Hans Georg Gadamer über die Verborgenheit der Gesundheit: „Selbst wenn man sagt, es sei gelun­gen, die Krankheit zu beherrschen, hat sich am Ende die Krankheit schon von der Person getrennt und wird wie ein Eigenwesen behandelt, mit dem wir fertigwerden müssen. Das hat sogar besonderen Sinn, wenn wir in großen Maßstä­ben denken, etwa an die großen Seuchen, deren Beherr­schung der neuzeitlichen Medizin so weitgehend gelungen ist. Dabei wissen wir gleichwohl, dass solche Seuchen immer wieder viele einzelne Kranke sind, die ihr zum Opfer fallen. Gleichwohl sind sie wie ein eigenes Lebewesen.“

Über die Verborgenheit der Gesundheit

Von Hans-Georg Gadamer

Es gilt, über Dinge nachzudenken, die nicht nur den Arzt in seiner Berufsbildung und in seinen Berufsinteressen ange­hen, sondern die jeden mitbetreffen. Wer kennt nicht die ersten bestürzenden Erfahrungen im erwachenden Kindes­alter? Da wird man plötzlich für krank erklärt, unter der Autorität der Eltern, und darf am Morgen nicht aufstehen. Im späteren Leben häufen sich erst recht solche Erfahrun­gen, die deutlicher machen, daß das eigentlich Sonderbare nicht so sehr in der Krankheit liegt, als im Wunder der Ge­sundheit.

Das gibt mir Anlaß, die wissenschaftstheoretische und praktische Situation in den größeren Zusammenhang der von der modernen Wissenschaft geprägten Gesellschaft zu stellen und zu fragen, wie wir uns in unserer Lebenspraxis mit Gesundheit und Krankheit orientieren sollen. Es kann kein Zweifel sein, daß sich in der Erfahrung von Gesundheit und Krankheit etwas von einer allgemeinen Problematik an­zeigt, die sich nicht auf die besondere Stellung der medizini­schen Wissenschaft innerhalb der modernen Naturwissen­schaft beschränken läßt. Es wäre begrüßenswert, wenn man sich der Unterschiede bewußt würde, die zwischen wissen­schaftlicher Medizin und eigentlicher Heilkunst bestehen. Letztlich ist das der Unterschied, der zwischen dem Wissen der Dinge im allgemeinen und den konkreten Anwendun­gen dieses Wissens auf den einmaligen Fall besteht. Das aber ist ein Urthema der Philosophie und des Denkens und ist auch ein besonderer Gegenstand meiner eigenen philo­sophischen Arbeit, die man als Hermeneutik bezeichnet. Offenkundig läßt sich das eine, das Wissen im allgemeinen, lernen, das andere läßt sich nicht lernen, sondern muß durch eigene Erfahrung und durch eigene Urteilsbildung langsam reifen.

Damit rückt unser Thema in einen ganz weiten Zusammen­hang, der im Grunde uns allen, seit der Entstehung der mo­dernen Wissenschaft und ihrer Spannung zu dem Erfah­rungsschatz der Menschheit, als Lebensaufgabe gestellt ist. Wir leben in einer durch die Wissenschaft immer mehr um­gearbeiteten Umwelt, die wir kaum noch Natur zu nennen wagen, und auf der anderen Seite in einer durch die Wissen­schaftskultur der Neuzeit geformten Gesellschaft, in der wir uns zurechtzufinden haben. Da sind es tausend Vor­schriften und Regelungen, die am Ende alle auf eine stei­gende Bürokratisierung des Lebens hindeuten. Wie soll man da nicht den Mut zu einer eigenen Lebensgestaltung verlieren?

Es scheint mir vielsagend, daß in der fortgeschrittenen tech­nischen Zivilisation unserer Tage ein Ausdruck wie »Le­bensqualität« erfunden werden mußte. Er soll beschreiben, was inzwischen gelitten hat. Nun ist es in Wahrheit ein Ur­thema des Menschen, daß man sein Leben zu »führen« und sich zu fragen hat, wie man es führen soll. Das gilt nicht nur für den europäischen, durch die Wissenschaft geprägten Menschen. Es ist ein Urthema, das selbst dort besteht, wo religiöse Riten und das Heilswissen die Gesundheitspflege bestimmen, die von gewissen Führungsfiguren und gesell­schaftlichen Gruppen, wie zum Beispiel weisen Frauen oder Medizinmännern, beherrscht wird. Überall stellt sich da unvermeidlicherweise die Frage, ob nicht die sich spei­chernde Erfahrung langsam zur Festigung und Entwicklung von Praktiken führt, die sich ehedem bewährt haben sollen und die sich in Geltung halten, auch wenn wir sie nicht mehr bewährt finden, und deren Wirkungsgründe wir jedenfalls überhaupt nicht kennen. Das hat gewiß in allen Frühzeiten das Leben der Menschheit bestimmt, und zwar nicht nur auf dem einen Gebiet von Gesundheit und Krankheit. In den Lebensfragen von Gesundheit und Krankheit tritt nur die Grundspannung unserer durch die Wissenschaft gegründe­ten Zivilisation in besonderem Maße hervor. Das suchte ich durch den Titel »Die Verborgenheit der Gesundheit« anzu­deuten.

Wenn man die medizinische Wissenschaft definieren will, so kann man sie am ehesten als die Wissenschaft von der Krankheit definieren. Die Krankheit ist es, was sich auf­drängt, als das Störende, das Gefährliche, mit dem es fertig­zuwerden gilt. So paßt es recht gut zu der großen Auf­bruchsstimmung, unter der sich die moderne Wissenschaft zu Beginn der Neuzeit sei dem 17. Jahrhundert befunden hat, daß sich im deutschen Denken der Begriff des »Gegen­standes« durchgesetzt hat. Das Wort ist vielsagend. »Ge­genstand« ist das, was Widerstand leistet, was sich dem na­turhaften Drang und der Einfügung in das Lebensgeschehen widersetzt. Wir rühmen das an der Wissenschaft als ihre Objektivierungsleistung, durch die sie zur Erkenntnis ge­langt. Dabei steht das Messen und das Wägen allem voran. Wir können uns nie ganz davon freimachen, daß es zunächst eine Bezwingung der Krankheitserscheinungen ist, auf die unsere wissenschaftliche und medizinische Erfahrung ge­richtet ist. Es geht sozusagen um eine Bezwingung der Na­tur, wo Krankheit auftritt. Es kommt darauf an, daß man die Krankheit beherrscht.

Durch die moderne Wissenschaft wird die Natur mit Hilfe des Experiments zu Antworten gezwungen. Die Natur wird gleichsam gefoltert. Das entstammt dem großen Auf­trieb des 17. Jahrhunderts, sich von überlebten Vorurteilen zu befreien und sich nach allen Richtungen zu neuen Erfah­rungen aufzumachen. Man sollte sich klarmachen: Das Wort »Ganzheit«, das heute so oft gebraucht wird, ist nicht zufällig eine sehr junge Wortbildung. Man kann das Wort noch nicht in den Lexika des 19. Jahrhunderts finden. Da mußte sich zuvor der Methodengedanke der mathematisch-experimentellen Wissenschaft in der Heilkunst so weit durchgesetzt haben, daß man sich in dem Labyrinth der Spezialisierungen wie verirrt vorkommen konnte und die Orientierung im ganzen vermißte. Wir stehen alle unter dem Antrieb unserer eigenen methodischen Selbstgewißheit und Selbstvergewisserung, die mit Wissenschaftlichkeit und Objektivität verbunden ist. Man soll nur nicht glauben, daß wir diesem Gesetz einfach den Rücken kehren können. Wenn wir hier zusammen sind, hoffe ich, daß wir alle es mit einer Aufgabe zu tun haben, die einen jeden, der die Wis­senschaft ernst nimmt, und gerade dann, unter die Parole der Ganzheit stellt. Sie gilt für jeden einzelnen Arzt, jeden einzelnen Patienten und noch mehr für all diejenigen, die nicht erst Patient zu werden wünschen — und das sind wir am Ende alle. Wir müssen uns leider eingestehen, daß dem Fortschritt der Wissenschaft der Rückschritt der allgemei­nen Gesundheitspflege und der Prävention auf dem Fuß ge­folgt ist.

So viel ist jedenfalls klar – der Begriff der »Ganzheit« ist ein kunstvoller Ausdruck -, der durch seinen Gegenbegriff, die »Spezialisierung«, notwendig und vielsagend geworden ist. Spezialisierung ist der unaufhaltsame Zug der modernen Wissenschaft und aller ihrer Verfahren. Das Gesetz der Spe­zialisierung ist, wie wir alle wissen, durchaus nicht auf die Entwicklung der medizinischen Wissenschaft und Praxis allein beschränkt. In allen Disziplinen der wissenschaftlichen Forschung stehen wir vielmehr vor der gleichen Situation, die durch die methodische Abschottung aller wissenschaft­lichen Objektbereiche herbeigeführt wird und uns zu inter­disziplinärer Bemühung nötigt. Gebiete, die man mit den Mitteln methodischer Verifikation überhaupt nicht beherr­schen kann, definieren wir sogar als Grauzonen, und mit diesem Begriff bezeichnen wir durchaus nicht nur solche Dinge, die offenkundig Narretei sind. Da haben wir zum Beispiel die Astrologie. Ob wirklich jemand erklären kann, wieso man so erstaunliche Aussagen über Menschenschick­sale auf Grund von Horoskopen machen kann, die sich be­wahrheiten? Da mag man skeptisch sein. Da kann einer gleichwohl seine Erfahrungen machen. Aber jedenfalls kann man sich das nicht erklären. In Wahrheit gibt es un­zählige Beispiele, in denen die Wissenschaft nicht sagen kann, was ein bestimmtes Verfahren in der Praxis leistet. Seit langem kennen wir etwa die Homöopathie als eines die­ser Gebiete. Es waren sogar die wohlmeinenden unter den skeptischen Klinikern, die sie »Oudenopathie«[1] nannten und meinten, daß durch diese Medikamente geringer ho­möopathischer Dosen in Wahrheit überhaupt keine Wir­kung ausgeübt werde und sie sich nur deshalb in der Erfah­rung bewähren, weil sie gegen den Mißbrauch chemischer Medikamente eine geradezu vorzügliche Heilwirkung aus­üben.

Die Grundtatsache bleibt, daß die Krankheit und nicht die Gesundheit das sich selbst Objektivierende, d. h. sich Ent­gegenwerfende, kurz, das Aufdringliche ist. Beinahe hätte ich gesagt, daß sie ihrem Wesen nach ein »Fall« ist. So sagt man ja auch wirklich, daß etwas ein Krankheitsfall ist. Was heißt Fall? Der Gebrauch des Wortes kommt ohne Zweifel von dem Würfelspiel. Fall heißt also, was im Würfelspiel des Lebens einem zufällt. Von da ist das Wort in die Gram­matik und ihre Lehre von der Deklination eingedrungen und bezeichnet die Rolle, die einem Hauptwort im Satzzu­sammenhang zufällt (Fall heißt griechisch ptosis, lateinisch casus). So ist es auch mit der Krankheit, daß sie wie ein Zu­fall ist. Das griechische Wort »Symptom« heißt eigentlich Zufall und ist auch im Griechischen schon für die Auffällig­keiten einer Krankheit gebraucht. Es bezeichnet das, was bei einer Krankheit in der Regel mit auffällt. Wieder wird uns hier beschäftigen, daß das eigentliche Geheimnis in der Verborgenheit der Gesundheit liegt. Sie bietet sich nicht selbst an. Natürlich kann man auch Standardwerte für die Gesundheit festlegen. Wenn man aber etwa einem gesunden Menschen diese Standardwerte aufzwingen wollte, würde man ihn eher krank machen. Es liegt eben im Wesen der Gesundheit, daß sie sich in ihren eigenen Maßen selbst er­hält. Die Gesundheit läßt sich Standardwerte, die man auf Grund von Durchschnittserfahrungen an den Einzelfall heranträgt, als etwas Ungemäßes nicht aufzwingen.

Mit Absicht gebrauche ich den Ausdruck »ungemäß«, um bewußt zu machen, daß Regelanwendungen auf Grund von Meßwerten nicht natürlich sind. Messungen, ihre Maßstäbe und die Maßverfahren bedienen sich einer Konvention, in deren Gefolge wir an die Dinge herantreten und sie der Mes­sung unterwerfen. Aber es gibt auch ein natürliches Maß, das die Dinge in sich selbst haben. Wenn man Gesundheit in Wahrheit nicht messen kann, so eben deswegen, weil sie ein Zustand der inneren Angemessenheit und der Übereinstim­mung mit sich selbst ist, die man nicht durch eine andere Kontrolle überbieten kann. Deshalb bleibt die Frage an den Patienten sinnvoll, ob er sich krank fühlt. Man hat den Ein­druck, daß im Können des großen Arztes oft Faktoren ihrer geheimsten Lebenserfahrung im Spiel sind. Es ist nicht allein der wissenschaftliche Fortschritt der klinischen Medizin oder das Eindringen chemischer Methoden in die Biologie, was den großen Arzt ausmacht. Das sind alles Fortschritte der Forschung, die es möglich machen, die Grenzen ärztli­cher Hilfe zu erweitern, vor denen man ehedem hilflos stand. Zur Heilkunst gehört aber nicht nur die erfolgreiche Krankheitsbekämpfung, sondern auch die Rekonvaleszenz, und am Ende die Gesundheitspflege.

Wieder möchte ich an einem Sprachgebrauch erläutern, wie die innere Angemessenheit, die innere Übereinstimmung, die man nicht messen kann, überall mitgedacht ist. Man er­wartet von dem Arzt, daß er seinen Patienten »behandelt«. »Behandeln« heißt palpare, d. h. mit der Hand (der palpa) am Leibe des Kranken vorsichtig und feinfühlig tasten, da­mit man Spannungen und Verspannungen bemerkt, die vielleicht die subjektive Lokalisierung des Patienten bestäti­gen oder korrigieren, die man Schmerz nennt. Die Funktion des Schmerzes im Leben ist, daß die subjektive Empfindung auf eine Störung in dem gefügten Ausgleich der Lebensbe­wegung hinweist, in der Gesundheit besteht. Man kennt ja das Problem – vor allem beim Zahnarzt –, wie schwer es ist, einen Schmerz zu lokalisieren. Man kann daher den Schmerz, zum Beispiel auch einfach durch die Hand, sogar »ableiten«. Jedenfalls bleibt das Tun des Arztes eine wahre Kunst, wenn einer das kann.

Es gibt eine berühmte Geschichte von dem großen Krehl, dessen Name jedem Heidelberger Mediziner wie ein My­thos vertraut klingt. Die Geschichte ist auch wahr wie ein Mythos. Da wurde 1920 das elektrische Hörrohr einge­führt, und Krehl wurde von seinen Studenten gefragt, ob das nun besser sei. Er sagte: »Tja, die alten Hörrohre waren schon besser fürs Hören. Aber ob Ihre Autorität ausreicht, kann ich nicht beurteilen.« Mit der Palpatio ist es auch so. Wer das wirklich kann, der spürt etwas, und jeder gute Arzt muß versuchen, es zu lernen.

Ich gebe zu, daß es ein wenig kathederhaft gelehrt klingt, wenn man überhaupt bei »Behandlung« an die Hand den­ken soll. Aber Kathederweisheit ist nicht immer Unsinn. Es ist manchmal ganz vernünftig, auch so etwas zu wissen. Fahren wir also fort, nachdem die Herkunft des Wortes Pal­patio klar ist, zu fragen: Was ist eigentlich »behandeln«? Wieder weist der Sprachgebrauch weit über die ärztliche Si­tuation hinaus. Wir behandeln einander ja auch, ohne daß wir Ärzte sind – manchmal gut, manchmal schlecht. Was tun wir denn da eigentlich? Was ist damit gemeint? Offen­bar besteht die Aufgabe darin, einen »richtig« zu behan­deln. Heißt das, daß wir da eine Norm erfüllen oder eine Regel befolgen? Eher schon meine ich, daß wir den anderen richtig ansprechen, ihn nicht vergewaltigen, ihm nicht irgend etwas aufdrängen oder aufzwingen, zum Beispiel ein Maß oder eine Vorschrift. Ob es die Normierung durch die mo­dernen Meßgeräte ist oder der Erziehungsdespotismus einer Schulbehörde oder die Autoritätswütigkeit eines Lehrers oder eines Vaters, all dem gegenüber gilt es, den anderen in seinem Anderssein anzuerkennen. Nur dann wird man ihn ein wenig anleiten können, so daß er seine eigenen, ihm ei­genen Wege zu finden weiß. Behandlung enthält immer zu­gleich Freigabe und besteht nicht nur darin, Vorschriften zu machen oder Rezepte zu schreiben. Dem Arzt ist es ja im Grunde klar, wenn es heißt: Der und der ist in meiner Behandlung. Das meint eine gewisse Verantwortung, aber auch eine gewisse freigebende Fürsorge. Kein Arzt dürfte jedenfalls so vermessen sein, den Patienten beherrschen zu wollen. Er soll ihm raten und ihm helfen, wenn er kann, und weiß doch, daß der Patient nur, bis er wiederhergestellt ist, in seiner Behandlung ist.

Jede Behandlung dient der Natur, der aus dem Griechischen kommende Ausdruck »Therapie« heißt Dienst. Auch das bedarf einer Art des Könnens, die sich nicht nur gegen die Krankheit bewährt, sondern die gerade auch dem Kranken selbst gilt. So liegt in aller Behandlung Vorsicht und Rück­sicht. Der Arzt muß Vertrauen zu seinem Können einflößen, aber er darf nicht die Autorität spielen, wenn er Autorität haben will. Die Chirurgen sind einem deshalb manchmal so unheimlich, wenn sie sagen: »Das machen wir weg.« Man kann die Redeweise verstehen, weil die moderne Chirurgie tatsächlich wie ein hochgetriebenes Kunsthandwerk betrie­ben wird. Und doch weiß der Arzt, daß er es mit einem menschlichen Organismus zu tun hat, und gerade der Chir­urg muß bedenken, daß es manchmal um Leben und Tod geht. Alles in allem bleibt es eben dabei, daß die eigentliche Leistung des Arztes nicht ist, etwas zu machen. Er kann gewisse Steuerungsbeiträge zur Gesundheit, zum Gesund­werden beitragen. Aber was ist nun eigentlich die Gesund­heit, dieses geheimnisvolle Etwas, das wir alle kennen und irgendwie gerade gar nicht kennen, weil es so wunderbar ist, gesund zu sein?

Ich habe am Begriff Behandlung deutlich zu machen ge­sucht, was da vom Arzt eigentlich verlangt wird. Jedenfalls bedeutet es nicht, das Leben eines Menschen zu beherr­schen. Zwar ist ein Lieblingsausdruck in der modernen Welt, daß man etwas beherrscht, zum Beispiel eine fremde Sprache, oder in der modernen Medizin, daß man eine Krankheit beherrscht. Das ist gewiß ganz korrekt ausge­drückt. Es gilt freilich immer nur mit einer Einschränkung. Es gibt überall Grenzen. So sagen wir es wohl mit Recht, wenn wir etwas Regelgerechtes tun: »Das können wir schon.« Aber am Ende geht es doch um mehr. Es ist doch nicht nur ein Krankheitsfall. Daher ist es gar nicht so über­wältigend komisch – und gräßlich genug –, daß man heute, wenn man in eine Klinik kommt, seinen ehrlichen Namen verliert und eine Nummer bekommt. Es hat seine Logik. Man muß in eine bestimmte Abteilung dirigiert werden. Denn man geht ja in die Klinik zur Untersuchung. Am Schluß darf man erfahren, daß man ein Fall von etwas ist. Alle diese vorbereitenden Beschreibungen verweilen nicht zufällig bei den Erfahrungen, die man als Kranker macht. Unser eigentliches Thema heißt aber: »Die Verborgenheit der Gesundheit«. Noch immer visieren wir dieses Thema vom Gegenteil aus an. Selbst wenn man sagt, es sei gelun­gen, die Krankheit zu beherrschen, hat sich am Ende die Krankheit schon von der Person getrennt und wird wie ein Eigenwesen behandelt, mit dem wir fertigwerden müssen. Das hat sogar besonderen Sinn, wenn wir in großen Maßstä­ben denken, etwa an die großen Seuchen, deren Beherr­schung der neuzeitlichen Medizin so weitgehend gelungen ist. Dabei wissen wir gleichwohl, daß solche Seuchen immer wieder viele einzelne Kranke sind, die ihr zum Opfer fallen. Gleichwohl sind sie wie ein eigenes Lebewesen. Die Men­schen müssen versuchen, ihren Widerstand zu brechen, auch wenn am Ende wieder neue Angriffskräfte der Natur anderswo auftauchen. Am Ende unserer Überlegungen wird herauskommen, daß Gesundheit immer in einem Ho­rizont von Störung und Gefährdung steht.

Aber jede einzelne Krankheit hat ein besonderes Gegen­über, zumal da in einem jeden die besonderen Fehlerquellen denkender Wesen hineinspielen. Man fühlt sich nicht recht. Man bildet sich etwas ein. Wer in seinem Beruf auf Schwie­rigkeiten stößt, der kennt das bald, daß sich dann alle mögli­chen somatischen Störungen zeigen, weil die Arbeit nicht recht vorangeht. Hier in Heidelberg ist die Psychosomatik nicht ganz unbekannt, und sie mag immerhin ein allgemei­nes Verdienst darin haben, daß der Arzt mehr und mehr sich dessen bewußt ist, wie sehr er von der Mitarbeit des Patien­ten abhängt und wie die bewährtesten Wirkungsweisen im­mer wieder von individuellen Faktoren abhängen, die einen überraschen.

Es ist nicht meine Sache, über Dinge zu sprechen, die andere besser aus eigener Erfahrung kennen. In Wahrheit ist aber die Medizin nur einer der Aspekte des gesellschaftlichen Le­bens, das durch die Wissenschaft, Rationalisierung, Auto­matisierung und Spezialisierung uns Probleme stellt. Vor allem die Spezialisierung ist aus sachlichen Notwendigkei­ten heraus geboten – wo sie jedoch zu festgefahrenen Ge­wohnheiten erstarrt, wird sie zugleich auch zu einem Pro­blem. Die Entwicklung solcher Verfestigungen hat in der menschlichen Natur ihre Wurzeln. Aber es hat in der Wis­senschaftskultur der Neuzeit zu Lebensformen geführt, die das Leben des einzelnen in weitem Umfange automatisie­ren.

Welche Möglichkeiten haben wir dann eigentlich, wenn es sich um Gesundheit handelt? Es liegt ganz unzweifelhaft in der Lebendigkeit unserer Natur, daß die Bewußtheit sich von sich selbst zurückhält, so daß Gesundheit sich verbirgt. Trotz aller Verborgenheit kommt sie aber in einer Art Wohl­gefühl zutage, und mehr noch darin, daß wir vor lauter Wohlgefühl unternehmungsfreudig, erkenntnisoffen und selbstvergessen sind und selbst Strapazen und Anstrengun­gen kaum spüren – das ist Gesundheit. Sie besteht nicht darin, daß man sich in den eigenen schwankenden Befind­lichkeiten immer mehr um sich sorgt oder gar Unlustpillen schluckt.

Die Störung der Gesundheit ist es, die die Behandlung durch den Arzt nötig macht. Zu einer Behandlung gehört das Gespräch. Es beherrscht die entscheidende Dimension allen ärztlichen Tuns, nicht nur bei den Psychiatern. Das Gespräch trägt die Humanisierung der Beziehung zwischen fundamental Ungleichen, zwischen dem Arzt und dem Pa­tienten. Solche ungleichen Beziehungen gehören zu den schwersten Aufgaben zwischen Menschen. Der Vater und der Sohn. Die Mutter und die Tochter. Der Lehrer, der Ju­rist, der Seelsorger, kurz: der Fachmann. Aber damit ist ein jeder von uns wohl vertraut, wieviel dazu gehört, daß man sich versteht!

Man mache es sich nur bewußt, daß es zwar sinnvoll ist zu fragen: »Fühlen Sie sich krank?« Aber es wäre fast lächer­lich, wenn einer einen fragte: »Fühlen Sie sich gesund?« Ge­sundheit ist eben überhaupt nicht ein Sich-Fühlen, sondern ist Da-Sein, In-der-Welt-Sein, Mit-den-Menschen-Sein, von den eigenen Aufgaben des Lebens tätig oder freudig er­füllt sein. Versuchen wir es gleichwohl, die Gegenerfahrun­gen aufzusuchen, an denen das Verborgene sich zeigt. Aber was bleibt denn dort, wenn man zwar mißt, aber wenn man alles Gemessene einer kritischen Prüfung unterwerfen muß, weil die Standardwerte im Einzelfall in die Irre führen kön­nen? Wieder deutet das Sprachliche in eine wichtige Rich­tung. Wir hatten gesehen, daß Gegenstand, Widerstand und Objektivierung eng zusammengehören, weil es eben die Aufsässigkeiten sind, die sich in der menschlichen Lebens­erfahrung aufdrängen. Am anschaulichsten ist es daher, sich die Gesundheit als einen Gleichgewichtszustand zu denken. Gleichgewicht ist wie Gewichtslosigkeit, da sich die Ge­wichte gegeneinander ausspielen. Störung von Gleichge­wicht kann nur durch Gegengewichtung behoben werden. Durch jeden Versuch, eine Störung durch Gegengewich­tung auszugleichen, droht jedoch schon ein neuer umge­kehrter Gleichgewichtsverlust. Man erinnere sich, wie es war, als man zum ersten Mal auf ein Zweirad stieg. Mit wel­cher Kraftanstrengung packte man da die Lenkstange an, um nur ja recht gegenzusteuern, wenn das Ding sich neigte, und schon lag man auf der anderen Seite.

Die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts ist daher ein höchst lehrreiches Modell für unser Thema, weil es die Ge­fährlichkeit aller Eingriffe anzeigt. Es droht immer, daß man zuviel tut. Da gibt es eine schöne Stelle in Rilkes Duineser Elegien: »Wie das ständige Zuwenig umspringt in das leere Zuviel.« Das ist eine sehr gute Beschreibung, wie ein Gleichgewicht durch Forciertheit, durch übermäßigen Ein­satz, verlorengeht. Gesundheitspflege wie bewußte medizi­nische Behandlungsweise ist von solcher Erfahrung be­herrscht. Das mahnt zur Scheu vor unnötiger Anwendung von Medikamenten, weil es so enorm schwierig ist, auch für diese Art von Eingriff den richtigen Augenblick und die richtige Dosis zu treffen. So nähern wir uns mehr und mehr dem, was Gesundheit eigentlich ist. Sie ist die Rhythmik des Lebens, ein ständiger Vorgang, in dem sich immer wieder Gleichgewicht stabilisiert. Wir kennen es alle. Da ist der Atem, da ist der Stoffwechsel, da ist der Schlaf. Das sind drei rhythmische Phänomene, deren Ablauf Lebendigkeit, Erfrischung und Energieaufbau bewirkt. Man muß nicht ein so unmäßiger Leser sein, wie Aristoteles gewesen sein soll, der gesagt hat: »Man geht spazieren – um der Verdau­ung willen.« Man kann ja auch aus anderen Gründen oder ohne Grund Spazierengehen. Aber so war Aristoteles. Man erzählte von ihm, daß er an den Abenden ständig las. Um nicht einzuschlafen, hielt er eine metallene Kugel in der Hand, unter der ein Metallbecken stand. Wenn er ein­schlief, weckte ihn die Kugel wieder auf, und er las wei­ter.

Nun, in Wahrheit sind diese rhythmischen Funktionen nicht wirklich beherrschbar, sie geschehen mit uns. Beim Schlafen geht es besonders geheimnisvoll zu. Es ist doch eines unserer größten Rätsel für unsere menschliche Le­benserfahrung. Die Tiefe des Schlafes, das plötzliche Erwa­chen, der Verlust des Zeitsinnes, so daß man nicht weiß, ob man Stunden geschlafen hat oder eine ganze Nacht. Das sind Sonderbarkeiten. Das Einschlafen ist vielleicht die ge­nialste Erfindung der Natur oder Gottes – dieses Wegdäm­mern, so daß man nie sagen kann: »Jetzt schlafe ich.« Schwieriger ist das Erwachen, wenigstens bei der unnatür­lichen Lebensweise in unserer Zivilisation, wo einem das Erwachen schwer wird. Gleichwohl sind es rhythmische Erfahrungen, die uns eigentlich tragen. Sie haben wenig Ähnlichkeit damit, daß man Tabletten nimmt und bewußt auf diese Dinge einwirken will.

Man könnte all diese Beobachtungen weiter ausspinnen, um in der Verborgenheit der Gesundheit das Geheimnis unse­rer Lebendigkeit zu erkennen. Wie das Leben ist, so rührt es auch an den Tod. Gerade der Arzt ist mit dieser Doppel­wendigkeit unseres Daseins als der Wissende konfrontiert. So schwören alle Ärzte den hippokratischen Eid. Man weiß, worum es geht. Aber man weiß auch, wieviel die Daseinsapparatur unserer Zivilisation, die Erfahrung des Todes und die Probleme der Sterbensverlängerung dem Arzt auf das Gewissen legen. Bei Plato heißt es einmal, man könne nur den Leib nicht heilen, ohne die Seele – mehr noch, nicht ohne die Natur des Ganzen zu kennen. Das meint nicht Ganzheit im Sinne einer methodischen Parole, sondern die Einheit des Seins selbst. Es ist das Ganze von den Sternen­bewegungen über die Witterung, über die Wasserbedingun­gen und die Beschaffenheiten der Acker und Wälder, das die Natur des Menschen in seinem Befinden und in seiner Ge­fährdung umschließt. Medizin scheint eine wahre Univer­salwissenschaft, insbesondere, wenn man dieses Ganze noch um das Ganze unserer gesellschaftlichen Welt erwei­tert.

Aber vielleicht kann ein berühmtes Wort von Heraklit un­sere Gedanken zum Thema noch einmal sammeln. Das Wort lautet: »Die verborgene Harmonie ist immer stärker als die offenkundige.« Ein Satz, der sofort einleuchtet, und doch vieles nicht sagt. Man denkt sofort an das Beseligende der Harmonie in der Musik, an die beglückende Auflösung von Tonverwicklungen oder an die plötzliche Erfüllung ei­nes Gedankenerlebnisses. Erst recht aber leuchtet der Satz ein, wenn man an die Harmonie der Säfte denkt, wie die antike Medizin das nannte. Eben die Harmonie der Ge­sundheit beweist ihre eigentliche Stärke darin, daß sie einen nicht benommen macht, wie etwa der bohrende Schmerz oder der lähmende Wahn des Rausches, die in Wahrheit Störung anzeigen oder bewirken.

Ich komme zum Schluß. Der Philosoph hat immer die Auf­gabe, von den konkreten Dingen wegzuführen und doch ins Bewußtsein zu heben, was am Ende etwas klarmacht. So mag auch hier klargeworden sein, wie jede medizinische Behandlung mit der Parole der Ganzheit zusammenhängt. Es handelt sich nicht um die bloße Übereinstimmung von Ur­sache und Wirkung, von Eingriff und Erfolg, sondern um eine verborgene Harmonie, um deren Wiedergewinnung es geht, und in der schließlich das Wunder der Rekonvales­zenz und das Geheimnis der Gesundheit liegt. Sie bedeutet Geborgenheit.

So möchte ich mit der Behauptung schließen: Zwar leben die Menschen wie alle lebenden Wesen in der Verteidigung gegen die ständigen und bedrohenden Angriffe auf ihre Ge­sundheit. Das ganze Schleimhautsystem des menschlichen Organismus ist wie eine Riesenschleuse, die das abfängt, was uns mit Schädlingen sonst überfluten würde. Dennoch sind wir nicht in einer ständigen Abwehrhaltung. Wir sind selber Natur, und es ist die Natur in uns, die mit dem ab­wehrbereiten, in sich gefügten organischen System unseres Leibes zugleich unser »inneres« Gleichgewicht zu halten weiß. Es ist ein einziges Ineinander der Lebendigkeit. Ge­gen die Natur kann man nur sein, wenn man Natur ist und wenn die Natur mit uns ist. So sollten wir nie vergessen, daß der Kranke wie der Arzt sich miteinander darin vereinigen, der Natur die Ehre zu geben, wenn uns Heilung zuteil wird.

Vortrag, gehalten 1990 anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Arbeitskreises Ganzheitsmedizin der Universität Heidelberg.

Quelle: Erfahrungsheilkunde 40 (1991), Heft 11, S. 804-808.


[1] Ouden: aus dem Griechischen: »nichts«, hier im Sinne von: überhaupt nichts tun.

Hier der Text als pdf.

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