Hans Jonas, Techniken des Todesaufschubs und das Recht zu sterben (The Right to Die, 1978): „Zur Verteidigung des Rechtes zu sterben muss daher die wirkliche Berufung der Medizin neu bejaht werden, um sowohl Arzt wie Patienten aus ihrer jetzigen Knechtschaft zu befreien. Das neuartige Phänomen von Patientenohnmacht gekoppelt mit der Macht todesverzögernder Techniken unter öffentlicher Obhut verlangt eine solche Wiederbejahung. Nun läßt sich, so glaube ich, Einhelligkeit darüber erzielen, daß die Treuhandschaft der Medizin es mit der Ganzheit des Lebens zu tun hat.“

Techniken des Todesaufschubs und das Recht zu sterben (The Right to Die)

Von Hans Jonas

Die erste Reaktion auf den Titel dieser Untersuchung sollte Erstaunen sein. »Das Recht zu sterben«: Was für eine seltsame Verbindung von Worten! Wie sonderbar, daß wir heutzutage von einem Recht zu sterben sprechen sollen, wenn seit je alles Reden von Rechten überhaupt auf das fundamentalste aller Rechte: das Recht zu leben, rückbezo­gen war. In der Tat, jedes sonstige Recht, das je erwogen, verlangt, gewährt oder versagt worden ist, kann als eine Ausdehnung dieses Primärrechtes angesehen werden, da jedes besondere Recht die Betätigung irgendeines Lebens­vermögens, den Zugang zu irgendeinem Lebensbedarf, die Befriedigung irgendeiner Lebensbestrebung betrifft.

Leben selbst existiert nicht kraft eines Rechtes, sondern kraft Naturentscheids: Daß ich lebend da bin, ist eine schiere Tatsache, deren einzige natürliche Ermächtigung die Ausstattung mit den angeborenen Fähigkeiten der Selbster­haltung ist. Aber unter Menschen bedarf die Tatsache, ist sie erst einmal da, der Sanktion eines Rechtes, denn leben heißt Anforderungen an die Umwelt stellen und hängt daher davon ab, daß diese ihnen stattgibt. Insofern die Umwelt die menschliche ist und das Stattgeben, das sie gewährt, ein Element des Willens enthält, läuft solch ein summarisches Gewähren, wie es allem Gemeinschaftsleben zugrunde liegt, auf die implizite Zuerkennung des Lebensrechtes des einzel­nen durch die vielen hinaus und natürlich auf dieselbe Zuerkennung durch ihn an alle anderen. Dies ist der Keim aller Rechtsordnung. Jedes weitere Recht, ob gleich oder ungleich verteilt, im Naturrecht oder positiven Recht, leitet sich von diesem Urrecht ab und von seiner gegenseitigen Anerkennung durch seine Subjekte. Mit Recht wird daher »Leben« zuerst unter den »unveräußerlichen Rechten« in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung genannt. Und wahrlich, die Menschheit hatte jederzeit (und hat noch heute) genug zu tun mit dem Entdecken, Definieren, Verfechten, Erlangen und Beschützen der mannigfachen Rechte, in denen das Recht zum Leben sich besondert.

Wie höchst merkwürdig ist es dann, daß wir uns neuer­dings mit der Frage eines Rechtes zum Sterben befaßt finden! Um so merkwürdiger, als Rechte gemeinhin zur Förderung eines Gutes gesucht werden und der Tod als Übel gilt oder bestenfalls als etwas, worein man sich schicken muß. Und noch merkwürdiger, wenn man bedenkt, daß wir mit dem Tode keine Anforderung an die Welt stellen, wo denn die Frage eines Rechtes darauf sich erheben kann, sondern im Gegenteil jeden möglichen Anspruch aufgeben. Wie kann da auch nur die Idee von »Recht«, worin sich immer mehrere treffen müssen, Anwendung finden?

Wie aber, wenn durch besondere Umstände mein Sterben oder Nichtsterben in den Bereich der Wahl tritt; und wenn außer einem Recht zu leben auch eine Pflicht zu leben für mich statuierbar wäre? Dann könnten andere (in Form der »Gesellschaft«) nicht nur eine Pflicht gegenüber meinem Recht-zu-leben haben, sondern auch ein Recht, meine Pflicht-zu-leben gegen mich selbst geltend zu machen und z. B. mich daran zu hindern, früher zu sterben als ich muß, selbst wenn ich es will. Kurz, wie ist es, wenn das Sterben eines Menschenwesens unter menschliche Kontrolle kommt und seine eigene Stimme (wenn es die des Todeswunsches ist) vielleicht nicht die einzige ist, die dabei gehört werden muß? Dann wird ein »Recht zu sterben« eine reale, prüfungswürdige und umstreitbare Angelegenheit. Die war es in der Tat schon immer für Religion und Moral in Sachen des Selbstmordes (»Freitod«), bei dem das Element der Wahl am klarsten vorliegt; und in manchen Rechtsordnungen auch für das öffentliche Gesetz, das ein hinderndes Eingreifen in diesen privatesten aller Akte gutheißt, wenn nicht gar gebietet (und Beihilfe verbietet), ja, so weit gehen kann, den Selbstmord strafrechtlich geradehin zum Verbrechen zu machen. Dies wäre die eindeutigste Verneinung eines anruf­baren Rechtes zu sterben. Aber nicht mit dem Selbstmord, der Tat eines aktiven Subjektes, hat es das heute die Gemüter bewegende »Recht zu sterben« zu tun, sondern mit der Situation des todkranken Patienten, der passiv den todver­zögernden Techniken der modernen Medizin ausgesetzt ist. Obwohl gewisse Aspekte der Ethik des Selbstmordes auch in diese Frage hineinragen, so erlaubt uns doch das Vorliegen der tödlichen Krankheit als der eigentlichen Sterbensursa­che, einen Unterschied zu machen zwischen Dem-Tod-nicht-Widerstehen und Sich-Töten, ebenso wie zwischen Sterbenlassen und Den-Tod-Verursachen.

Das neuartige Problem ist dieses: Moderne medizinische Technologie, selbst wo sie nicht heilen oder lindern oder eine zusätzliche, wie immer kurze Frist lohnenden Lebens erkau­fen kann, vermag doch vielfach das Ende jenseits des Punktes hinauszuzögern, wo das so verlängerte Leben dem Patienten selbst noch wert ist, ja, wo er überhaupt noch werten kann. Dies bezeichnet in der Regel (von Chirurgie abgesehen) ein therapeutisches Stadium, in dem die Grenz­linie zwischen Leben und Tod gänzlich zusammenfällt mit der zwischen Fortsetzung und Abbruch der Behandlung: m.a.W. wo die Behandlung nichts anderes tut als den Organismus in Gang halten, ohne den Zustand in irgendei­nem Sinne zu verbessern (von Heilung ganz zu schweigen). Es wird nur der Tod durch Verlängerung des bestehenden Leidens- oder Minimalzustandes hinausgeschoben. Dieser Fall des hoffnungslos leidenden Patienten ist nur das Extrem in einem Spektrum ärztlicher Kunst, welche – im Verein mit der Anstaltsmacht des Krankenhauses und gestützt vom Gesetz – Situationen schafft, wo es fraglich wird, ob die Eigenrechte des (typisch machtlosen und irgendwie »gefan­genen«) Patienten gewahrt oder verletzt werden, und darun­ter würde ein Recht zu sterben sein. Ferner, wenn Behand­lung permanent identisch wird mit am Leben Erhalten, erhebt sich für Arzt und Hospital das Gespenst des Tötens durch Abbruch der Behandlung, für den Patienten das des Selbstmordes mit dem Verlangen nach dem Abbruch, für andere das der Mitschuld am einen oder anderen mit barmherziger Zulassung. Diesen Aspekt der Sache, der ihre rein ethische Auflösung mit juristischen Zwängen und Befürchtungen versetzt, lassen wir für später. Was die Rechte des Patienten betrifft, so scheint mit den angezeigten medizinischen Entwicklungen in der Tat ein neuartiges »Recht zu sterben« auf den Plan getreten zu sein; und wegen der neuartigen, lediglich »in Gang haltenden« Behandlungs­typen fällt dies Recht offenbar unter das allgemeine Recht, Behandlung überhaupt entweder anzunehmen oder abzuleh­nen. Wir wollen zuerst dies weitere und kaum bestrittene Recht erörtern, welches im Ablehnungsfälle stets, obschon meist in nicht so direkter Form, auch den Tod als ein mögliches und vielleicht sicheres Ergebnis seiner Wahl einschließt. Hierbei, wie in unserer ganzen Betrachtung, werden wir zwischen legalen und moralischen Rechten (und ebenfalls Pflichten) zu unterscheiden haben.

Das Recht, Behandlung abzulehnen

Legal besteht in einer freien Gesellschaft keine Frage, daß jeder (ausgenommen Minderjährige und Geisteskranke) gänzlich frei darin ist, ärztlichen Rat und Behandlung für jederlei Krankheit zu suchen oder nicht zu suchen, und ebenso frei darin, von einer Behandlung jederzeit (außer inmitten einer kritischen Phase) zurückzutreten.[1] Die ein­zige Ausnahme ist eine Krankheit, die eine Gefahr für andere darstellt, wie es ansteckende Krankheiten und gewisse Geistesstörungen tun: da können Behandlung und Isolierung, auch vorbeugende Maßnahmen wie Impfung, obligatorisch gemacht werden. Ohne eine derartige direkte Implikation des öffentlichen Interesses ist meine Krankheit oder Gesundheit gänzlich meine Privatangelegenheit, und ich miete ärztliche Dienste in freiem Vertrag. Dies ist, so glaube ich, die legale Lage hier und allgemein in jedem nicht­totalitären Staat.

Moralisch ist die Sache nicht so eindeutig. Ich kann Verantwortungen für andere haben, deren Wohlfahrt von meiner abhängt, z. B. als Versorger einer Familie, als Mutter kleiner Kinder, als maßgeblicher Träger einer öffentlichen Aufgabe, und solche Verantwortungen beschränken zwar nicht legal, aber sittlich meine Freiheit, ärztliche Hille abzulehnen. Es sind dies dem Wesen nach dieselben Rück­sichten wie die, welche auch mein Recht zum Selbstmord sittlich beschränken, selbst wenn hierin kein religiöses Verbot für mich mehr zählt. Bei gewissen Arten von Behandlung, wie der Dialysemaschine für Nierenversagen, kommt die Ablehnung im Ergebnis dem Selbstmord gleich. Dennoch besteht da ein bedeutsamer Unterschied zu dem »Hand an sich selbst legen«, d. h. sich gewaltsam umbrin­gen : Andere, einschließlich öffentlicher Gewalten, in der Tat jeder Umstehende, haben das Recht (weithin sogar als Pflicht betrachtet), einen aktiven Selbstmordversuch durch rechtzeitige Intervention zu vereiteln, die nicht einmal Gewalt ausschließt. Zugegebenermaßen ist dies eine Einmi­schung in die privateste Freiheit des Subjekts, aber nur eine momentane und auf längere Sicht ein Akt im Namen eben jener Freiheit. Denn sie stellt nur den Status quo eines freien Tatsubjekts wieder her mit der Gelegenheit zu neuem Überdenken, in dem er oder sie revidieren kann, was vielleicht die Eingebung eines verzweifelten Augenblicks war – oder darin beharren kann. Der Beharrlichkeit wird es am Ende doch gelingen, und nur die etwaige Voreiligkeit wurde verhindert. Die zeitgebundene Intervention behan­delt den zeitgebundenen Akt wie einen Unfall, von dem gerettet zu werden, selbst gegen seinen Willen, als des Opfers eigener dauerhafterer, nur zeitweise überschatteter Wunsch angenommen werden kann (und sich als solcher manchmal eben durch die unvollkommene Geheimhaltung des Versuchs verrät, wodurch ja die Intervention erst möglich wurde). Der Gerettete hat es in der Hand, diese Imputation zu widerlegen. Der entschlossene Selbstmörder behält immer das letzte Wort. Ich erörtere hier nicht die Ethik des Freitodes selbst, sondern nur die Rechte (oder Pflichten) anderer, darin einzugreifen. Und da zählt in unserer gegenwärtigen Erörterung eben dies, daß Gegenge­waltsamkeit im Augenblick selbstmörderischer Gewaltsam­keit die Person nicht zum Weiterleben zwängt, sondern nur die Frage für sie wieder offenstellt.

Es ist offenbar etwas anderes, einen hoffnungslos Kranken und Leidenden dazu zu zwängen, sich weiterhin einer Erhaltungstherapie zu unterziehen, die ihm ein Leben erkauft, das er nicht des Lebens wert erachtet. Niemand hat das Recht, geschweige die Pflicht, dies jemandem in lang hingezogener Verneinung der Selbstbestimmung aufzuzwin­gen. Ein gewisses Maß aufschiebender Hemmung ist gebo­ten. um das Unwiderrufliche gegen Voreiligkeit abzuschir­men. Aber über eine solche kurze Verzögerung hinaus kann nur der innere Zug der Verantwortung – »ich muß mich für die und die aufsparen« – das Subjekt durch seinen eigenen Willen davon abhalten, das zu tun, was zu tun es für sich allein wählen würde.[2] Aber dieselbe Art der Erwägung, so müssen wir hinzufügen, kann auch zum entgegengesetzten Schluß führen: »Die (doch nichts helfende) Behandlung ist finanziell ruinös für meine Familie, und um ihretwillen gebe ich auf.« Wenn eine Pflicht – zwar eine nicht erzwingbare – behauptet werden kann, dem eigenen Wunsch zuwider für andere weiterzuleben, dann muß zumindest auch ein Recht zugestanden werden, für sie zu sterben. Aber nicht eine Pflicht dazu! Die beiden entgegengesetzten Richtungen des Zugs der Verantwortung sind nicht von gleichem morali­schem Gewicht, wie wir uns klarmachen können, wenn wir fragen, wofür jemand, der Ansprüche an die Person hat, anständigerweise mit ihr plädieren kann: gewäß nur für ihr Am-Leben-Bleiben, niemals für ihre Einwilligung zu ster­ben. Der Tod muß die unbeeinflußteste aller Wählbar­keiten sein; das Leben darf seine Fürsprecher haben, sogar von der Selbstsucht und gewiß von der Liebe her. Doch selbst die Sache des Lebens darf nicht zu hart verfochten werden in einem solchen Plädoyer. Gerade die Liebe muß gegen die Stimme des Selbstinteresses anerkennen, daß keine Pflicht- zu leben, ob sie gleich den Wunsch zu sterben in mir überstimmen kann, so daß ich ihn mir versage, wirklich mein Recht aufhebt, unter den hier angenommenen Umständen den Tod zu wählen. Was immer die Ansprüche der Welt an die Person seien, dies Recht ist (außerhalb der Religion) sittlich und rechtlich so unveräußerlich wie das Recht zu leben, obwohl die Wahrnehmung des einen wie des anderen Rechtes nach eigener Wahl – doch nur nach freier Wahl – anderen Erwägungen geopfert werden mag. Die Koppelung beider gegensätzlichen Rechte zu einem Paar sichert beiden zu, daß keines von ihnen in unbedingte Pflicht gewandt werden kann: weder in die zu leben noch in die zu sterben.[3]

Hat das öffentliche Recht einen Platz in alledem? Ja, und zwar in zwei unterstützenden Hinsichten: erstens, als Teil seiner Aufgabe, das Recht zum Leben zu schützen, muß das Gesetz auch das Recht auf ärztliche Behandlung sank­tionieren, indem es grundsätzlich allen gleichen Zugang zu ihr gibt; und zweitens, angesichts der tatsächlichen Begrenztheit medizinischer Ressourcen muß es billige Kri­terien des Vortritts für diesen Zugang aufstellen. Diese letztere Funktion öffentlicher Kontrolle kann, wie aus dem Dialyse-Beispiel wohlbekannt ist, auf Entscheidungen dar­über hinauslaufen, wer leben und wer sterben soll; und unter den Prioritäten, die diese Entscheidung regieren, können die Verantwortungen und Rollen eines Individuums für andere, von ihm abhängige, gehören, die ceteris paribus ihm einen Vorsprung in der Auswahlordnung vor dem alleinstehenden Individuum geben mögen. Dasselbe also, was uns zuvor begegnete als Widerpart von innen gegen den Wunsch und das Recht einer Person, ärztliche Hilfe abzu­lehnen, nämlich das Angewiesensein anderer auf sie, das erscheint nun von außen als erhöhter Anspruch auf die Behandlung – auf Kosten des Lebensrechtes einer dritten Partei. Was aber die öffentliche Autorität geben kann, das kann sie später auch, nach demselben Prinzip der Billigkeit oder »distributiven Gerechtigkeit«, zugunsten eines besse­ren Anspruchs wieder nehmen. Wir werden hierauf zurück­kommen als auf ein indirektes legales Mittel, dem Recht zu sterben behilflich zu sein.

Das Dialyse-Beispiel ist extrem. Gewöhnlich involviert das Recht, Behandlung abzulehnen oder ärztlichen Rat zu ignorieren, nicht das Recht zu sterben (außer in einem höchst abstrakten und entfernten Sinn), sondern das Recht, Risiken einzugehen, mit seiner Gesundheit ein wenig Glücksspiel zu treiben, der Natur zu vertrauen und der ärztlichen Kunst zu mißtrauen, oder einfach die Bereit­schaft, spätere Schäden oder sogar eine kürzere Lebenser­wartung in Kauf zu nehmen im Austausch gegen die Freiheit von einem einschränkenden Lebensregime; oder just das Recht, keine Schererei zu haben. Das Dialyse-Beispiel wurde gewählt, weil dort fortlaufende Behandlung gleichbe­deutend mit am Leben Erhalten ist und ihr Abbruch sicheren Tod bedeutet, die Option gegen sic also nicht »ein Risiko eingehen« darstellt, sondern eindeutige und sofort wirksame Entscheidung fürs Sterben.

Dennoch ist es nicht ganz der Typ von Fall, bei dem das -Recht zu sterben» als das plagende Problem auftritt, das es neuerdings geworden ist. Denn hier ist der Patient gewöhn­lich unbeeinträchtigt in der geistigen Fähigkeit, für sich selbst zu entscheiden, und körperlich aktionsfähig genug, um sich von der Maschine abzusetzen, und niemand kann ihn dahin zurückzwingen. Sein Recht zu sterben zieht also nicht die Mitwirkung anderer hinein und kann ganz von ihm allein ausgeübt werden. Dasselbe gilt für andere lebenserhaltende Therapien, wie Insulingebrauch für Diabetiker. In solchen Fällen ist die Fähigkeit vorhanden, die Entscheidung so­wohl zu treffen als auch auszuführen, und das Recht zu sterben ist weder ernsthaft bestritten noch wirksam behin­dert von außen, was immer seine innere Ethik sein mag. Die «plagenden« Fälle sind die des mehr oder weniger »gefange­nen« (z. B. im Krankenhaus) Patienten im Endstadium tödlicher Krankheit, dessen physische Hilflosigkeit andere in die Rolle von Helfershelfern bei der Realisierung seiner Todeswahl versetzt, im Extremfall sogar in die seiner Stell­vertreter beim Treffen der Wahl.

Wir wollen zwei Beispiele erörtern: den bewußten, lei­denden Patienten im Endstadium einer Krankheit wie Krebs, und den unwiederbringlich bewußtlosen Patienten im irreversiblen Koma. Das zweite Beispiel hat in den letzten Jahren, wegen der damit verbundenen legalen Dramatik, wiederholt die Schlagzeilen der Tagespresse erobert und die öffentliche Vorstellungskraft beschäftigt; aber das erste ist der Sache nach wesentlicher, häufiger und problemreicher.

Der bewußte, unheilbare Patient im Endstadium

Man stelle sich folgende Szene vor. Der Doktor sagt, viel­leicht nach einer ersten oder zweiten Operation: »Wir müs­sen nochmals operieren.« Der Patient sagt: »Nein«. Der Doktor: »Dann wirst du bestimmt sterben.» Der Patient: »So sei es.« – Da eine Operation die Zustimmung des Patienten erfordert, scheint dies die Sache zu beenden und weder ethische noch legale Probleme aufzuwerfen. Doch die Wirklichkeit ist nicht ganz so einfach. Die Weigerung des Patienten muß, vor allem anderen, auf derselben befähigen­den Bedingung basiert sein wie seine Zustimmung: sie muß wohlunterrichtet sein, um gültig zu sein. Tatsächlich ist ja auch eine Zustimmung nur dann wohlunterrichtet, wenn der sich Entscheidende außer dem »pro« auch das »contra« kennt, die ungünstigen und riskanten Aspekte, worauf sich ein »Nein« stützen könnte. Also ist das Recht zu sterben (wenn es von dem kompetenten Subjekt selbst und nicht von einem Stellvertreter für ihn ausgeübt werden soll) unzer­trennlich von einem Recht auf Wahrheit und wird im Effekt aufgehoben durch Täuschung. Nun ist aber eine solche Täuschung fast ein Teil der ärztlichen Praxis, und das nicht nur aus humanen, sondern oft auch aus direkt therapeuti­schen Gründen.

Man denke sich obigen Dialog erweitert durch folgende Fragen des Patienten, nachdem der Doktor eine nochmalige Operation für nötig erklärt hat: »Was wird sie mir im Erfolgsfall verschaffen? Ein wie langes Weiterleben und was für eins? Als Dauerpatient oder mit Rückkehr zu einem normalen Leben? In Schmerzen oder frei davon? Wie lange bis zum nächsten Anfall des Leidens mit Wiederkehr der jetzigen Notlage?« (Man behalte im Auge, daß wir von einem unheilbaren, der Sache nach »terminalen» und nur in der Befristung noch variablen Zustand sprechen.) All diese Fragen können sich natürlich nur auf begründete Chancen gemäß dem Stande des medizinischen Wissens beziehen – auf nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Offenbar hat der Patient das Recht auf eine ehrliche Antwort. Aber ebenso offenbar ist der Arzt in einer ver­zwickten Lage, wenn Ehrlichkeit Grausamkeit bedeutet. Will der Patient wirklich die ungeschminkte Wahrheit? Kann er sie ertragen? Was wird sie seinem Seelenzustand antun für den kostbaren Überrest seiner gezählten Tage, ob er sich nun für oder gegen einen Aufschub entscheidet? Wünscht er sich gar im Innersten die gnädige Täuschung? Und noch quälen­der: Könnte nicht vielleicht die schlimme Wahrheit der ärztlichen Einschätzung selbsterfüllend sein, indem sie die seelischen Reserven, den berühmten »Lebenswillen« unter­gräbt, womit der Patient den therapeutischen Maßnahmen zu Hilfe kommen konnte, so daß sein »Ich gebe auf« tatsächlich die Prognose verschlechtert? Hoffnung ist schließlich eine Kraft für sich, und sie mehr zu betonen als ihr Gegenteil dient nicht nur der Überredung zur Therapie, sondern sehr wohl auch der realen Verbesserung ihrer Aus­sichten. Kurz, könnte nicht die Wahrheit dem Patienten tatsächlich schädlich und die Täuschung ihm in irgendei­nem Sinne, subjektiv und objektiv, nützlich sein? So finden wir uns denn beim Meditieren über das Recht zu sterben mit der viel älteren und wohlbekannten Frage konfrontiert: Soll der Arzt »es sagen»? Die Frage erhob sich in der Tat schon vor der hier imaginierten Situation praktischer Entschließungen. Hätte von allem Anfang der Arzt dem Patienten überhaupt mitteilen sollen, daß sein Zustand klinisch unheilbar ist und sogar »final« in dem Sinne, daß er bestenfalls kurze Auf­schübe zuläßt?

Schnellfertige Antworten auf diese Fragen würden Un­empfindlichkeit gegen ihre Komplexität und die Un­schärfe ihrer Grenzzonen beweisen. Für meine Person wage ich diese Grundsatzthese: Letztlich sollte die Autonomie des Patienten geehrt, also nicht durch Täuschung darum gebracht werden, ihre eigene bestunterrichtete Wahl zu treffen, wenn es ums Letzte geht – es sei denn, er möchte getäuscht werden. Das herauszufinden ist ein Teil der Kunst des wahren Arztes, der nicht in der medizinischen Ausbil­dung erlernt wird. Er muß die Person seines Patienten richtig einschätzen: keine geringe Leistung der Intuition. Hat er sich davon überzeugt, daß der Patient die Wahrheit wirklich will – sein So-sagen allein beweist es noch nicht -, dann ist der Arzt moralisch und vertragsmäßig gebunden, sie ihm zu geben. Tröstliche Täuschung, wenn erkennbar gewünscht, ist fair; ebenso auch ermutigende Täuschung von direktem therapeutischen Nutzen, die sowieso eine Situation voraus­setzt, wo es noch nicht um die äußerste Wahl geht. Anson­sten aber, und besonders wo es eine Wahl zu treffen gilt, sollte das Recht der reifen Person auf volle Enthüllung, wenn ernsthaft und glaubhaft verlangt, in extremis das letzte Wort haben gegenüber der Barmherzigkeit und jederlei vormundschaftlicher Autorität, die der Arzt im Namen des vermeinten Besten seines Patienten haben möge.

Dies Recht auf Enthüllung übrigens erstreckt sich jenseits der Erfordernisse informierter Entscheidung auf eine Sach­lage, wo gar nichts zu entscheiden ist. Was dann in Frage steht, ist nicht das »Recht zu sterben«, eine Angelegenheit im praktischen Feld, sondern das der Menschenwürde anstehende kontemplative Recht auf den eigenen Tod, eine Angelegenheit im Felde nicht des Tuns, sondern des Seins. Das bedarf einiger Erläuterung. Selbst bei Abwesenheit therapeutischer Optionen, die ein Recht zu sterben ins Spiel bringen können, ist doch das Recht des todgeweihten Patienten auf Wahrheit eben hierüber ein Recht für sich, und zwar ein heiliges Recht um seiner selbst willen und ganz abgesehen von seiner praktischen Bedeutung für die außer­medizinischen Verfügungen der Person, zu denen ihr die Wahrheit etwa Anlaß geben würde. Etwas vom Geiste des katholischen Sterbesakraments ist hier in die ärztliche Ethik übersetzbar: der Arzt sollte bereit sein, den wesentlichen Sinn des Todes für das endliche Leben zu ehren (entgegen seiner modernen Entwürdigung zu einem unnennbaren Mißgeschick), und einem Mitsterblichen nicht sein Vorrecht versagen, zum herannahenden Ende in ein Verhältnis zu treten – es sich auf seine Weise anzueignen, sei es in Ergebung, Versöhnung oder Auflehnung, jedenfalls aber in der Würde des Wissens. Anders als der anstelle Gottes handelnde Priester ist der Arzt in seiner rein weltlichen Rolle nicht befugt, dieses Wissen dem Patienten aufzudrän­gen, doch muß er auf sein wahres Wollen hören, soweit er es hinter den Worten erhorcht. Die Wahrheit, so muß der Menschenfreund bekennen, ist hier (noch mehr als sonst) nicht jedermanns Sache. Barmherzigkeit darf die Unwürde des Nichtwissens erlauben. Sie darf sie aber nicht eigen­mächtig verhängen. Mit anderen Worten, außerdem »Recht zu sterben« gibt es auch das Recht, den eigenen Tod im in konkreten Bewußtsein seines Bevorstands (nicht nur im abstrakten Wissen um die Sterblichkeit überhaupt) zu »besitzen«: tatsächlich vervollständigt sich hierin das Recht zum eigenen Leben, da dies das Recht zum Tod als »eigenen« einschließt. Dies Recht ist wahrhaft unveräußerlich, wenn auch menschliche Schwäche oh genug vorzieht, darauf zu verzichten – was wiederum ein Recht ist, dem Respekt und Stattgabe durch barmherzige Täuschung zusteht. Aber Barmherzigkeit darf nicht zur Anmaßung werden. Den Sterbenden in Nichtachtung seines glaubhaft bekundeten Willens belügen, heißt ihn betrügen um die auszeichnende Möglichkeit seines Selbstseins, Aug’ in Auge mit seiner Sterblichkeit zu sein, wenn sie im Begriff ist, für ihn wirklich zu werden. Meine Voraussetzung ist hier, daß die Sterblich­keit eine integrale Eigenschaft des Lebens und nicht eine fremd-zufällige Beleidigung desselben ist.[4]

Doch zurück zum Recht zu sterben. Angenommen also, der Patient weiß Bescheid und hat sich gegen therapeutische Hinausziehung seines todgeweihten Zustands entschieden und dafür, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Indem man ihn durch Offenheit instand gesetzt hat, die Entscheidung zu treffen und ihr stattgibt, ist sein Recht zu sterben respektiert worden. Aber dann erhebt sich ein neues Problem. Die Wahl des Kranken gegen Hinausziehen war unter anderem auch eine Wahl gegen Leiden, schließt also den Wunsch ein, daß ihm Leiden erspart werden – entweder durch Beschleuni­gung des Endes oder durch Minimierung der Schmerzen während der verbleibenden Frist, wobei das letztere manch­mal auf das erstere hinausläuft infolge der schweren Drogen­gaben, die es verlangt. Solchen Wünschen stattzugeben, scheint in dein enthalten zu sein, was dem Patienten mit dem «Recht zu sterben« als solchem und der Hinnahme seiner Entscheidung bereits zugestanden wurde. Barmherzigkeit drängt zum gleichen Gewähren in dem Maße, als der Patient akut leidet. Doch die Erfüllung dieser Wünsche erfordert die Mitwirkung, vielleicht sogar die Alleinwirkung anderer, und hier schafft die allgemeingewordene Institutionalisierung des Sterbens durch Hospitalisierung im Verein mit dem hilflosen Zustand des Patienten Probleme der ernstesten Art. Entlas­sung in häusliche Pflege ist meist untunlich, und wir brauchen nicht zu erörtern, was privat in der unbewachten Intimität barmherziger Liebe getan oder geduldet werden könnte – selbst das ist nicht frei von mächtigen, äußeren und inneren Hemmungen. Aber das Krankenhaus jedenfalls plaziert den Patienten geradewegs in den öffentlichen Bereich und unter seine Normen und Kontrollen.

Was nun direkte, absichtsvolle Beschleunigung des Endes etwa durch tödliche Drogen anlangt, so kann billigerweise vom Arzt nicht verlangt werden, irgendeine seiner positiven Maßnahmen mit diesem Zweck zu treffen, noch vom Kran­kenhauspersonal, durch »Wegsehen« mitzuspielen, wenn jemand anders dem Patienten die Mittel verschafft. Nicht nur das Gesetz verbietet es (das geändert werden kann), sondern mehr noch der innerste Sinn des ärztlichen Berufes, der niemals dem Arzt die Rolle des Todbringers zuteilen darf, sei es selbst auf Verlangen des Subjektes. »Euthanasie« als ärztlicher Akt ist diskutierbar nur in den Fällen eines bewußtlos sich hinziehenden und künstlich aufrechterhal­tenen Lebensrestes, in dem die Person des Patienten schon erloschen ist (s.w.u.). Wenn wir aber ansonsten Euthanasie durch die Hand des Arztes ausschließen, um die Integrität seines Berufes zu wahren, selbst gegen das Recht seines Patienten zu sterben, dann müssen wir hinzufügen, daß den Patienten in den Besitz der tödlichen Arznei zu setzen nur wenig zurücksteht hinter ihrer direkten Eingebung auf seinen Wunsch. Wenn nichts anderem, würde es der Vorbe­dingung des privilegierten ärztlichen Zugangs zu solchen Mitteln zuwiderlaufen – ein Privileg, das durch den bestge­meinten Mißbrauch gefährdet würde.

Es besteht jedoch ein Unterschied zwischen Töten und Zu-Sterben-Erlauben (wir sahen, daß hinsichtlich des erste­ren ein Wille des Patienten unwirksam bleiben muß, aber hinsichtlich des letzteren Anspruch aut Befolgung hat) und wiederum ein Unterschied zwischen Erlauben zu sterben und Beihilfe zum Selbstmord, Im Falle des leidenden bewußten Patienten, von dem wir sprechen, sollte das Erlauben freigemacht werden von der Befürchtung gesetzli­cher (straf- und zivilrechtlicher) wie auch berufsständischer Repressalien, wenn es dem standhaften Verlangen des Patienten nachgibt (nicht der Bitte eines verzweifelten Augenblicks), ihn z. B. von dem Atemgerät abzuschalten, das allein ihn am Leben hält ohne andere Aussicht als das Andauern eben dieses Zustands. Formal ist das Verlangen sein Recht und seines allein, kraft seiner Stellung als Auftraggeber in einem vertraglichen Dienstverhältnis; und die juristische Problematik entsteht nur durch die quasi-Übergabe von Rechten an eine institutionelle Treuhänder­schaft, die mit der Hospitalisierung gegeben erscheint. Aber solch eine Übergabe in Sachen ärztlicher Routine bleibt gebunden an die fortbestehende primäre Absicht des Subjek­tes und erstreckt sich nicht auf sein Recht, diese zu überdenken und eine andere Wahl zu treffen: sie darf nicht zu seiner de-facto-Entmündigung führen. Was aber (jenseits der Rechtslage) die Ethik des Einstellens der Erhaltungspro­zedur auf Wunsch des Patienten betrifft, so kann nur Sophisterei in diesem Falle das Ablassen von weiterem Tun mit Tun gleichsetzen, also Sterbenlassen mit Töten. Schließ­lich sollte doch die Hilflosigkeit, die den Patienten vom Nachgeben des Doktors abhängig macht, sein Recht nicht schlechter machen als das des beweglichen Patienten, der einfach aufstehen und ungehindert Weggehen kann. Auch diesem wird man nicht Selbstmord vorwerfen (die Krankheit ist der Mörder) und ihn zum Weiterleben zwingen; und niemand wird das Nicht-Zwingen als Beihilfe zum Selbst­mord verurteilen (nicht einmal, wer fälschlich das Verhalten des Patienten dafür ansieht). Es wäre ebenso unbillig wie unlogisch, den »gefangenen” Patienten für seine physische Ohnmacht mit Rechtsverlust büßen zu lassen. Wenn er sagt »genug«, muß ihm gehorcht werden; und gesellschaftliche Hindernisse, die dem entgegenstehen, sollten beseitigt werden.[5]

Wie aber ist es, wenn wir statt »Ablassen« ein »Tun« zu beurteilen haben, wie etwa Verabfolgung schmerzstillender Drogen, die doch eine positive Handlung des Arztes dar­stellt? Da kann, wenn schädliche Dosen nötig werden, um ständig quälenden Schmerz zu bannen, die Pflicht zu lindern in Konflikt kommen mit dem hippokratischen Eide, »nicht zu schaden«. Welche Pflicht hat hier den Vorrang? Bei dem heilbaren oder überhaupt therapeutisch noch positiv beeinflußbaren Patienten gewiß die letztere: Der Arzt muß gefährdende Dosen versagen. Aber in einem keiner Heilbe­handlung mehr zugänglichen Endzustand – so scheint mir intuitiv klar – überstimmt der Schrei nach Linderung das Verbot der Schädigung und selbst der Lebensverkürzung und sollte erhört werden. Allerdings muß der Preis der Linderung dem Leidenden mitgeteilt und von ihm bejaht werden. Die Schädigung mag sich, wie gesagt, auf die Lebenserwartung auswirken, Schmerzstillung also die an sich gegebene Spanne kürzen: aber sie würde es im Dienste der Spanne selber tun, die an Qualität mehr gewinnt als sie an Quantität einbüßt. Das Ende auf diese Weise beschleuni­gen, nämlich als Nebenwirkung des ganz anderen Zweckes, den Rest eines unrettbaren Lebens erträglich und insofern noch »lebenswert« zu machen, ist sittlich richtig und sollte von Gesetz und Berufsethik gleicherweise für vorwurfsfrei gehalten werden – obwohl es der gegebenen tödlichen Sachlage eine weitere tödliche Komponente hinzufügt. Von einem bestimmten Moment an hört der Arzt auf. Heiler zu sein, und wird zum Todeshelfer des Patienten. Die ihm damit zufallende, derart sorgsam umschriebene Handlungs­freiheit öffnet nicht das Tor zum »Gnadentod« und scheint mir keiner Euthanasiegesetzgebung zu bedürfen, nur einer Verfeinerung des »Kunstfehler«-Begriffes in der Rechtspre­chung, die eine solche auf Verlangen geleistete Sterbenslinderung aus seinem Anwendungsbereich ausklammert. Weder moralisch noch begrifflich läßt sich dieser im Ein­verständnis vorgenommene Tauschhandel zwischen Erträglichkeit und Länge eines Sterbeprozesses mit »Töten« verwechseln.

Der Patient im irreversiblen Koma

Erwägen wir schließlich den Patienten im irreversiblen Koma, den Fall also eines durch künstliche Beihilfe hingezo­genen Restbestandes von Leben, wo nicht einmal die Fiktion eines Entscheidungssubjektes übrig ist, dessen mutmaßli­chen Willen ein Stellvertreter ausführen könnte. Mangels eines solchen virtuellen und mit der Möglichkeit des Wäh­lens in eigener Sache vorgestellten Subjektes kann von einem Recht zu sterben streng genommen nicht die Rede sein, denn dieses von allen Rechten setzt einen Besitzer voraus, der es gegebenenfalls in Anspruch nimmt, auch wenn er es nicht selber ausführen kann. Man könnte nicht eigentlich angeben. wessen Recht mit irgendeiner Entscheidung gewahrt oder verletzt würde: das der ehemaligen Person oder das des jetzigen unpersönlichen Überrestes. (Da nur eine Person das Subjekt von Rechten sein kann, müßte es wohl die ehemalige Person sein, deren sozusagen »posthume« Rechte man wirklich anrufen könnte. Eine von früher für diesen Fall vorliegende Willenserklärung würde eine solche Berufung moralisch wenn auch z. Z. nicht rechtlich – stützen.) In Frage steht vielmehr die Pflicht oder schon das Recht anderer, den gegebenen Zustand zu perpetuieren, und alternativ ihr Recht oder gar ihre Pflicht, ihn durch Entzug der künstlichen Unterstützung zu beenden. Vernunft und Menschlichkeit, so darf man getrost behaupten, begünstigen überwältigend die zweite Alternative, ob als Recht oder als Pflicht: l aßt den armen Schatten dessen, was einst eine Person war, sterben wie der Körper zu tun bereit ist, und endet die Degradierung seines aufgezwungenen Fortbestehens. Doch mächtige, innere wie äußere Widerstände stellen sich diesem Rat der Vernunft entgegen. Da gibt es das menschliche Zurückscheuen vor dem Töten, als welches das Sterbenlassen hier – zwar irrig – gedeutet werden kann, da es das Einstellen seiner aktiven Verhinderung, also immerhin einen Akt meinerseits involviert. Da gibt es die Berufsauffas­sung, daß der Arzt unter allen Umständen auf Seiten des Lebens stehen muß. Und da gibt es das Gesetz, das absichtliche Verursachung des Todes verbietet und selbst die Verursachung durch Unterlassen seiner Verhütung schuld­haft macht. Obwohl all dies nicht eigentlich ein Recht zu sterben berührt und bestenfalls ein problematisch gedehntes Recht zu leben – da kein Subjekt mehr da ist, das auch nur implizit das eine oder andere Recht reklamiert und durch seine Verneinung verletzt wird so ist doch in der öffentlichen Diskussion der Fall des permanent komatösen Patienten mit dem »Recht zu sterben« verquickt worden, und man kann dies Recht zur Unterstützung der Forderung zitiert hören, dem Sterben nicht weiter im Wege zu stehen. Aus diesem Grunde sei das Problem in unsere Betrachtung eingeschlossen.

Zweierlei Auswege aus der ethisch-legalen Sackgasse, die wir beschrieben haben, bieten sich an. Der eine ist eine Neu-Definition von »Tod« und seiner Symptomatik, wonach ein Koma bestimmten Grades eben Tod bedeutet – die soge­nannte »Gehirntod«-Definition[6], welche (da der Tod bereits vollzogene Tatsache ist) die ganze Angelegenheit aus dem Bereich der Entscheidung entfernt und zur bloßen Sache der Feststellung macht, ob die Kriterien der Definition erfüllt sind. Wenn sie es sind, dann ergibt sich der Abbruch der künstlichen Funktionshilfen als nicht nur erlaubt, sondern als selbstverständlich und sogar als obligatorisch, da die Vergeu­dung kostbarer medizinischer Ressourcen an einen Leichnam nicht zu rechtfertigen wäre. Oder vielleicht doch? Könnte nicht der Abbruch – das heißt: den Leichnam noch vollstän­diger zum Leichnam machen – eine Vergeudung in anderer Richtung bedeuten? Ist nicht der Leib des Verschiedenen, wenn die Zirkulation weiter in Gang gehalten wird, selber eine wertvolle medizinische Ressource, nämlich als Organ­bank für mögliche Transplantationen? Fortgesetzte Durch­blutung erhält die Organe im lebensfrischen Zustand und sichert dem schließlichen Empfänger ein vollwertiges Trans­plantat wie von einem lebenden Spender. Im Hinblick auf diesen Nutzwert würden also Todeserklärung nach zerebra­len Kriterien und Fortsetzung vegetativer Lebenshilfen für den übrigen Organismus (Respirator usw., bei längerer Dauer auch künstliche Ernährung) keineswegs in Wider­spruch stehen, vielmehr abgestimmte Teile eines Aktionsgan­zen mit Zwecken außerhalb des Patienten sein – zugunsten anderer Patienten oder auch der medizinischen Forschung. Eben dieser externe Nutzungsgewinn ist von Anfang an von den Befürwortern des »irreversiblen Koma als einer neuen Definition für den Tod« mit ins Feld geführt worden. Es sollte jedoch evident sein, daß die Mitsprache eines Interesses, und gar noch eines Interesses anderer Patienten, nicht nur die Definition ihrer theoretischen Reinheit beraubt, sondern auch ihre Anwendung in ein gefährliches Zwielicht wohlmei­nender Versuchung stellt. Ich habe im vorigen Aufsatz meine ernsten Bedenken gegen diese Art der »Lösung« des Koma­problems dargelegt, d. h. gegen seine Verflüchtigung zu einer semantischen Frage, die durch Definition entschieden wird: eine Definition ad hoc. d. h. zugeschnitten auf die besondere Situation und ihre praktische Verlegenheit, behaftet mit dem Verdacht eines Nutzmotivs und damit Grund gebend zu Befürchtungen hinsichtlich des subjektfremden Gebrauchs, zu dem die Definition sich hergibt, und wovon Erlangung frischsten Materials für Organverpflanzung nur der nächst­liegende ist. Es braucht kaum gesagt zu werden, daß meine – sehr konkreten – Warnungen vergeblich waren (obwohl »Against the Stream« immer wieder in Anthologien medizi­nischer Ethik nachgedruckt wird). Etwas davon, eben das Nächstliegende, ist im unwiderstehlichen Fortschritt in­zwischen schon zur allgemeinen Übung geworden: Organ­entnahme vom »Kadaverspender« unter künstlicher, nach formeller Todeserklärung zu diesem Zweck fortgesetzter Respiration. In einem etwas abweichenden, notorischen Fall, dem Fall Quinlan[7], hat die Definition selbst sich als unzuläng­lich erwiesen, der Herausforderung des irreversiblen Komas zu begegnen: denn als mit richterlicher Erlaubnis die künstliche Atmung eingestellt wurde, setzte überraschend spontane Atmung ein, so daß nach den Kriterien der (in Amerika weithin akzeptierten) «Harvard-Definition« des Gehirntodes die Patientin nicht tot, aber dennoch weiterhin in tiefem Koma war – und die Frage fernerer künstlicher Funktionserhaltung (z. B. Einführung von Nährflüssigkeit) sich in ihrer ursprünglichen Schärfe von neuem stellte, ohne jetzt noch durch Rekurs auf die Ad-hoc-Definition ent­scheidbar zu sein. Die Verschiebung von der sittlichen auf die technische Ebene vermindert unsere Fähigkeit, der Frage in ihrem existentiellen Gehalt Genüge zu tun.

Es gibt aber einen anderen Ausweg aus der Sackgasse als den der definitorischen Semantik über Leben und Tod, näm­lich den, daß man geradewegs die Frage ins Auge faßt, ob es denn recht ist, durch unsere Kunstgriffe allein etwas hinzu­ziehen, was vielleicht – beim Stande unseres Wissens oder Unwissens – zwar noch »Leben« heißen mag, aber eben nur diese Art Leben ist, und auch das gänzlich von Gnaden un­serer Kunst. Hier stimme ich dem schon zitierten päpstlichen Entscheid zu, der da lautet: »Wenn tiefe Bewußtlosigkeit für permanent befunden wird, dann sind außerordentliche Mittel zur Weitererhaltung des Lebens nicht obligato­risch. Man darf sie einstellen und dem Patienten erlauben, zu sterben.« Die schlichte Freigabe des Sterbens unter solchen Grenzumständen braucht keine Umdefinierung des Todes und des Augenblicks seines Eintritts. Ich gehe einen Schritt weiter und sage: Nicht nur dürfen jene außerordentlichen Mittel eingestellt werden, sie sollen es – um des Patienten willen, dem man zu sterben erlauben soll; die Einstellung der künstlichen Erhaltung ist nicht permissiv, sondern obligato­risch. Denn etwas wie ein »Recht zu sterben« läßt sich schließlich doch im Namen und zum Schutz der Person konstruieren, die der Patient einmal war und deren Andenken gemindert wird durch die Degradierung eines solchen »Fort­lebens«. Dies »posthume« Erinnerungsrecht (außerlegal wie es ist) wird zum Gebot für uns, die wir durch einseitig-totale Herrschaft über dieses Rechtsgut die Wächter seiner Integri­tät und die Mandatare seines Anspruches geworden sind. Wenn dies aber zu »metaphysisch« ist, um unser positivisti­sches Gewissen davon zu überzeugen, wo unsere Pflicht liegt, dann kann ein nüchternes Prinzip sozialer Gerechtigkeit – dem Patienten zwar äußerlich, aber dem Gesetzgeber wohl einleuchtender – diesem inneren Grund für eine Pflicht zum Ablassen zu Hilfe kommen: faire Zuteilung knapper medizi­nischer Ressourcen (ohne den Patienten selbst unter letztere zu zählen!).

Wir haben vorher von den peinlichen Entscheidungen über Leben und Tod gesprochen, die der Knappheitsumstand er­zwingt. Besonders wahrscheinlich wird er bei den kostspieli­gen Apparaturen (mitsamt Hospitalraum und Pflegepersonal) vorliegen, deren lebenserhaltende Anwendung permanent sein muß. Unsere frühere Erwägung betraf die anfängliche Zulassung zu diesen Einrichtungen, wenn die Nachfrage danach das Angebot übersteigt (unser Beispiel war die Dialysemaschine). Für die dann nötigen Entscheidungen müssen die Prioritätsnormen so »gerecht« sein, wie wir sie eben stufen können. Auch die bestdurchdachten müssen der Natur der Sache nach immer unvollkommen sein. Das erste geschichtliche Beispiel einer solchen Regel der Auslese war das summarische Notbehelfssystem der »triage«, das die französischen Feldlazarette im Massengemetzel des Ersten Weltkrieges befolgten. Unter nicht-katastrophischen Bedin­gungen wird die Stufung stärkerer und schwächerer Ansprü­che eine komplexe und stets disputierbare Sache, die oft – bei den vielen Unwägbarkeiten – am oberen Ende der Skala nur mit einer gewissen Willkür entschieden werden kann. Aber obwohl es strittig bleiben muß, welcher Fall in einem Spektrum der Konkurrenzen die meiste Berücksichtigung verdient, so ist doch nicht strittig, welcher an ihrem simplifizierenden unteren Ende die geringste verdient: derje­nige, der am wenigsten von den knapp vorhandenen Mitteln profitieren kann, also der mit den geringsten Erfolgschancen. Ist dies zugestanden, dann bleibt die Frage, ob ein solches Ausleseprinzip sich über die Zulassung hinaus in den weiteren Verlauf der Dinge erstreckt und später auch auf die Beibehaltung des Patienten in der Behandlung Anwendung findet, wenn ein »besserer« Kandidat daherkommt. Im allgemeinen ist dies zu verneinen und hier ein Vorrecht erster Inhaberschaft anzuerkennen. Ist die Behandlung einmal im Gang, so wäre es eine namenlose Grausamkeit, die erst zugesprochene Lebenshilfe, zugunsten welcher äußerer Interessen auch immer, zu widerrufen, solange sie der Patient noch wünscht. Wie der Weltplatz des einmal geborenen Individuums nicht mehr austauschbar ist, so ist auch der dem Patienten einmal eingeräumte Platz einfach nicht mehr da zur Versteigerung an höhere Bieter. Doch den irreversibel Koma­tösen erreicht keine Grausamkeit mehr, so wenig wie noch eine Wohltat, und »sein« Nutzen von der Behandlung ist buchstäblich Null, wenn »sein« ein Subjekt meint, das den Nutzen ernten kann. Kein Wille seinerseits begehrt die Fortsetzung, wie ja schon die ursprüngliche Zulassung ohne seinen Willen geschah. In diesem einzigartigen Grenzfall kann daher das Kriterium des »geringsten Nutzens« in der Tat Kraft gewinnen und ethisch den Abbruch des vormals Begonnenen verfügen, um nicht anderen eine Lebenserhal­tung zu versagen, aus der sic Nutzen ziehen können. Für mich, wie ich klargemacht habe, ist diese Erwägung sekundär gegenüber den inneren Meriten des Falles, die ich als genügenden und obligatorischen Grund für Beendigung des Verfahrens ansehe – ja, als den echten Grund. Da aber dieser innere Aspekt notorisch nicht über dem Streit der Meinungen steht, so mag distributive soziale Gerechtigkeit – ein mehr pragmatisches und daher breiterer Zustimmung versichertes Prinzip – zum gleichen Effekt angerufen werden. In meinen Augen ist dies, was Plato – zweite Fahrt« (deuteros plous) nannte: der zweitbeste Weg.

Die Aufgabe der Medizin

Eine Reflexion über das »Recht zu sterben» soll nicht mit diesem Sonderfall schließen, der bestenfalls noch eben am Rande zu dem Thema gehört. Der Fall des Komapatienten ist selten und an sich zu extrem, um als Paradigma zu dienen, selbst wenn das Sterbenlassen hier überhaupt noch als ein – wenigstens latentes Rechtsinteresse der Person angesehen werden kann. (In einem »retrospektiven« Sinne hatten wir dies zugestanden.) Der wirkliche, aktuelle Ort eines solchen Rechtes, und der Schauplatz der Konflikte und Seelen­kämpfe, die es gebiert, ist das viel häufigere und schlüpfrige Zwielichtland des bei vollem Bewußtsein terminal Leiden­den, der den Tod verlangt, ihn sich aber nicht selber geben kann. Er ist es nicht der allen Bewußtseins verlustige Leib -, dessen Not die ethisch plagenden Probleme aufgibt. Gemein­sam ist dennoch beiden dies: daß sie jenseits des Raumes der »Rechte« die Frage nach der letzthinnigen Aufgabe ärztlicher Kunst aufwerfen. Sie zwingen uns zu fragen: Gehört das bloße, hinauszögernde Zurückhalten vor der Todesschwelle zu den echten Zielen oder Pflichten der Medizin? Nun ist, was die tatsächlich von der willfährigen Kunst bedienten Zwecke betrifft, festzustellen, daß am einen Ende des Spektrums die vormals strenge Definition ärztlicher Ziele sehr gelockert worden ist und heute Dienste (besonders chirurgische, aber auch pharmazeutische) einschließt, die durchaus nicht »medizinisch indiziert« sind, wie Empfäng­nisverhütung, Abtreibung, Sterilisierung aus nichtmedizini­schen Gründen, Geschlechtswechsel, zu schweigen von kosmetischer Chirurgie im Dienste der Eitelkeit oder berufli­chen Vorteils. Hier ist der «Dienst am Leben« über die alten Aufgaben des Heilens und Linderns hinaus ausgedehnt worden zu der Rolle eines allgemeinen »Leibestechnikers« für verschiedenartige Zwecke sozialer oder persönlicher Wahl. Ohne Vorliegen eines pathologischen Zustandes ist es heute für den Arzt genug, daß der Kunde (= »Patient«) die betreffenden Dienste verlangt und das Gesetz sie erlaubt. Unser Urteil darüber gehört nicht hierher.

Doch am oberen, kritisch pathologischen Ende des Spek­trums, wo unser »Recht zu sterben« seinen Platz hat, steht die Aufgabe des Arztes immer noch unter den hehren und herkömmlichen Zielverpflichtungen, Es ist daher wichtig, die zugrunde liegende »Verpflichtung auf das Leben« selbst zu definieren und von daher zu bestimmen, wie weit die ärztliche Kunst in ihrer Wahrnehmung gehen soll oder darf. Nun haben wir bereits die Regel aufgestellt, daß selbst eine transzendente Pflicht zu leben auf Seiten des Patienten keine Nötigung zu leben von Seiten des Arztes rechtfertigt. Doch gegenwärtig ist der Arzt selbst zu einer derartigen Nötigung gezwungen, teils durch das Standesethos und teils durch geltendes Gesetz und vorherrschende Rechtsprechung. Infolge der zur Regel gewordenen Hospitalisierung des Kranken, speziell des Todgeweihten, ist auch der Arzt, hat er erst einmal den Patienten in die lebenserhaltende Apparatur im Krankenhaus eingeschaltet, sozusagen selbst mit einge­stöpselt und kein freihandelnder Außenstehender mehr. Es ist notorisch leichter, einen Gerichtsbeschluß für Zwangs­behandlung zu erwirken (Beispiel: Kinder von »Jehovas Zeugen«), als einen für Abbruch der Erhaltungsprozedur (Beispiel: Quinlan-Fall). Zur Verteidigung des Rechtes zu sterben muß daher die wirkliche Berufung der Medizin neu bejaht werden, um sowohl Arzt wie Patienten aus ihrer jetzigen Knechtschaft zu befreien. Das neuartige Phänomen von Patientenohnmacht gekoppelt mit der Macht todesverzögernder Techniken unter öffentlicher Obhut verlangt eine solche Wiederbejahung. Nun läßt sich, so glaube ich, Einhelligkeit darüber erzielen, daß die Treuhandschaft der Medizin es mit der Ganzheit des Lebens zu tun hat oder, in möglichster Annäherung daran, mit seiner Noch-Wünschbarkeit. Seine Flamme am Brennen, nicht seine Asche am Glimmen zu haken, ist ihr eigentlicher Auftrag, so sehr sie auch das Glimmen noch zu hüten hat. Am allerwenigsten ist es die Verhängung von Leiden und Erniedrigung, die nur der ungewünschten Hinziehung des Verlöschens dient. Wie sich solch ein Grundsatzbekennt­nis in legal lebensfähige Praxis übersetzen läßt, ist ein sicher schwieriges Kapitel für sich; und wie gut wir unsere Sache dabei auch machen, so wird es ihrer Natur nach doch nicht ohne Zwielichtzonen abgehen, wo im Einzelfall drangvolle Entscheidungen zu treffen sind.[8] Aber ist das Prinzip erst einmal beialn, so besteht eine bessere Hoffnung, daß der Arzt wieder ein humaner Diener statt eines tyrannischen und seinerseits tyrannisierten Herrn des Patienten wird.

So ist es denn im letzten der Begriff des Lebens, nicht der des Todes, der die Frage nach dem »Recht zu sterben« regiert. Wir sind zurückgebracht zum Anfang, wo wir das Recht zu leben als die Quelle aller Rechte befanden. Richtig und voll verstanden schließt es auch das Recht zu sterben ein.

Quelle: Hans Jonas, Technik, Medizin und Ethik. Zur Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt am Main: Insel Verlag 1985, S. 242-268.


[1] Eine »kritische Phase« wäre z B. der Intervall zwischen zwei planmäßig miteinander verbundenen Operationen oder postoperative Nachbehandlung, oder ähnliche Situationen, wo nur die vollständige therapeutische Sequenz medizinischen Sinn hat. Sie muß dann als ein vertraglich abgemachtes, unteilbares Ganzes angesehen werden. Der Arzt und das Krankenhaus hatten die ersten Schritte gar nicht ausgeführt, wenn sich der Patient nicht auch an die folgenden gebunden hatte.

[2] Aus Gründen seines religiösen Glaubens mag der Patient auch «für sich allein« die Todeswahl, als unter die Sünde des Selbstmordes fallend, verwerten. Ich würde bestreiten, daß sie darunter fällt, denn sieh dem durch die Unheilbarkeit bereits ergangenen Urteil unterwerfen ist so wenig Selbstmord wie das Ablassen eines zum Tode Verurteilten von weiteren Aufschubs und Gnadengesuchen. Aber wir erwägen hier überhaupt nur die weltliche Ethik dieser Fragen und lassen ihre möglichen theologischen Aspekte offen.

[3] Weltliche und religiöse Ethik stimmen hier überein. Keine Religion, wie streng sie auch den Selbstmord als Sünde verbieten mag, weil sie das Leben als eine Pflicht gegen Gott ansieht, macht damit die Selbsterhaltung zur unbedingten Pflicht – was in der Tat zu gräßlichen moralischen Konsequenzen führen wurde.

[4] Für die ontologische Begründung dieser «Voraussetzung« darf ich verweisen auf von mir zur Philosophie des Organischen oft Ausgeführtes – auf deutsch zuerst in Organismus und Freiheit (1973), siehe z. B. S. 15-17; 332f.: »Aber man beachte, daß mit dem Leben zusammen der Tod kam. und daß Sterblichkeit der Preis ist. den die neue Möglichkeit des Seins für sich zu zahlen hatte Es ist wesentlich widerrufliches und zerstörbares Sein, ein Abenteuer der Sterblichkeit, das vom langwähren­den Stoff auf dessen Bedingungen – auf die kurzfristige Bedingung des stoffwechselnden Organismus – die endlichen Laufbahnen individueller Selbste zum Darlehen erlangt«; vgl. Das Prinzip Verantwortung (1979) S. 156f.; und zuletzt »Evolution und Freiheit« in Scheidewege 15 (1983/ 84) S. 88: »Daß das Leben sterblich ist, ist zwar sein Grundwiderspruch, aber gehört untrennbar zu seinem Wesen und ist nicht einmal von ihm wegzudenken. Das Leben ist sterblich nicht obwohl, sondern weil es Leben ist, seiner ursprünglichsten Konstitution nach, denn solcher widerruflicher, unverbürgter Art ist das Verhältnis von Stoff und Form, auf dem es beruht.«

[5] Die gegenwärtige Rechtslage in den USA scheint zu sein, daß ein solches »Genug« des (geistig kompetenten) Patienten ihm zwar nicht zu verweigern ist, der Arzt aber unter der obwaltenden »Kunstfehler«-Justiz gezwungen wäre, die Behandlung niederzulegen, womit auch keines Verbleibens im Krankenhaus mehr wäre. Da dies den Patienten der weiteren Arzt- und Hospitalbetreuung berauben würde, die er immer noch braucht, um erträglich zu sterben, so ist ihm die abstrakt bestehende Wahl des Behandlungsabbruchs durch diese Drohung tatsächlich verschlossen.

[6] »Gehirntod« und die damit verbundenen Fragen sind das Thema der vorangehenden Abhandlung. Für den Leser dieses Beitrags werden die hier einschlägigen Konsequenzen der dort ausführlich erörterten -Neudefinition des Todes« noch einmal kurz in Erinnerung gebracht.

[7] Der berühmte, sich nun schon seit Jahren hinziehende Karen Quinlan-Fall: Das in tiefes Koma verfallene junge Mädchen wurde durch künstliche Atmung, Ernährung und sonstige Hilfsdienste am vegetativ-organischen Lehen erhalten Auf Antrag der Eltern genehmigte das Gericht (übrigens ohne Berufung auf eine Definition des Todes und eine Totbefindung) den Abbruch der künstlichen Atmung. Es setzte spontane Atmung ein. Daraufhin bestanden die Eltern auf Fortsetzung der künstlichen Ernährung, deren Abbruch einen neuen Gerichtsbeschluß erfordert hatte. Ob die Eltern ihn damals hatten herbeiführen können, ist fraglich. Ohne diesen jedenfalls müssen nach bestehendem Recht Ernährung und sonstige Hilfsdienste weitergehen, solange der selbstatmende Organismus dank ihrer seinen Stoffwechsel und sonstige Vitaltätigkeit fortsetzt. Bis heute vegetiert der Leib des Mädchens in diesem bewußtlosen Zustand. Es sind aber Änderungen der Rechtslage unabhängig von einem Todesbefund im Gange, wonach in ähnlichen Fällen, mit Zustimmung der nächsten Angehörigen, Erhaltungshilfen ohne besonderen richterlichen Entscheid eingestellt werden dürfen. [Im Juni 1985 starb Karen Ann Quinlan nach zehnjährigem Koma. H.J.]

[8] Die deutsche Vorgeschichte macht es nicht überflüssig, hier ausdrücklich einzuschalten, daß weder der Geisteskrankenmord noch die sonstige Ausmerzung »unwerten Lebens« auch nur entfernt in die möglichen Zwielichtzonen jenes Grundsatzbekenntnisses fallt: Sic sind eindeutig Verbrechen, und wenn so etwas wie -öffentlicher Nutzen« in dieser Sphäre überhaupt ein Spruchrecht hat, dann nur in dem Sinne, daß er ihre Begehung als todeswürdig stempelt.

Hier der Text als pdf.

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