Paul Tillich, Weihnachtspredigt zu Lukas 2,12 (1917): „Ja, so ist unser Gott! In einem Kinde schenkt er uns seine Gegenwart, das ist unser Weihnachtsglaube. In einem Kinde schenkt er uns sein Herz, das ist unsere Weihnachtsliebe. In einem Kinde schenkt er uns seine Seligkeit das ist unsere Weihnachtshoffnung. Siehe, das ist unser Gott!“

Nachdem Paul Tillich wohl in der ersten Jahreshälfte 1917 noch eine nationalreligiöse Kriegspredigt „Ihr seid das Licht der Welt“ gehalten, werden in der zweiten Jahreshälfte seine Predigten seelsorgerlicher und „friedlicher“. Hier seine Weihnachtspredigt:

Weihnachtspredigt zu Lukas 2,12 (1917)

Von Paul Tillich

Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.

So sind sie denn wieder erklungen, die alten Weihnachtslieder, und haben unser Herz erfaßt mit süßer, wehmutsvoller Gewalt Wieder leuch­ten aus dem dunklen Tannengrün die weißen Kerzen, und ihre Strahlen brechen sich in mancher heimlichen Träne auf hartem Männerantlitz, wieder sind an uns vorbeigezogen die Worte uralter Menschheitssehn­sucht nach Friede, Heil und Erlösung, und wir weilten im Geiste bei den Hirten auf Bethlehems Fluren und gingen mit ihnen zu Stall und Krippe, und es war wie einst da wir als Kinder sangen: Ihr Kinderlein kommet! Es ist wie einst und doch so anders! Ob wir schon zum vierten Mal Kriegsweihnacht im Felde feiern, ob zum ersten Male, das Schönste fehlt: Die Heimat das Haus, die Lieben, die Freude miteinander und füreinander, die Hand der Gattin und die leuchtenden Augen der Kinder. Kriegsweihnacht ist Freude in Leid, ist Seligkeit in Wehmut, ist Licht in Finsternis.

Aber weil es das ist, darum ist es nicht weniger, nein, mehr noch als einst manches Weihnachten, wo Festesjubel und Erdenglück so den echten, tiefen Sinn der Weihnachtsbotschaft vergessen ließen. Wir sind wieder ähnlich geworden den armen Hirten von Bethlehem, aufzunehmen die Verkündigung: Euch ist heute der Heiland geboren!

Finsternis bedeckt wieder die Erde, und Dunkel die Völker (Jes 60, 2). Über den Fluren von Bethlehem, wo der Himmel sich öffnete und die Engel sangen das Lied vom Frieden auf Erden, dröhnt in diesen Tagen der Donner der Kanonen, und die heiligen Stätten der Christenheit trin­ken das Blut christlicher Soldaten,[1] und die Völker, die sich nach dem Kind von Bethlehem nennen, zerstören einander in wildem Haß. Schmerz und Elend in unaussprechlicher Fülle wohnt in den Häusern und Herzen bei den Armen und Notleidenden, bei den Witwen und Waisen, bei den Wunden und Sterbenden, bei den Einsamen und Verzweifelten. Und manches Herz ist bitter geworden, daß es wegschaut vom Licht der Weihnacht, und manches Herz ist dunkel geworden, daß es nicht mehr glauben kann die Botschaft der heiligen Nacht, und viele, viele fragen: Wo ist denn der Gott des Friedens, der ein Wohlgefallen hat an den Menschen? Woran sollen wir ihn erkennen, wer sagt uns, daß das Licht stärker ist als die Finsternis und daß die Weihnacht mehr ist als ein schöner, längst entschwundener Kindertraum?

„Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kindlein in Win­deln gewickelt und in einer Krippe liegend!“ So lautet die Antwort auf der Hirten stillen Zweifel, das ist die Antwort auf unser Zweifeln und Fragen.

Eine solche Antwort hätte das Menschenherz nimmermehr erwartet. Wir nennen Gott den Allmächtigen und verlangen ein Zeichen seiner Allmacht, daß er die Welt bewege mit seinem Arm und erscheine in großer Macht und Herrlichkeit; dann wollen wir ihm glauben. Er aber sendet ein Kindlein klein und schwach und arm. Wir nennen ihn den Heiligen und verlangen, daß er die Sünde vertilge und die Niedrigkeit und Bosheit ausrotte und die Sünder vernichte; dann wollen wir ihn anerkennen. Er aber läßt ein Kindlein geboren werden, preisgegeben aller Sünde und Bosheit Wir nennen ihn den Gerechten und wollen, daß er ein Reich der Gerechtigkeit aufrichte auf Erden, wo Friede herrscht und Glück, wo jeder hat, was ihm not tut, und jedem sein Recht wird; dann wollen wir sagen: Es ist ein Gott Er aber sendet das Kind der Weihnacht in Niedrigkeit und Armut daß seine Mutter nicht hat womit es seine Blöße decken kann. Wir nennen Gott den Gott des Lebens und warten, daß er das Leben stärker mache als den Tod, daß er das Leiden und Sterben hinwegnehme, daß er dem großen Morden ein Ende mache, daß wieder Friede und Freude lacht dann wollen wir singen: Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede auf Erden! Er aber sendet das zarteste der Wesen, ein hilfloses Kind, allem Leiden und dem Tode preisgegeben.

Ja, lieben Kameraden, das ist das erste, was die Weihnacht uns sagt: Gottes Art ist anders als unsere Art, Gottes Wege sind anders als unsere Wege, und so hoch der Himmel über der Erde ist sind Gottes Gedanken anders als unsere Gedanken (Jes 55, 9). Manch Menschenherz ist darum an ihm irre geworden und hat sich nicht hineinfinden können in Gottes Walten. Mancher hat sich trotzig aufgelehnt gegen einen Gott, der sich nicht machtvoller offenbart, mancher ist verzagt an einem Gott, der ihm nicht besser geholfen hat und mancher hat den Glauben verloren an einen Gott, der sich nicht deutlicher bezeugen kann. Und vielleicht schreit hier und da ein Menschenherz zu Gott empor: Zeige dich mir, o Gott, daß ich dich fühlen und sehen kann, daß ich wieder glauben kann und in meinem Leide dennoch selig bin wie einst als Kind in der heili­gen Nacht!

Und die Stimme von oben, sie antwortet: Das nimm zum Zeichen, du wirst finden das Kindlein in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend! So laßt uns denn hingehen mit den Hirten und das Wunder sehen, was dort geschehen ist und dem Kinde der Weihnacht ins Auge schauen, ob nicht ein göttliches Licht aus seinem Angesicht uns mit der seligen Gewißheit erfülle: Siehe, so ist dein Gott!

Ja, so ist unser Gott! In einem Kinde schenkt er uns seine Gegenwart, das ist unser Weihnachtsglaube. In einem Kinde schenkt er uns sein Herz, das ist unsere Weihnachtsliebe. In einem Kinde schenkt er uns seine Seligkeit das ist unsere Weihnachtshoffnung. Siehe, das ist unser Gott!

Wie sollte Gott uns gegenwärtig sein, daß wir ihn sehen und fühlen könnten, er, der Unsichtbare, Ewige, der in einem Lichte wohnt da niemand zukommen kann? Sollte er kommen mit dem Schwert des Gerichts? Wer von uns wollte ihm begegnen, wer, auch der Beste, könnte bestehen? Oder soll er kommen mit dem Schwerte der Macht? Die Welt müßte verbrennen vor dem heiligen Feuer seines Wesens, und wir müßten vergehen wie ein Stäubchen in der Sonne. Oder soll er kommen mit dem Schwerte des Geistes, der alle Dinge, Vergangenheit und Zukunft, durchdringt und vor dem das Fernste gleich dem Nächsten und das Verborgenste klar ist wie der Tag? Wer könnte ihn verstehen, wer ihn ertragen? Versinken müßte unser Geist in seines Geistes Abgrund.

Nun aber ist er gekommen nicht mit dem Schwert, sondern mit eines Kindleins zarter Hand, nicht mit Macht, sondern in Schwachheit, nicht mit Weisheit, sondern in Einfalt. Nun können wir ihn sehen und fühlen, nun trennt uns nichts von ihm, nun stehen an seiner Krippe Arme und Reiche, Böse und Gute, Kinder und Greise, Kluge und Einfältige. Nun ist er ganz, ganz unser geworden, nun können wir wie Dr. Martin Luther jubelnd zu unserm Gott sprechen: „Ach du herzlieber Jesu mein, mach dir ein Bette sanft und rein, zu ruhn in meines Herzens Schrein, daß nimmer ich vergesse dein.“[2] Das ist Weihnachtsglaube, und daraus quillt die Weihnachtsliebe.

Aller Liebe schönstes Bild ist die Liebe von Mutter und Kind. Und es ist das Zeichen, das Gottes Liebe uns gibt. Als Kindlein klein und arm klopft Gott an unser Herz. Er fordert nicht, wie es sein Recht wäre, er bittet: Laß mich ein bei dir! Willst du ihn von dir stoßen? O schmelzet, all ihr harten Herzen, ihr verbitterten und stumpfen, ihr kalten und liebe­leeren! Schmelzet vor dem Blick voll göttlicher Liebe aus des Weih­nachtskindes Augen! – Und es möge in dieser seligen Zeit ein feierlich Weben der Liebe gehen von Herz zu Herz, von den Euren in der Heimat, die heut unter dem Christbaum stehen und euer gedenken, von euren Eltern und Frauen und Kindern. Göttliche Liebe hat Welten überbrückt, was sind ihr ein paar hundert Meilen? Und eure Herzen mögen sich öffnen untereinander und aller Zank und Neid versinken vor des Christ­kindleins Armut und Niedrigkeit, und auch die, die auf Erden unsere Feinde sein müssen, gegen die wir kämpfen müssen mit Blut und Leben, sie mögen im Geist der Weihnacht im Reich der Seele umfaßt sein von dem Band der ewigen Liebe!

Und noch einmal blicken wir auf das Zeichen, das uns gegeben ist, das Kindlein in Bethlehems Stall. Was ist ein Kind? Ein Wunder, eine Hoffnung, eine Zukunft und Hoffnung leuchtet aus seinem göttlichen Blick. – Hoffnungsvoller als je zuvor feiern wir dieses Mal Weihnachten. In des Ostens weitem Gefilde ruht der Kampf, wie wir hoffen, für im­mer[3]. Das Lied vom Frieden auf Erden klingt heller in unser Ohr. Doch Weihnachtshoffnung bleibt nicht auf Erden stehen; über Frieden und Krieg, über Schlacht und Tod, über Leid und Elend schwingt sie sich empor dahin, wo der Himmel offen ist und die Herrlichkeit des Herrn uns umleuchtet. Und alle, die sie sehen und fühlen, daheim und hier draußen, auf dem Lande und in der Stadt, im Quartier und auf dem Marsch, im Unterstand und auf Posten, im Lazarett und auf einsamem Gang, sie alle mögen sprechen: Wir haben gefunden ein Kindlein in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend; wir haben gefunden, wiedergefunden, von neuem gefunden unsern Gott, unsern Glauben, unsre Liebe, unsre Hoffnung. Dank dir, Kind der Weihnacht! Heilige Nacht…

Gehalten Weihnachten 1917 als preußischer Feldprediger im 1. Weltkrieg an der Westfront.

Quelle: Paul Tillich, Frühe Predigten (1909-1918), Berlin-New York, De Gruyter, 1994, S. 624-628.


[1] Britische Offensive in Palästina von der Suezkanalfront aus (Anfang November 1917).

[2] Vom Himmel hoch, da komm ich her (EG 24), Strophe 13.

[3] Waffenstillstand zwischen Russland und Deutschland am 15.12.1917, Beginn der Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk am 22.12.1917.

Hier die Predigt als pdf.

Hinterlasse einen Kommentar