Zeit steht in deinen Händen.“ (Psalm 31,15.16). Meinen Anfang hast du mir bestimmt, und kennst mein Ende. Nicht ich habe mir die Zeit meines Lebens ausgesucht. Darum will ich damit zufrieden sein, wie ich es getroffen habe.
Vielleicht haben wir Menschen des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts es besonders schwer damit, wahrzunehmen, wie unser Leben in die gelegene Zeit eingebunden ist. Ich will hier unsere Technik nicht bekritteln. Sie hat ihr Gutes, und ich könnte mir ein Leben ohne die Hilfe der Technik nicht denken. Aber das gehört zu dieser Technik dazu, dass sie uns über die Bindung an die Zeit hinaushebt, über Nacht und Tag, über Sommer und Winter.
An meinen alten Kirchenpfleger muss ich da denken. Auch nachdem er seine Landwirtschaft schon längst abgegeben hatte, brauchte er noch sein Ross im Stall und die Zeit, die damit bestimmt war: Aufstehen in aller Frühe, und füttern, putzen und einspannen. Und nach ein paar Stunden war es dann Zeit für das Tier und den Menschen, Mittag zu machen! Die Bauern, die noch mit Pferden groß geworden sind, haben mir das immer wieder gesagt: Auch wenn es gerade eine eilige Zeit gewesen ist – Saatzeit, Heuet, Ernte – die Pferde mussten über Mittag gefüttert werden, und da konnten dann auch die Leute ausruhen. Seit man bloß neuen Diesel in den Traktor schütten muss, gibt es diese Ruhe nicht mehr.
Vielleicht reden wir alle darum so viel von unserem Stress, weil wir uns nicht mehr an die Zeit halten müssen, an Sommer und Winter, an Tag und Nacht. „Pflanzen hat seine Zeit“ – so hieß das einmal. Jetzt wollen wir es anders wissen und haben das ganze Jahr durch unseren Salat, die Tomaten, Radieschen und Erdbeeren. Und haben das ganze Jahr unsere Arbeitszeit, und dies und jenes Vorhaben. Hierhin und dorthin müssen wir kommen, und schnell muss es gehen. Aber ob das auch gut geht?
Er zählt auf, wozu es Zeit gibt und Gelegenheit, der Prediger. Gutes und Schlimmes wird da genannt, wie es eben so zugeht auf der Welt. Nicht jedes Stücklein kann ich ausführlich erklären. Was das heißen soll: „Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit“, das weiß ich auch nicht, und habe dafür noch keine rechte Erklärung gefunden. Auf eines aber will ich doch noch ausdrücklich hinweisen: „Weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit.“ Da kann einer noch einmal merken, wie wenig er sie in der Hand hat, seine Zeit. Hab ich in der Hand, wie es mir zumute ist, ob ich froh bin, oder ob es mir zum Heulen elend geht?
Wohl: Wir machen alle unsere Pläne, und da gibt es dann Zeiten, wo wir glücklich sein wollen, den Urlaub, ein Fest, das freie Wochenende, das einer fünf Tage lang herbeigewünscht hat. Aber kommt es dann auch so, wie wir das wollten? Kann ich mir die Urlaubstage in meinem Terminkalender rot unterstreichen, und schreibe ein: Glücklich sein!?
Wohl ist das alles vorbereitet, und nun soll das gute, das glückliche Jahr kommen: Der Sohn soll heiraten und den Betrieb übernehmen, und die Frau ist auch da, die das schaffen kann. Und die Eltern haben sich den Ruhesitz gebaut und eingerichtet. Da schlägt die tückische Krankheit zu und die Mutter wird begraben. So kann es kommen, ganz anders und böse – dort, wo eigentlich das gute Jahr zu erwarten war.
Wir sollten vorauswissen, wann die rechte Zeit ist, in der es läuft. Und Menschen haben ja immer wieder versucht, dahinter zu kommen, haben die Sterne befragt oder Karten gelegt. Und manch einer hat versucht, mit Zauberei und allerhand finsteren Künsten die Zeit zu überlisten. Aber da bleibt, was der Weise als Ergebnis seiner Erfahrung und seines Nachdenkens zu nennen weiß: „Man mühe sich ab, wie man will, so hat man keinen Gewinn davon.“ Denn der Mensch denkt, Gott lenkt.
Ja, wer die Stunde wüsste – dem müsste es gelingen! Als die Mutter Maria ihren Sohn drängte auf der Hochzeit zu Kana, hat er sie zurechtgewiesen: „Meine Stunde ist noch nicht gekommen.“ (Johannes 2,4) Sie kam dann doch, die Stunde, und es ist ihm gelungen. Er hat seine Stunde gekannt, Jesus, die Stunde seines Leidens, in das ihn Gott führte. In Gethsemane, als seine Jünger eingeschlafen sind statt mit ihm zu wachen und zu beten, hat er es ihnen vorhalten müssen: „Ach, wollt ihr weiter schlafen und ruhen? Es ist genug; die Stunde ist gekommen. Siehe, der Menschensohn wird überantwortet in die Hände der Sünder. Steht auf, lasst uns gehen! Siehe, der mich verrät, ist nahe.“ (Markus 14,41.42) Gottes Stunde war das, und Jesus hat sich eingelassen auf diese Gottesstunde, auch dort, wo sie ihn ins Leiden führte.
Wir beten: Du mein Gott und Vater! Meine Zeit steht in deinen Händen, Freude und Leid, Gelingen und Misslingen, was mir gut dünkt und was mir böse dünkt. Du hast es festgesetzt. So lass mich gerne aus deiner Hand nehmen, was du mir zuschickst. Du leitest mich nach deinem Rat und nimmst mich endlich mit Ehren an. Amen.
Vorgetragen bei zwei gemeindlichen Bibelwochen 1986/87.
Quelle: Friedrich Mildenberger, Der Prediger Salomo, Erlangen 1988, S. 40-53.